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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Das zweifelhafte Glück der Armen

»Es war ein­mal ein Win­ter, der woll­te mit Eis und Schnee den Miri­qui­di­wald von der Dun­kel­heit sei­nes Namens befrei­en und von der Schwär­ze sei­ner Geschich­te und von den Grau­en sei­ner Gegen­wart und von der Düster­heit sei­ner Zukunft. Von Novem­ber bis März zog sich der Win­ter hin. Es war ein­mal eine arme Frau, die war in einer Glücks­haut gebo­ren und fand zeit­le­bens auch im tief­sten Jam­mer ihr Heil«, so heißt es im Buch, und so wird es im Klap­pen­text ange­kün­digt. Geht so ein Roman? Nicht eher ein Mär­chen? Oder ein Gedicht?

Min­na, 1804 gebo­ren, hat ein wech­sel­vol­les Schick­sal: Den Vater in der Pul­ver­fa­brik ver­lo­ren, von der Mut­ter schließ­lich im Wald aus­ge­setzt. Dort begeg­net sie sie­ben Berg­knap­pen, für die sie die Wirt­schaft führt. Doch einer nach dem ande­ren stirbt, der letz­te wird ihr Gelieb­ter und der Vater ihres Soh­nes Johan­nes. Von den Früch­ten – vor allem den Pil­zen – des Wal­des lebend, schlägt sie sich durch, wird eine Art Wald­hexe, bis das Zwer­gen­haus ein­stürzt. Da macht sie sich auf die Suche nach ihrem Sohn, lan­det in Dör­fern, Wäl­dern, unter Brücken, in einer Heil­an­stalt, aus der sie dann doch ent­las­sen wird. Manch­mal wird die Bett­le­rin beschenkt, ein­mal bekommt sie eine Zug­fahr­kar­te nach Chem­nitz, wo sie schließ­lich lan­det und ihren Sohn, mitt­ler­wei­le Kom­mer­zi­en­rat Johan­nes Leich­sen­ring, zu fin­den hofft. Auf dem Weg zu des­sen Vil­la pas­siert ein Unfall, und dem dort vor­bei­fah­ren­den Sohn bleibt nur noch übrig, der Uralten »Gna­de zu gewähren«.

Aber auch Johan­nes soll nicht mehr lan­ge leben. Wir­re Träu­me beglei­ten sein Able­ben. Auch wuss­te er nicht, wem er all sein Hab und Gut ver­ma­chen soll­te. Das Schick­sal eini­ger der poten­ti­el­len Erben wird im zwei­ten und drit­ten Teil des Buches dar­ge­stellt. Es sind den Zeit­läu­fen gemäß – und die­se sind wich­tig – ver­schie­de­ne gewöhn­li­che Lebens­läu­fe, die das Mär­chen­haf­te und Unge­wöhn­li­che zuwei­len streifen.

Ker­stin Hen­sel hand­habt vie­le Regi­ster. Sie schreibt teils sehr rea­li­stisch, detail­liert, über den All­tag und die Armut, teils mär­chen­haft in Moti­vik und Stil, auch zuwei­len absurd und komisch. Was ist das Glück der Armen? Genüg­sam­keit? Duld­sam­keit? Über­le­bens­fä­hig­keit? Das Glück der armen Leu­te hängt nicht von einer ange­bo­re­nen gene­ti­schen Beson­der­heit ab und auch nicht von Geld und Gut. Was Glück ist, bleibt ver­bor­gen, vor allem die Prot­ago­ni­sten des Buches erle­ben es kaum, bezie­hungs­wei­se kön­nen den Gold­klum­pen nicht hal­ten. Ker­stin Hen­sel ver­mischt Fan­ta­sti­sches mit Wirk­li­chem, gibt dem loka­len Kolo­rit des Erz­ge­bir­gi­schen Gestalt und scheint auch zuwei­len die Tra­di­ti­on lang­at­mi­ger Fami­li­en­ro­ma­ne zu par­odie­ren. So gerät das Gan­ze zu einem gro­ßen Spiel.

Ker­stin Hen­sel: Die Glücks­haut. Roman, Quin­tus-Ver­lag Ber­lin, 174 S., 23 €.