Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

 

Dudows letz­te Regiearbeit

Vor 60 Jah­ren ver­lor die DDR ihren berühm­te­sten Film­re­gis­seur, Sla­tan Dudow, gebo­ren 1903. Man dürf­te zumin­dest sei­nen »pro­le­ta­ri­schen« Pio­nier­film Kuh­le Wam­pe oder Wem gehört die Welt? von 1932 ken­nen. Spä­ter, nach dem Exil in Frank­reich und der Schweiz, ging der bul­ga­risch-stäm­mi­ge, mit Brecht befreun­de­te Kom­mu­nist nach Ost­ber­lin und dreh­te für die in Babels­berg ansäs­si­ge DEFA. Er war erst 60, als er eines fei­er­abends unfall­wei­se zu Tode kam. Hat ihn am Ende just die DEFA auf dem Gewis­sen, wie der Jour­na­list und Film­ex­per­te Ralf Schenk zu glau­ben scheint?

Im Som­mer 1963 dreh­te Dudow im öst­li­chen Bran­den­burg auf einem Guts­hof Sze­nen sei­nes Strei­fens Chri­sti­ne, der unvoll­endet blei­ben soll­te. Der Dreh­ort, wohl Hein­ers­dorf, lag bei Fürstenwalde/​Spree. Eben­dort hat­te der 60-Jäh­ri­ge am frü­hen Mor­gen des 12. Juli 1963 einen töd­li­chen Auto­un­fall. Ein­zel­hei­ten nennt, soweit ich sehe, nie­mand. Schenk erläu­tert aber (in Film­dienst 14/​2003)* immer­hin, Dudow sei nach den anstren­gen­den Dreh­ar­bei­ten »auf dem Weg nach Ber­lin« gewe­sen – »und weil die DEFA-Direk­ti­on ein paar Mona­te zuvor aus Spar­sam­keits­grün­den beschlos­sen hat­te, per­so­nen­ge­bun­de­ne Chauf­feu­re auf ein Mini­mum zu redu­zie­ren, lenk­te er sei­nen Wagen selbst. Neben ihm, dem vor Müdig­keit immer wie­der die Augen zufie­len, saß sei­ne Haupt­dar­stel­le­rin Annet­te Wos­ka. Sie über­leb­te den Crash, lag Wochen im Koma, erfuhr auch danach lan­ge nicht vom Tod ihres Regisseurs.«

In einem Por­trät für den gleich­sam amt­li­chen Sam­mel­band Die erste Stun­de** über frü­he füh­ren­de DDR-Revo­lu­tio­nä­re liest sich die Sache anders. Es stammt vom pro­mi­nen­ten Dreh­buch­au­tor Wolf­gang Kohl­h­aa­se. Danach war Dudow am Lenk­rad ein­ge­schla­fen. Dies aber mit­nich­ten auf dem Weg nach Ber­lin (gen Westen), viel­mehr nach sei­nem recht nahen Häus­chen in Saa­row am Schar­müt­zel­see, der süd­lich von Für­sten­wal­de liegt. Der Regis­seur hat­te dort eine Dat­scha, die er vor allem im Som­mer gern nutz­te. Mit »sei­ner Fami­lie«, wie Kohl­h­aa­se reich­lich unbe­stimmt for­mu­liert, wohn­te er in Ber­lin-Pan­kow. Bei­de Domi­zi­le waren anschei­nend nur gemie­tet. Aber der »blaue Mer­ce­des«, von dem Kohl­h­aa­se spricht, war zwei­fels­frei Dudows Pri­vat­ei­gen­tum. Zum Umgang mit die­ser Limou­si­ne aus dem Westen teilt der Film­au­tor Ein­zel­hei­ten mit. Zunächst sei sie von einem Fah­rer gesteu­ert wor­den, den die DEFA stell­te, dann von einem, den der Star­re­gis­seur aus eige­ner Tasche bezahl­te. Schließ­lich habe er sich jedoch in den Kopf gesetzt, sie eigen­hän­dig zu fah­ren. Er mach­te also den Füh­rer­schein und erfreu­te sich dar­an. Einen harm­lo­sen Unfall, bei dem er im Win­ter gegen eine mit Streu­sand gefüll­te Kiste fuhr, nahm der vier­schrö­ti­ge, unter­setz­te, wuch­ti­ge Film­künst­ler offen­sicht­lich auf die leich­te Schul­ter. Dann kam der ver­häng­nis­vol­le Juli­tag 1963. Kohl­h­aa­se poe­ti­siert: »Der Tod hat sich hin­ter einen Baum gestellt, um ihn zu erwar­ten.« Der Sen­sen­mann war schuld.

Die von Schenk bemüh­te anrüh­ren­de Geschich­te von der arg­li­sti­gen DEFA ver­schmäh­te Kohl­h­aa­se. Über­dies ver­zich­tet er aber nicht nur auf Andeu­tung der ört­li­chen Ver­kehrs­la­ge – er über­geht sogar die im Koma gelan­de­te Bei­fah­re­rin Dudows. Wos­ka kommt bei ihm nicht vor. Das ist schon ein dickes Ding.

