Es war an einem Mittwoch in der Mitte des Oktobers. Morgens in der Früh hatte ich meinen Koffer verärgert gegriffen, weil die Wanderschuhe nicht eingetroffen waren, obgleich mir der Dienstleister DHL die nahende Ankunft meiner Lieferung per Mail wiederholt angekündigt und dann mehrfach verschoben hatte.
Meine stets auf Sicherheit bedachte Taube hatte sich am Vortag zum Bahnhof Friedrichstraße aufgemacht, um am dortigen DB-Reisezentrum zu erfahren, ob die von ihr ausgesuchten Züge zum BER auch tatsächlich fahren würden. Das wurde ihr bestätigt. Da wir, wie noch immer vorgeschrieben, zwei Stunden vor Abflug auf dem Airport sein wollten, musste es unbedingt die Bahn um 3.32 Uhr sein. Wir standen dann auch in morgendlicher Frische auf dem leeren Bahnsteig unterm Vollmond und sahen gleich mehrere Zugverbindungen mit einem X angezeigt. Natürlich auch FEX 19803. (Für Auswärtige: FEX steht für »Flughafen-Express«. Werbespruch: »Für eine optimale Anbindung an den innerstädtischen Nahverkehr sorgen schnelle Verbindungen zwischen BER und Berlin City.«) Die optimale Anbindung fiel also aus. Ohne Begründung.
Einzige Option, wenn wir denn den Flieger noch bekommen wollten: Taxi. Wir fanden auch eins. Der Fahrer verzog mokant das Gesicht, als wir die drei Buchstaben nannten. Den Grund erfuhren wir an jeder Ampel, die ihm Anlass zum nächtlichen Halt bot. Und mich überzeugte dieses Stop-and-Go endgültig davon, dass der Kreisverkehr ein weitaus demokratischeres Verkehrsinstrument ist als die diktatorische Ampel: Im Kreis entscheiden die Verkehrsteilnehmer selbst, wann sie fahren – an der Ampel tun es hirnlose Programme. Wir standen in dieser nächtlichen Stunde oft bei Rot an unbefahrenen Kreuzungen. So erfuhren wir, dass in Berlin so viele (legale) Taxis kurven wie in München, Hamburg und Frankfurt am Main zusammen, also zu viele, weshalb trotz Fahrpreissteigerungen die Umsätze zurückgehen. Und außerdem bringen lange Fahrten zum BER nur einmal Umsatz, weil die Rückfahrt ohne Kundschaft erfolgen muss, andernfalls setzt es Strafen. Schönefeld liegt in Brandenburg, und wegen der Kleinstaaterei in Deutschland dürften die Berliner Taxis am BER keine Kunden einladen. Sie sind somit zu einer Leerfahrt gezwungen. Aber immerhin, so erfuhren wir am nächsten Ampelrot, bekämen ab dem 1. November 2024 maximal 500 Berliner Taxi-Fahrer eine »Ladeberechtigung« für den BER. Nach Antragstellung und Losverfahren. Ich könne mir, sofern es mich interessiere und ich Neigung zur Realsatire besäße – der Fahrer gehörte vernehmlich zu den gebildeten Ständen –, mir mal die zehn Positionen für das Auswahlverfahren und deren Umsetzung im Internet anschauen. Oder die nicht minder aufschlussreiche »Benutzungsordnung für die Taxiinfrastruktur am Flughafen«, die sechs Seiten umfasse.
Nun, ich verfüge über diese Neigung in Maßen, aber in dieser Sache verspürte ich kaum Interesse: Ich war ganz darauf fokussiert, den Flieger zu bekommen, der 6 Uhr abheben sollte. Dieser ist, wie wir an der Länge der Schlangen vor den Schaltern sehen, nicht die einzige Maschine, die zur gleichen Minute in die Luft gehen soll (wie das bei der überschaubaren Zahl der Landebahnen möglich sein wird, kann ich mir nicht erklären). Nun ja, nachdem endlich das aufwendige und nicht minder zeitraubende Prozedere bei der strengen Sicherheitsüberprüfung (»Ziehen Sie bitte Ihre Schuhe aus!«) geschafft ist, marschieren wir durch schier endlose, trostlos-traurige Korridore zum Gate. Wir wollen noch einen Schluck Wasser aus einer kleinen Pulle nehmen, die am Automaten für wohlfeile 3,80 € angeboten wird, doch der Deal kommt nicht zustande, weil es irgendwelche Probleme mit der Karte gibt. Beim nächsten Automaten des gleichen Betreibers schiebe ich, so gewarnt, einen 10-Euro-Schein in den Schlitz. Der verschwindet und eine Wasserflasche poltert ins Fach. Mehr nicht. Nun hätte ich bei »THEO – experts on smart vending« die für Störungen angegebene Internetadresse aufrufen können, um dort der THEO Automaten GmbH in Berlin mitzuteilen, dass ihr Automat mit der Nr. 41010 spinnt. Doch das schaffe ich nicht mehr, da bereits zum Boarding gerufen wird.
Also reklamiere ich hier an dieser Stelle mein Wechselgeld.
