Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Die Mängel indirekter Demokratien

Laut Sonn­tags­um­fra­ge der For­schungs­grup­pe Wah­len vom 15. Sep­tem­ber 2023 wäre die AfD die zweit­stärk­te Par­tei im Deut­schen Bun­des­tag. Sie käme hin­ter der CDU/​CSU mit 26 Pro­zent auf 21 Pro­zent, vor der SPD mit 17 Pro­zent, den Grü­nen mit 16 und der FDP mit 6 Pro­zent. Die übri­gen Par­tei­en wür­den in Sum­me auf 9 Pro­zent kom­men. Die LINKE wäre im Bun­des­tag nicht mehr ver­tre­ten. Alle eta­blier­ten Par­tei­en sind über die­sen Befund ent­setzt und lamen­tie­ren mit gegen­sei­ti­gen Schuld­zu­wei­sun­gen vor sich hin. Dabei ist die Ursa­che ein­deu­tig. Die­se wird aber ver­schwie­gen, allen­falls weg­dis­ku­tiert. Wie will man sich auch ein­ge­ste­hen, dass man selbst die Ursa­che für das Übel ist? So aber kommt es zu einem system­im­ma­nen­ten Staats- bzw. Poli­tik­ver­sa­gen.

Dies war schon immer das gro­ße Pro­blem in indi­rek­ten par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tien. Die Schweiz, als ein­zi­ges Land auf der Erde mit einer direk­ten Demo­kra­tie, hat die­se poli­ti­schen Ursa­chen für eine Demo­kra­tie­ge­fähr­dung nicht. »In Deutsch­land«, schreibt die ehe­ma­li­ge Bun­des­ver­fas­sungs­rich­te­rin Ger­tru­de Lüb­be-Wolff, »gibt es direkt­de­mo­kra­ti­sche Ent­schei­dungs­mög­lich­kei­ten in den Län­dern und Kom­mu­nen. Auf Bun­des­ebe­ne dage­gen, dort also, wo die mei­sten und die wich­tig­sten Geset­ze gemacht wer­den, haben wir eine fast rein reprä­sen­ta­tiv­de­mo­kra­ti­sche Ver­fas­sung. Die Bür­ger sind, was poli­ti­sches Ent­schei­den angeht, wei­test­ge­hend auf Wah­len beschränkt.« So lebt denn das Volk in indi­rek­ten Demo­kra­tien ledig­lich in einer Zuschau­er­de­mo­kra­tie. »Die Volks­ver­tre­ter kön­nen, sind sie ein­mal im Amt, so han­deln, wie es ihnen beliebt, gleich­gül­tig, wie die Wäh­ler wün­schen, dass sie han­deln«, schreibt der Schwei­zer Phi­lo­soph Andre­as Urs Som­mer, Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Frei­burg, in sei­nem Buch »Eine Demo­kra­tie für das 21. Jahr­hun­dert. War­um die Volks­ver­tre­tung über­holt ist und die Zukunft der direk­ten Demo­kra­tie gehört«.

