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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Dienstleistungsparadies Deutschland

Es war an einem Mitt­woch in der Mit­te des Okto­bers. Mor­gens in der Früh hat­te ich mei­nen Kof­fer ver­är­gert gegrif­fen, weil die Wan­der­schu­he nicht ein­ge­trof­fen waren, obgleich mir der Dienst­lei­ster DHL die nahen­de Ankunft mei­ner Lie­fe­rung per Mail wie­der­holt ange­kün­digt und dann mehr­fach ver­scho­ben hatte.

Mei­ne stets auf Sicher­heit bedach­te Tau­be hat­te sich am Vor­tag zum Bahn­hof Fried­rich­stra­ße auf­ge­macht, um am dor­ti­gen DB-Rei­se­zen­trum zu erfah­ren, ob die von ihr aus­ge­such­ten Züge zum BER auch tat­säch­lich fah­ren wür­den. Das wur­de ihr bestä­tigt. Da wir, wie noch immer vor­ge­schrie­ben, zwei Stun­den vor Abflug auf dem Air­port sein woll­ten, muss­te es unbe­dingt die Bahn um 3.32 Uhr sein. Wir stan­den dann auch in mor­gend­li­cher Fri­sche auf dem lee­ren Bahn­steig unterm Voll­mond und sahen gleich meh­re­re Zug­ver­bin­dun­gen mit einem X ange­zeigt. Natür­lich auch FEX 19803. (Für Aus­wär­ti­ge: FEX steht für »Flug­ha­fen-Express«. Wer­be­spruch: »Für eine opti­ma­le Anbin­dung an den inner­städ­ti­schen Nah­ver­kehr sor­gen schnel­le Ver­bin­dun­gen zwi­schen BER und Ber­lin City.«) Die opti­ma­le Anbin­dung fiel also aus. Ohne Begründung.

Ein­zi­ge Opti­on, wenn wir denn den Flie­ger noch bekom­men woll­ten: Taxi. Wir fan­den auch eins. Der Fah­rer ver­zog mokant das Gesicht, als wir die drei Buch­sta­ben nann­ten. Den Grund erfuh­ren wir an jeder Ampel, die ihm Anlass zum nächt­li­chen Halt bot. Und mich über­zeug­te die­ses Stop-and-Go end­gül­tig davon, dass der Kreis­ver­kehr ein weit­aus demo­kra­ti­sche­res Ver­kehrs­in­stru­ment ist als die dik­ta­to­ri­sche Ampel: Im Kreis ent­schei­den die Ver­kehrs­teil­neh­mer selbst, wann sie fah­ren – an der Ampel tun es hirn­lo­se Pro­gram­me. Wir stan­den in die­ser nächt­li­chen Stun­de oft bei Rot an unbe­fah­re­nen Kreu­zun­gen. So erfuh­ren wir, dass in Ber­lin so vie­le (lega­le) Taxis kur­ven wie in Mün­chen, Ham­burg und Frank­furt am Main zusam­men, also zu vie­le, wes­halb trotz Fahr­preis­stei­ge­run­gen die Umsät­ze zurück­ge­hen. Und außer­dem brin­gen lan­ge Fahr­ten zum BER nur ein­mal Umsatz, weil die Rück­fahrt ohne Kund­schaft erfol­gen muss, andern­falls setzt es Stra­fen. Schö­ne­feld liegt in Bran­den­burg, und wegen der Klein­staa­te­rei in Deutsch­land dürf­ten die Ber­li­ner Taxis am BER kei­ne Kun­den ein­la­den. Sie sind somit zu einer Leer­fahrt gezwun­gen. Aber immer­hin, so erfuh­ren wir am näch­sten Ampel­rot, bekä­men ab dem 1. Novem­ber 2024 maxi­mal 500 Ber­li­ner Taxi-Fah­rer eine »Lade­be­rech­ti­gung« für den BER. Nach Antrag­stel­lung und Los­ver­fah­ren. Ich kön­ne mir, sofern es mich inter­es­sie­re und ich Nei­gung zur Real­sa­ti­re besä­ße – der Fah­rer gehör­te ver­nehm­lich zu den gebil­de­ten Stän­den –, mir mal die zehn Posi­tio­nen für das Aus­wahl­ver­fah­ren und deren Umset­zung im Inter­net anschau­en. Oder die nicht min­der auf­schluss­rei­che »Benut­zungs­ord­nung für die Taxi­in­fra­struk­tur am Flug­ha­fen«, die sechs Sei­ten umfasse.

