»Es war einmal ein Winter, der wollte mit Eis und Schnee den Miriquidiwald von der Dunkelheit seines Namens befreien und von der Schwärze seiner Geschichte und von den Grauen seiner Gegenwart und von der Düsterheit seiner Zukunft. Von November bis März zog sich der Winter hin. Es war einmal eine arme Frau, die war in einer Glückshaut geboren und fand zeitlebens auch im tiefsten Jammer ihr Heil«, so heißt es im Buch, und so wird es im Klappentext angekündigt. Geht so ein Roman? Nicht eher ein Märchen? Oder ein Gedicht?
Minna, 1804 geboren, hat ein wechselvolles Schicksal: Den Vater in der Pulverfabrik verloren, von der Mutter schließlich im Wald ausgesetzt. Dort begegnet sie sieben Bergknappen, für die sie die Wirtschaft führt. Doch einer nach dem anderen stirbt, der letzte wird ihr Geliebter und der Vater ihres Sohnes Johannes. Von den Früchten – vor allem den Pilzen – des Waldes lebend, schlägt sie sich durch, wird eine Art Waldhexe, bis das Zwergenhaus einstürzt. Da macht sie sich auf die Suche nach ihrem Sohn, landet in Dörfern, Wäldern, unter Brücken, in einer Heilanstalt, aus der sie dann doch entlassen wird. Manchmal wird die Bettlerin beschenkt, einmal bekommt sie eine Zugfahrkarte nach Chemnitz, wo sie schließlich landet und ihren Sohn, mittlerweile Kommerzienrat Johannes Leichsenring, zu finden hofft. Auf dem Weg zu dessen Villa passiert ein Unfall, und dem dort vorbeifahrenden Sohn bleibt nur noch übrig, der Uralten »Gnade zu gewähren«.
Aber auch Johannes soll nicht mehr lange leben. Wirre Träume begleiten sein Ableben. Auch wusste er nicht, wem er all sein Hab und Gut vermachen sollte. Das Schicksal einiger der potentiellen Erben wird im zweiten und dritten Teil des Buches dargestellt. Es sind den Zeitläufen gemäß – und diese sind wichtig – verschiedene gewöhnliche Lebensläufe, die das Märchenhafte und Ungewöhnliche zuweilen streifen.
Kerstin Hensel handhabt viele Register. Sie schreibt teils sehr realistisch, detailliert, über den Alltag und die Armut, teils märchenhaft in Motivik und Stil, auch zuweilen absurd und komisch. Was ist das Glück der Armen? Genügsamkeit? Duldsamkeit? Überlebensfähigkeit? Das Glück der armen Leute hängt nicht von einer angeborenen genetischen Besonderheit ab und auch nicht von Geld und Gut. Was Glück ist, bleibt verborgen, vor allem die Protagonisten des Buches erleben es kaum, beziehungsweise können den Goldklumpen nicht halten. Kerstin Hensel vermischt Fantastisches mit Wirklichem, gibt dem lokalen Kolorit des Erzgebirgischen Gestalt und scheint auch zuweilen die Tradition langatmiger Familienromane zu parodieren. So gerät das Ganze zu einem großen Spiel.
Kerstin Hensel: Die Glückshaut. Roman, Quintus-Verlag Berlin, 174 S., 23 €.