Als erstes muss man hier ein­mal, ins­be­son­de­re von Wis­sen­schaft und Medi­en, erwar­ten kön­nen, dass man der Gesell­schaft, dem Volk, den Unter­schied zwi­schen einer indi­rek­ten und direk­ten Demo­kra­tie erklärt. Dies fin­det lei­der nicht statt. Immer wie­der und über­all wird nur über Demo­kra­tie gere­det, nicht aber über ihre zu dif­fe­ren­zie­ren­de Form. Bei vie­len Men­schen ist hier sogar Nai­vi­tät im Spiel. Man glaubt an einen neu­tra­len Staat, der immer nur das Beste für sei­ne Bür­ger und Bür­ge­rin­nen will. Hier muss zwei­tens Auf­klä­rungs­ar­beit gelei­stet wer­den. Denn einen neu­tra­len Staat, der das gan­ze Wohl der Gesell­schaft im Fokus hat, gibt es selbst­ver­ständ­lich nicht. Dies müss­te gelehrt wer­den, damit es sich tief im Bewusst­sein der Gesell­schaft ver­an­kert. Der auch im staats­zen­trier­ten Keyne­sia­nis­mus sug­ge­rier­te Ein­druck von wohl­wol­len­den poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­gern war hier schon immer falsch und wird heu­te zu Recht von der Neu­en Poli­ti­schen Öko­no­mie (NPÖ) zurück­ge­wie­sen. So wie es ein Markt­ver­sa­gen in markt­wirt­schaft­lich-kapi­ta­li­sti­schen Ord­nun­gen gibt, gibt es auch ein viel­fäl­ti­ges Staats- und Poli­tik­ver­sa­gen. Poli­ti­ker und Par­tei­en ver­fol­gen in indi­rek­ten par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tien Eigen­in­ter­es­sen, die zwar auch am Gemein­wohl ori­en­tiert sein kön­nen, aber nicht sein müs­sen, son­dern in der Regel viel­mehr nur Par­tial­in­ter­es­sen befrie­di­gen. Hier besteht immer poten­zi­ell die Gefahr einer Ver­selbst­stän­di­gung. »Der Bun­des­tag agiert abge­ho­ben und fern der Lebens­rea­li­tät der Men­schen«, kri­ti­siert die Sozio­lo­gie-Pro­fes­so­rin Chri­stia­ne Ben­der von der Hel­mut-Schmidt-Uni­ver­si­tät der Bun­des­wehr Ham­burg in einem Inter­view mit der Frank­fur­ter Rund­schau. Dies führt, ver­ständ­li­cher­wei­se, zu einer zuneh­men­den Demo­kra­tie­ver­dros­sen­heit im Volk. Bei der letz­ten Bun­des­tags­wahl 2021 stell­ten die Nicht-Wäh­ler die größ­te »Par­tei«. Bezo­gen auf die Wahl­be­rech­tig­ten ist die der­zei­ti­ge »Ampel-Regie­rung«, bestehend aus SPD, Bünd­nis 90/​Die Grü­nen und FDP, nur von 49,5 Pro­zent, also knapp der Hälf­te der Bür­ge­rin­nen und Bür­gern gewählt wor­den. Das Ver­trau­en in die Demo­kra­tie schwin­det seit der Wahl beson­ders rapi­de, stellt in einer jüng­sten reprä­sen­ta­ti­ven Umfra­ge die Kör­ber-Stif­tung fest. Danach sag­ten 71 Pro­zent der Befrag­ten, dass füh­ren­de Leu­te in Poli­tik und Medi­en in ihrer eige­nen Welt leb­ten, aus der sie auf den Rest der Bevöl­ke­rung her­ab­schau­ten, und fast die Hälf­te der Deut­schen (46 Pro­zent) fin­det, dass es im Land weni­ger bis gar nicht gerecht zugeht. Um es aber im Land gerecht zuge­hen zu las­sen, dafür gäbe es in Deutsch­land, in Sum­me eines der reich­sten Län­der der Erde, einen hin­rei­chen­den Spiel­raum, um Ein­kom­men umzu­ver­tei­len. Gleich­zei­tig bestün­de auch die Mög­lich­keit, in die völ­lig unglei­che Ver­mö­gens­ver­tei­lung poli­tisch ein­zu­grei­fen. Dies voll­zieht aber eben eine inter­es­sen­ori­en­tier­te Poli­tik nicht.

In einer direk­ten Demo­kra­tie wäre dage­gen eine sol­che kon­tra­pro­duk­ti­ve Poli­tik nicht mög­lich. Dabei ist wohl der größ­te Vor­teil das direk­te Abstim­men der Bür­ge­rin und des Bür­gers über Sach­fra­gen. »Nicht ein Mal alle paar Jah­re in der Wahl von Reprä­sen­tan­ten alles auf eine Kar­te zu set­zen, son­dern unent­wegt in der Sache gefragt zu sein. Direkt-par­ti­zi­pa­ti­ve Demo­kra­tie dient dem Kom­ple­xi­täts­ab­bau, oder viel­mehr dem Abbau geball­ter Kom­ple­xi­tät. Denn jede Sach­ent­schei­dung muss für sich getrof­fen wer­den; ich muss nicht ein Mal für vier Jah­re jeman­den man­da­tie­ren, der für mich alles ent­schei­det. Gera­de in einer kom­ple­xen Gesell­schaft ist nicht der par­la­men­ta­ri­sche Reprä­sen­ta­tis­mus das Gebo­te­ne, son­dern die direkt-par­ti­zi­pa­to­ri­sche Demo­kra­tie«, schreibt zu Recht Andre­as Urs Sommer.

Was offen­bart sich hier? Wir brau­chen in Deutsch­land, ja, in der gesam­ten EU eine direk­te Demo­kra­tie im gesell­schaft­lich staat­li­chen Über­bau. Davon sind wir aber selbst noch im Den­ken, geschwei­ge denn in der poli­ti­schen Umset­zung, ganz weit ent­fernt. Die »Ampel­re­gie­rung«, die in ihrer poli­ti­schen Außen­dar­stel­lung das Demo­kra­ti­sche immer wie­der gera­de­zu osten­ta­tiv her­vor­hebt, will mit einer auf Bun­des­ebe­ne mög­li­chen Ein­füh­rung von Bür­ger- und Bür­ge­rin­nen-Ent­schei­dun­gen nichts zu tun haben, dies nicht ein­mal einer Prü­fung unter­zie­hen. Die Koali­tio­nä­re wol­len statt­des­sen ledig­lich »die Ent­schei­dungs­fin­dung ver­bes­sern, indem wir neue For­men des Bür­ger­dia­logs wie etwa Bür­ger­rä­te nut­zen, ohne das Prin­zip der Reprä­sen­ta­ti­on auf­zu­ge­ben«. Das ist aber weder eine not­wen­di­ge, geschwei­ge denn eine hin­rei­chen­de Vor­aus­set­zung für eine direk­te Demo­kra­tie, um die längst eta­blier­te Poli­tik­ver­dros­sen­heit im Volk und die tief­sit­zen­de poli­ti­sche Kri­se im Land zu beseitigen.