Nun, ich ver­fü­ge über die­se Nei­gung in Maßen, aber in die­ser Sache ver­spür­te ich kaum Inter­es­se: Ich war ganz dar­auf fokus­siert, den Flie­ger zu bekom­men, der 6 Uhr abhe­ben soll­te. Die­ser ist, wie wir an der Län­ge der Schlan­gen vor den Schal­tern sehen, nicht die ein­zi­ge Maschi­ne, die zur glei­chen Minu­te in die Luft gehen soll (wie das bei der über­schau­ba­ren Zahl der Lan­de­bah­nen mög­lich sein wird, kann ich mir nicht erklä­ren). Nun ja, nach­dem end­lich das auf­wen­di­ge und nicht min­der zeit­rau­ben­de Pro­ze­de­re bei der stren­gen Sicher­heits­über­prü­fung (»Zie­hen Sie bit­te Ihre Schu­he aus!«) geschafft ist, mar­schie­ren wir durch schier end­lo­se, trost­los-trau­ri­ge Kor­ri­do­re zum Gate. Wir wol­len noch einen Schluck Was­ser aus einer klei­nen Pul­le neh­men, die am Auto­ma­ten für wohl­fei­le 3,80 € ange­bo­ten wird, doch der Deal kommt nicht zustan­de, weil es irgend­wel­che Pro­ble­me mit der Kar­te gibt. Beim näch­sten Auto­ma­ten des glei­chen Betrei­bers schie­be ich, so gewarnt, einen 10-Euro-Schein in den Schlitz. Der ver­schwin­det und eine Was­ser­fla­sche pol­tert ins Fach. Mehr nicht. Nun hät­te ich bei »THEO – experts on smart ven­ding« die für Stö­run­gen ange­ge­be­ne Inter­net­adres­se auf­ru­fen kön­nen, um dort der THEO Auto­ma­ten GmbH in Ber­lin mit­zu­tei­len, dass ihr Auto­mat mit der Nr. 41010 spinnt. Doch das schaf­fe ich nicht mehr, da bereits zum Boar­ding geru­fen wird.

Also rekla­mie­re ich hier an die­ser Stel­le mein Wechselgeld.

Es sind ange­neh­me vier­zehn Tage an der Ost­kü­ste Mal­lor­cas. Am Mor­gen unse­rer Abrei­se geben wir unser Leih­au­to ab. Der Ver­mie­ter umrun­det ein­mal das Gefährt, um fest­zu­stel­len, ob zu den alten Schram­men neue hin­zu­ge­kom­men sind und ob der Tank den gefor­der­ten Pegel auf­weist. Dann zückt er sei­nen Zahl­au­to­ma­ten und retour­niert die hin­ter­leg­te Kau­ti­on von 1900 Euro. »Dort drü­ben steht das Shut­tle, das bringt Sie zum Air­port. Gute Heim­rei­se.« So ein­fach, so unkom­pli­ziert, so freundlich.

In ganz Spa­ni­en gibt es nur zwei Flug­hä­fen, die grö­ßer sind als der in Pal­ma de Mal­lor­ca. Die mei­sten Wege im Ter­mi­nal sind zwar lang, aber über­sicht­lich und klar struk­tu­riert, zudem bunt und belebt, Bou­tique reiht sich an Bistro. Jaja, der Kom­merz. Obgleich über drei Mil­lio­nen Pas­sa­gie­re im Durch­schnitt hier im Monat durch­ge­schleust wer­den (im BER sind es etwa zwei), herr­schen kaum Gedrän­ge und Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit. Vor den Schal­tern und dem Secu­ri­ty Check war­tet sel­ten mehr als ein hal­bes Dut­zend Men­schen, die Ange­stell­ten erle­di­gen mit pro­fes­sio­nel­ler Gelas­sen­heit höf­lich und zügig ihren Job. Seit der Auto­rück­ga­be ist eine Stun­de ver­gan­gen – und schon kön­nen wir uns in einem der vie­len Cafés gemüt­lich aufs Boar­ding vor­be­rei­ten. Herr­je, wie machen die das bloß, dass alles so rei­bungs­los läuft? Bei Beob­ach­tun­gen wie die­sen oder auf ver­gleich­ba­ren Air­ports drängt sich mir immer der Ver­dacht auf, dass die Mana­ger des BER noch nie einen frem­den Flug­ha­fen gese­hen haben kön­nen. Andern­falls hät­ten sie sich etwas davon abge­schaut, und die­se pein­li­che Pro­vin­zia­li­tät am Ran­de der deut­schen Haupt­stadt wäre ver­mie­den worden.