Thea­ter- und Film­star Ange­li­ca Dom­rö­se, gebo­ren 1941, hat­te als 17-Jäh­ri­ge ihren ersten Film unter Dudows Lei­tung gespielt. In ihren 2003 im Lüb­be-Ver­lag erschie­ne­nen Erin­ne­run­gen*** bestä­tigt sie Kohl­h­aa­ses Sicht auf den blau­en Mer­ce­des und Dudows Begier­de, ihn unter sei­ne Lenk­rad-Regie zu zwin­gen. Sie behaup­tet zudem, der altern­de Film­re­gis­seur, der (laut Kohl­h­aa­se) schon immer zu Sar­kas­mus, Auf­brau­sen und Stur­heit neig­te, sei wie­der­holt durch die Füh­rer­schein-Prü­fung gefal­len. Aber dar­auf will ich nicht her­um­rei­ten. Eine recht befremd­li­che Tat­sa­che erblicke ich zum einen dar­in, dass auch Dom­rö­se, wie Kohl­h­aa­se, ihre Geschlechts-, Alters- und Berufs­ge­nos­sin Annet­te Wos­ka kalt­blü­tig unter den Tisch fal­len lässt. Sie scheint sie nicht zu ken­nen – obwohl sie mit Kohl­h­aa­se befreun­det war, der jede Wet­te um die Rol­le Wos­kas als Bei­fah­re­rin wuss­te. Neben­bei ist Wos­ka auch im Inter­net nahe­zu unbe­kannt; noch nicht ein­mal die Lebens­da­ten sind zu haben. Wiki­pe­dia erwähnt ledig­lich, auf­grund ihrer schwe­ren Ver­let­zung bei dem Unfall habe sie »lan­ge Zeit nicht fil­men« kön­nen. Spä­ter, nach ihrer Hei­rat mit dem Regis­seur Die­ter Roth, habe sie jedoch, nun als Anet­te Roth, noch in meh­re­ren DEFA-Fil­men mit­ge­wirkt. Wo sie zur Zeit von Chri­sti­ne wohn­te, ver­rät kein Mensch. Viel­leicht ruh­te sie sich zumin­dest strecken­wei­se in der Dat­scha am Schar­müt­zel­see auf dem Eis­bä­ren­fell aus. Man erfährt auch nicht, ob sie mit Dudow mög­li­cher­wei­se vor Fahrt­an­tritt ein paar Gläs­chen Sekt auf das Ende der anstren­gen­den Dreh­ar­bei­ten geleert hat­te. Falls es Pres­se­mel­dun­gen gab, sind sie mir nicht zugäng­lich. Erfah­rungs­ge­mäß kein Verlust.

Hal­ten wir uns an die Lite­ra­tur. Nach Aus­weis ihres wenig emp­feh­lens­wer­ten Buches schätz­te Ange­li­ca Dom­rö­se, neben dem Alko­hol, ins­be­son­de­re Kat­zen, Uhren – und Autos. Zeit­wei­se fuhr sie einen roten Fiat-Sport­wa­gen, dann einen wei­ßen Por­sche. Von den vie­len VEB- oder LPG-Arbei­te­rin­nen, die Dom­rö­se von den Kino­ses­sel­rei­hen her anhim­mel­ten, ein­mal abge­se­hen, konn­ten selbst zwei def­ti­ge Auto­un­fäl­le ihre Ver­narrt­heit nicht ver­scheu­chen. Einen bau­te ihr erster Ehe­gat­te Jiri Vrst­a­la, ein Clown. Den ande­ren hat­te sie sel­ber als Bei­fah­re­rin eines DEFA-Chauf­feurs. Sie lag Wochen im Kran­ken­haus. Ob und wie jeweils Drit­te zu Scha­den kamen, geht aus ihren Erin­ne­run­gen nicht her­vor. Viel­leicht hat­ten die Drit­ten zufäl­lig mehr Glück als Wos­ka. Als das Lüb­be-Buch ent­stand, um 2000, fuhr Dom­rö­se einen Mini-Coo­per.

Den­ke ich ganz all­ge­mein an den nach­äf­fen­den Wahn­sinn der Ver­kehrs­po­li­tik der SED, könn­te ich eben­falls zum Alko­ho­li­ker wer­den. 2003 zog ich nach Thü­rin­gen. Als ich damals durch Städ­te wie Eisen­ach oder Mühl­hau­sen ging, kam ich aus dem Kopf­schüt­teln gar nicht mehr her­aus. Wäh­rend sich die Lini­en­bus­se im Wett­streit mit den modi­schen, breit­mäu­li­gen »Gelände«-Limousinen durch die engen Gas­sen zwäng­ten, sah ich hier und dort noch ein­asphal­tier­te Stra­ßen­bahn­schie­nen auf­blin­ken. Am lieb­sten hät­te ich mich ver­zwei­felt hin­ge­wor­fen und mei­ne Zäh­ne in die still­ge­leg­ten Schie­nen geschla­gen. Die­sen Schwenk vom spur­treu­en Mas­sen­ver­kehr zur ver­stärk­ten Auto­mo­bi­li­sie­rung nah­men die ost­deut­schen »Sozia­li­sten« in den 1970er Jah­ren frei­wil­lig, ja mit Begei­ste­rung vor! Da war Dudow gera­de erst angefault.
 
* Ralf Schenk: Arti­kel in Film­dienst 14/​2003, prä­sen­tiert auf https://www.defa-stiftung.de/defa/publikationen/artikel/142003-der-mann-der-kuhle-wampe-drehte/.
** Die erste Stun­de, Hrsg. Fritz Selb­mann, Lizenz­aus­ga­be im Buch­club 65, Ost­ber­lin 1969.
*** Ich fang mich selbst, auf­ge­schrie­ben von Ker­stin Decker, Gustav Lüb­be Ver­lag 2003.