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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Notgemeinschaft

Mei­ne Mut­ter nann­te es »eine Husche«: Zehn Minu­ten reg­net es aus allen Him­mels­stock­wer­ken, dann kommt die Son­ne raus und scheint, als wäre nichts gewesen.

Grad kam sowas run­ter. Zehn Minu­ten sah man das Vor­der­haus nicht mehr hin­ter der Sturz­flut. Jetzt schöp­fen alle gemein­sam das Nie­der­ge­schla­ge­ne aus dem Kel­ler. Wir drei vom Hin­ter­haus – mei­ne Frau, ich und der Sohn, der uns gera­de besucht – packen mit an. Jeder schau­kelt sei­ne pri­va­ten Eimer, Kehr­schau­feln, Schrub­ber und Besen für das Gemein­wohl. Ich ken­ne kei­ne Par­tei­en mehr, ich ken­ne nur noch Mie­ter, spricht das Haus im Kaiser-Wilhelm-Slang.

Orts­kund­li­ches abstract: Wir woh­nen unter­halb eines Hangs, der voll­stän­dig ver­sie­gelt ist. Das Was­ser von oben läuft in dem Kanal einer Stra­ße zusam­men: unse­rer. Von wo aus es das Ablauf­ven­til unse­res Vor­der­haus­kel­lers mit­samt des­sen Fas­sung raus- und sich auf knapp einen Meter Höhe in den Kel­ler rein­ge­drückt hat.

Die Nach­ba­rin von links oben ist in ihrem Ele­ment. Also nicht Was­ser, son­dern Gemein­schaft. Vor Coro­na fei­er­te sie jedes Jahr um die Zeit ihren Geburts­tag als Hof­fest. Seit drei Jah­ren tobt die Minia­tur­aus­ga­be davon auf ihrem Bal­kon. Heu­te, im Was­ser ver­eint, steht end­lich wie­der ein Groß­teil der Nach­barn zusam­men auf gemein­sa­mem Grund. Bild­lich gespro­chen. Im Grund­buch steht natür­lich Onkel Horst, unser Ver­mie­ter, und ver­bit­tet sich die Ver­brü­de­rungs­an­tei­le an der Nach­bar­schafts­hil­fe. Egal, mei­ne Nach­ba­rin wird zum Faust. In Gum­mi­stie­feln »mit frei­em Volk auf frei­em Grund« ste­hend ruft sie im Kel­ler ein neu­es, post­co­ro­na­les Arka­di­en aus:

»Im Innern hier ein para­die­sisch Land,
Da rase drau­ßen Flut bis auf zum Rand,
Und wie sie nascht, gewalt­sam einzuschießen,
Gemein­drang eilt, die Lücke zu verschließen.«

Unse­re Kehr­schau­fel ist aller­dings bes­ser als ihre. Zum Was­ser­s­chip­pen geeig­ne­ter. Unse­re gleicht einer Dop­pel­ga­ra­ge mit Stiel vor der Ein­fahrt. Du schippst fünf Mal und der Eimer ist voll. Bei ihrer, der Nor­mal­aus­füh­rung, muss man schnell sein, damit das Was­ser über­haupt mit­kommt. Wir lei­hen ihr unse­re Schip­pe aus. Jeder leiht jedem alles aus. Wie im Kom­mu­nis­mus. Man schaut höch­stens, wel­cher von den roten Eimern den wei­ßen und wel­cher den schwar­zen Hen­kel hat. Für spä­ter. Und dass man beim Lau­fen zum Gul­li an keins der drei­zehn Autos stößt, die auf dem Hof stehen.

Der Nach­bar von rechts oben ruft sei­nen Sohn an, und der kommt hel­fen (er wohnt drei Häu­ser wei­ter, muss man dazu­sa­gen). Jetzt hel­fen sein Sohn und mein Sohn in einem Haus, in dem sie seit einem Jahr­zehnt nicht mehr woh­nen. Der Haus­mei­ster ist aus Bos­ni­en und hat ein scha­ma­ni­sches Wis­sen über Gewäs­ser­be­we­gun­gen. Kon­zen­triert hockt er über der Was­ser­ober­flä­che und beob­ach­tet Wel­len, die wir Nor­mal­mie­ten­den nicht sehen kön­nen. Die übri­gen Aus­län­der aus dem Haus feh­len, da sie einer Berufs­tä­tig­keit nach­ge­hen. Es ist eine recht deut­sche Ange­le­gen­heit, was sich hier abspielt, was der Nach­bar rechts oben als Ein­la­dung miss­ver­steht zu der Dia­gno­se: Was hier neu­er­dings woh­ne, sei aso­zi­al und habe kei­ne Ahnung von Tech­nik. Einer von denen habe das Ven­til auf­ge­dreht und jetzt hät­ten wir den Salat. Dass der Haus­mei­ster wider­spricht und erklärt, wie er das Ven­til samt Fas­sung wie­der in den Schacht zurück­bau­en muss­te, liegt dar­an, dass er aus Bos­ni­en kommt, denkt mein Nach­bar. Die Wahr­heits­droh­ne ver­rät mir das, kurz bevor sie aus dem Kel­ler in die Nach­bar­schaft aus­schwärmt, um mit dem Bericht zurück­zu­keh­ren: Der hydrau­li­sche Kom­mu­nis­mus regiert die kom­plet­te Straße.

Ich schicke das Flug­ge­rät zu Onkel Horsts Haus nach­gucken, was unser Ver­mie­ter macht. Sei­ne Toch­ter, die (noch) nichts zu sagen hat, schippt mit uns, steht knie­tief mit Leu­ten im sel­ben Was­ser, deren Ver­mö­gen neben dem ihren in kei­nem Dia­gramm der Welt sicht­bar zu machen wäre.

Die Wahr­heits­droh­ne kehrt zurück und berich­tet, Onkel Horst packe für drei Wochen Sylt. Wer oder was Sylt ist, weiß er seit zwei Jah­ren nicht mehr, geschwei­ge denn, wie man da hin­kommt. Aber den Zwei­ein­halb­ton­ner, den er auf unse­rem Hof parkt, um bei sich Platz zu spa­ren, bewegt er täg­lich. Fürs Auto­fah­ren braucht Onkel Horst kei­nen Taug­lich­keits­test wie für sei­ne Cess­na, die schon seit eini­gen Jah­ren am Boden blei­ben muss. Ich fra­ge die Wahr­heits­droh­ne: Wenn Onkel Horst in sei­nen SUV steigt und die Tür zumacht, wo ist er dann – sei­ner Mei­nung nach? Die Droh­ne weiß es nicht. Demenz schlägt künst­li­che Intelligenz.