Dazu brau­chen wir außer­dem nicht nur eine direk­te poli­ti­sche Demo­kra­tie, son­dern zusätz­lich eine Demo­kra­ti­sie­rung der Wirt­schaft (vgl. dazu aus­führ­lich das »Bon­trup-Modell« in: Bontrup/​Marquardt, Volks­wirt­schafts­leh­re aus ortho­do­xer und hete­ro­do­xer Sicht, Berlin/​Boston 2021, S. 884 ff.). Denn die Ver­hält­nis­se in der kapi­ta­li­sti­schen Wirt­schaft sind tat­säch­lich sogar auto­kra­tisch. Ein­sei­tig haben die Kapi­tal­ei­gen­tü­mer das Sagen, weil sie über das »Inve­sti­ti­ons­mo­no­pol« (so der her­aus­ra­gen­de Öko­nom Erich Prei­ser) ver­fü­gen und die abhän­gig Beschäf­tig­ten sich dem zu beu­gen haben. Eine pari­tä­tisch-qua­li­fi­zier­te Mit­be­stim­mung gibt es nicht. Demo­kra­tie im Staat, selbst wenn es nur eine indi­rek­te ist, und Auto­kra­tie in der Wirt­schaft: Eine sol­che Dicho­to­mie schließt sich zwar, wie wir täg­lich sehen, nicht aus, sie ist aber nicht zukunfts­taug­lich. Auch in der Wirt­schaft wer­den die abhän­gig Beschäf­tig­ten nicht mehr lan­ge den Zustand von »Unter­ta­nen der Kapi­tal­ei­gen­tü­mer« akzep­tie­ren. Sie wol­len in den Unter­neh­men mit­re­den, mit­be­stim­men und auch an den Ergeb­nis­sen par­ti­zi­pie­ren. Prei­ser kon­sta­tier­te hier schon 1965: »Kon­se­quent durch­dacht, muss sich die For­de­rung mit­zu­be­stim­men in die For­de­rung ver­wan­deln mit­zu­be­sit­zen. Kei­ne wirt­schaft­li­che Tätig­keit ist denk­bar ohne die Ver­fü­gung über Pro­duk­ti­ons­mit­tel. Ihr Eigen­tü­mer hat not­wen­di­ger­wei­se ein Über­ge­wicht über den, den er an die­sen Pro­duk­ti­ons­mit­teln beschäf­tigt. Das blo­ße Mit­re­den ist nur eine hal­be Sache – erst die Teil­nah­me an den Pro­duk­ti­ons­mit­teln schafft kla­re Verhältnisse.«

Und wo bleibt hier die Stim­me der Gewerk­schaf­ten? Der DGB hat 1949 in sei­nem ersten Grund­satz­pro­gramm eine Wirt­schafts­de­mo­kra­tie gefor­dert. Die Umset­zung der For­de­rung schei­ter­te an der Ade­nau­er-Regie­rung, und danach kam außer dem Mon­tan-Mit­be­stim­mungs­ge­setz nur noch wenig bis gar nichts in Sachen Wirt­schafts­de­mo­kra­tie. Das aktu­el­le DGB-Grund­satz­pro­gramm »Markt, Staat, Mit­be­stim­mung und Gestal­tung« ist völ­lig ent­täu­schend und bleibt hin­ter der For­de­rung nach einer Wirt­schafts­de­mo­kra­tie weit zurück. In den Ein­zel­ge­werk­schaf­ten wird nicht ein­mal das so fun­da­men­tal wich­ti­ge The­ma dis­ku­tiert. Zuletzt hat hier die ver.di-Basis 2015 mit Unter­stüt­zung von Wis­sen­schaft­lern und Wis­sen­schaft­le­rin­nen einen Vor­stoß gewagt, der dann aber völ­lig in den Müh­len der Gewerk­schafts­bü­ro­kra­tie unter­ge­gan­gen ist und damals auch nicht so rich­tig vom Bun­des­vor­stand gewollt war. In der Begrün­dung zur Kon­sti­tu­ie­rung der »Arbeits­grup­pe Wirt­schafts­de­mo­kra­tie beim ver.di Bun­des­vor­stand« hieß es jeden­falls: »Die Gewerk­schaft ver.di will (…) die Dis­kus­si­on um Wirt­schafts­de­mo­kra­tie ansto­ßen – sowohl inner­halb der Gewerk­schaf­ten als auch mit den sozia­len Bewe­gun­gen. Dies ist nöti­ger denn je.« Wohl wahr! Und was wur­de dar­aus? Nichts!