Es sind angenehme vierzehn Tage an der Ostküste Mallorcas. Am Morgen unserer Abreise geben wir unser Leihauto ab. Der Vermieter umrundet einmal das Gefährt, um festzustellen, ob zu den alten Schrammen neue hinzugekommen sind und ob der Tank den geforderten Pegel aufweist. Dann zückt er seinen Zahlautomaten und retourniert die hinterlegte Kaution von 1900 Euro. »Dort drüben steht das Shuttle, das bringt Sie zum Airport. Gute Heimreise.« So einfach, so unkompliziert, so freundlich.
In ganz Spanien gibt es nur zwei Flughäfen, die größer sind als der in Palma de Mallorca. Die meisten Wege im Terminal sind zwar lang, aber übersichtlich und klar strukturiert, zudem bunt und belebt, Boutique reiht sich an Bistro. Jaja, der Kommerz. Obgleich über drei Millionen Passagiere im Durchschnitt hier im Monat durchgeschleust werden (im BER sind es etwa zwei), herrschen kaum Gedränge und Orientierungslosigkeit. Vor den Schaltern und dem Security Check wartet selten mehr als ein halbes Dutzend Menschen, die Angestellten erledigen mit professioneller Gelassenheit höflich und zügig ihren Job. Seit der Autorückgabe ist eine Stunde vergangen – und schon können wir uns in einem der vielen Cafés gemütlich aufs Boarding vorbereiten. Herrje, wie machen die das bloß, dass alles so reibungslos läuft? Bei Beobachtungen wie diesen oder auf vergleichbaren Airports drängt sich mir immer der Verdacht auf, dass die Manager des BER noch nie einen fremden Flughafen gesehen haben können. Andernfalls hätten sie sich etwas davon abgeschaut, und diese peinliche Provinzialität am Rande der deutschen Hauptstadt wäre vermieden worden.
Unser Flugzeug landet pünktlich in Schönefeld. Ein Bus fährt vor, die eine Hälfte der Insassen steigt aus und in diesen ein. Die andere Hälfte darf das Flugzeug nicht verlassen und muss auf die Rückkehr des Gefährts warten. Seine Wiederkehr erfolgt nach etwa einer Viertelstunde. Gut, die hätte man ohnehin an der Gepäckausgabe wartend zugebracht, vielleicht geht es jetzt schneller. Endlich stehen auch wir am Gummiband, das sich Minute um Minute unablässig dreht, ohne dass ein Koffer zu sehen ist. Schubweise und nach unendlicher Zeit purzeln dann hoch- und querkant die Gepäckstücke aufs Band und treten den letzten Teil ihrer Reise an.
Die Freude der Besitzer hält nicht lange an. Wer einmal nur hier ankam, kennt die Unübersichtlichkeit, die ihn anschließend erwartet. Die Wegführung ist ein Wagnis selbst für Einheimische, und wenn, wie wir nun erfahren, auch noch die S-Bahn ausfällt, bricht Chaos aus. Nicht nur Ausländer erweisen sich als unfähig, sich in dieser Fast-Apokalypse zurechtzufinden, alle irren orientierungslos umher. Die wenigen Hinweistafeln stiften mehr Verwirrung als Aufklärung. Die Lautsprecheransagen wiederholen lediglich das, was man ohnehin schon weiß, nämlich dass keine S-Bahn fährt, und dass auf den Bahnsteigen nicht geraucht werden darf. Als wir endlich mit Hilfe des Handys den Bahnsteig erreichen, von dem ein FEX oder Regionalzug in die Innenstadt abfahren soll, schließen sich gerade die Wagentüren, hinter denen sich Menschen drängen. Die Bilder kennen wir aus asiatischen Bahnhöfen, wo Uniformierte mit vereinten Kräften Reisende in die Wagenöffnungen schieben, um den letzten Quadratzentimeter mit der Masse Mensch zu füllen.
Ah, der nächste Zug kommt schon in einer halben Stunde. Immerhin.
Auch diese Bahn füllt sich auf gleiche Weise, Gepäckstücke türmen sich zwischen den Menschenleibern. Ein Kontrolleur quält sich hindurch, wir sind schließlich in Deutschland, alles muss seine Ordnung haben, also kontrolliert werden. Der Mann wird bedrängt, nach Ursachen des Ausfalls (»Ist der Russe schon da?«) und nach Anschlüssen gefragt. Eine Frau will nach Leipzig, eine andere nur nach Pankow. Der Bahner starrt auf sein Smartphone. Also ab Gesundbrunnen gibt es, glaube ich, Schienenersatzverkehr, sagt er. Und zu der Leipzigerin: Am Hauptbahnhof haben Sie Anschluss.
Wir wollen nur bis Bahnhof Friedrichstraße, sage ich. Steigen Sie in Ostkreuz aus und nehmen Sie die S-Bahn Richtung Westen. Fährt die denn? Er zuckt mit der Achsel.
Ist womöglich ein Tsunami über die Hauptstadt gerollt, dass hier sich kaum ein Rad noch dreht? Nö, nur Störungen, Bauarbeiten und Personalmangel, sagt er. Und wirkt dabei so ratlos wie die Bundesregierung.
Aha, also nichts Besonderes während unserer Abwesenheit passiert. Alles wie immer im Dienstleistungsparadies Deutschland. Und in der Post die Ankündigung der nächsten Mietanhebung im Januar 2025 durch den Vermieter. Wegen des Mietspiegels. Ach so. Na, wenigstens das klappt noch.