Unser Flug­zeug lan­det pünkt­lich in Schö­ne­feld. Ein Bus fährt vor, die eine Hälf­te der Insas­sen steigt aus und in die­sen ein. Die ande­re Hälf­te darf das Flug­zeug nicht ver­las­sen und muss auf die Rück­kehr des Gefährts war­ten. Sei­ne Wie­der­kehr erfolgt nach etwa einer Vier­tel­stun­de. Gut, die hät­te man ohne­hin an der Gepäck­aus­ga­be war­tend zuge­bracht, viel­leicht geht es jetzt schnel­ler. End­lich ste­hen auch wir am Gum­mi­band, das sich Minu­te um Minu­te unab­läs­sig dreht, ohne dass ein Kof­fer zu sehen ist. Schub­wei­se und nach unend­li­cher Zeit pur­zeln dann hoch- und quer­kant die Gepäck­stücke aufs Band und tre­ten den letz­ten Teil ihrer Rei­se an.

Die Freu­de der Besit­zer hält nicht lan­ge an. Wer ein­mal nur hier ankam, kennt die Unüber­sicht­lich­keit, die ihn anschlie­ßend erwar­tet. Die Weg­füh­rung ist ein Wag­nis selbst für Ein­hei­mi­sche, und wenn, wie wir nun erfah­ren, auch noch die S-Bahn aus­fällt, bricht Cha­os aus. Nicht nur Aus­län­der erwei­sen sich als unfä­hig, sich in die­ser Fast-Apo­ka­lyp­se zurecht­zu­fin­den, alle irren ori­en­tie­rungs­los umher. Die weni­gen Hin­weis­ta­feln stif­ten mehr Ver­wir­rung als Auf­klä­rung. Die Laut­spre­cher­an­sa­gen wie­der­ho­len ledig­lich das, was man ohne­hin schon weiß, näm­lich dass kei­ne S-Bahn fährt, und dass auf den Bahn­stei­gen nicht geraucht wer­den darf. Als wir end­lich mit Hil­fe des Han­dys den Bahn­steig errei­chen, von dem ein FEX oder Regio­nal­zug in die Innen­stadt abfah­ren soll, schlie­ßen sich gera­de die Wagen­tü­ren, hin­ter denen sich Men­schen drän­gen. Die Bil­der ken­nen wir aus asia­ti­schen Bahn­hö­fen, wo Uni­for­mier­te mit ver­ein­ten Kräf­ten Rei­sen­de in die Wagen­öff­nun­gen schie­ben, um den letz­ten Qua­drat­zen­ti­me­ter mit der Mas­se Mensch zu füllen.

Ah, der näch­ste Zug kommt schon in einer hal­ben Stun­de. Immerhin.

Auch die­se Bahn füllt sich auf glei­che Wei­se, Gepäck­stücke tür­men sich zwi­schen den Men­schen­lei­bern. Ein Kon­trol­leur quält sich hin­durch, wir sind schließ­lich in Deutsch­land, alles muss sei­ne Ord­nung haben, also kon­trol­liert wer­den. Der Mann wird bedrängt, nach Ursa­chen des Aus­falls (»Ist der Rus­se schon da?«) und nach Anschlüs­sen gefragt. Eine Frau will nach Leip­zig, eine ande­re nur nach Pan­kow. Der Bah­ner starrt auf sein Smart­phone. Also ab Gesund­brun­nen gibt es, glau­be ich, Schie­nen­er­satz­ver­kehr, sagt er. Und zu der Leip­zi­ge­rin: Am Haupt­bahn­hof haben Sie Anschluss.

Wir wol­len nur bis Bahn­hof Fried­rich­stra­ße, sage ich. Stei­gen Sie in Ost­kreuz aus und neh­men Sie die S-Bahn Rich­tung Westen. Fährt die denn? Er zuckt mit der Achsel.

Ist womög­lich ein Tsu­na­mi über die Haupt­stadt gerollt, dass hier sich kaum ein Rad noch dreht? Nö, nur Stö­run­gen, Bau­ar­bei­ten und Per­so­nal­man­gel, sagt er. Und wirkt dabei so rat­los wie die Bundesregierung.

Aha, also nichts Beson­de­res wäh­rend unse­rer Abwe­sen­heit pas­siert. Alles wie immer im Dienst­lei­stungs­pa­ra­dies Deutsch­land. Und in der Post die Ankün­di­gung der näch­sten Miet­an­he­bung im Janu­ar 2025 durch den Ver­mie­ter. Wegen des Miet­spie­gels. Ach so. Na, wenig­stens das klappt noch.