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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Pazifismus? Jetzt erst recht!

»Als der Krieg aus­brach, ver­wan­del­te sich mei­ne Angst vor einem Krieg in Euro­pa in die Angst vor einem Atom­krieg in Euro­pa«, schreibt der Phi­lo­soph Olaf L. Mül­ler, Pro­fes­sor an der Ber­li­ner Hum­boldt-Uni­ver­si­tät. Sein »Lebens- und Mei­nungs­wan­del« sei der­zeit von »viel Angst durch­setzt«. Sei­ne anfäng­li­che Panik habe sich schließ­lich aber in eine Stim­mung ver­wan­delt, in der die Furcht nicht das Den­ken tötet, son­dern sinn­voll anlei­tet: »Sie will uns etwas sagen, wir müs­sen ihr kri­tisch zuhören.«

Wie sehr erin­nert mich das an die frü­hen 1980er-Jah­re! Wir jun­gen Leu­te, die wir uns in der Frie­dens­be­we­gung enga­giert hat­ten, saßen bei­ein­an­der und gestan­den uns reih­um unse­re Äng­ste. Wür­de es zum gro­ßen Knall kom­men, wür­den wir das größ­te denk­ba­re Grau­en erle­ben, das sich Men­schen über­haupt nur vor­stel­len kön­nen. Nicht weit von uns ent­fernt soll­ten Atom­ra­ke­ten sta­tio­niert wer­den, die bei einer Flug­zeit von rund 12 Minu­ten Mos­kau errei­chen konn­ten, um dort Mil­lio­nen Men­schen­le­ben aus­zu­lö­schen. Das Wort »Atom­ra­ke­ten sind Unter­gangs­ma­gne­ten« klang uns in den Ohren, und wir wuss­ten, dass unse­re eige­ne Sicher­heit mit der Sicher­heit der Ein­woh­ner Mos­kaus iden­tisch war. Vor­aus­ge­gan­gen war der Nato-Beschluss, West­eu­ro­pa mit Nukle­ar­ra­ke­ten auf­zu­rü­sten. Wie­der ein­mal glaub­te man, Sicher­heit her­stel­len zu kön­nen, indem man eine Lun­te leg­te, das Streich­holz ent­zün­de­te und dar­auf war­te­te, dass der Geg­ner sich rühr­te. Die gering­ste Bewe­gung jen­seits des Eiser­nen Vor­hangs hät­te die Ver­nich­tungs­ma­schi­ne­rie in Gang gesetzt. Man nann­te es Abschreckung.

Damals tra­fen wir über­all auf Men­schen, die eben­falls Angst hat­ten. Aber sie quäl­ten sich nicht mit Hor­ror­vor­stel­lun­gen, son­dern wur­den aktiv. Frie­dens­grup­pen schos­sen wie Pil­ze aus dem Boden. Zu Hun­dert­tau­sen­den ver­sam­mel­ten sich Frie­dens­be­weg­te auf zwei gro­ßen Demon­stra­tio­nen in Bonn, und 1983 fass­ten sich über 108 Kilo­me­ter hin­weg Men­schen an den Hän­den, um eine Men­schen­ket­te zwi­schen Stutt­gart und dem Mili­tär­stütz­punkt Neu-Ulm zu bil­den. Wir erleb­ten, dass wir nicht allein waren. Dass mit Atom­waf­fen kei­ne Sicher­heit zu schaf­fen ist, war vie­len bewusst gewor­den, und unse­re Aktio­nen waren von einer gro­ßen Hoff­nung beflü­gelt. Histo­ri­ker sind heu­te der Ansicht, der gewal­ti­ge inter­na­tio­na­le Pro­test, der dem Nato-Beschluss folg­te, sei einer der bedeut­sam­sten Fak­to­ren für die Been­di­gung des Kal­ten Kriegs gewesen.

Wer sich wie Olaf Mül­ler sei­ne Angst ein­ge­steht, wer gar pro­te­stie­rend auf die Stra­ße geht, ist gegen­wär­tig eine Aus­nah­me. Längst ist es zu einer Art Selbst­ver­ständ­lich­keit gewor­den, dass Atom­waf­fen exi­stie­ren, und die mei­sten glau­ben, dass von ihnen kei­ne Gefahr aus­geht. Nie­mand sei so ver­rückt, sie ein­zu­set­zen. »Die Abschreckung wirkt doch!«, sagen mir Freun­de. Oder: »Du bist eben alt, das sind Pro­ble­me von gestern.« Und mit dem Feh­len der Angst, fehlt auch jener spe­zi­fi­sche Kick, den das Den­ken offen­bar benö­tigt, um aus den gewohn­ten Bah­nen aus­zu­bre­chen und der poli­ti­schen Fan­ta­sie auf die Sprün­ge zu hel­fen. Ich erfah­re: Es reicht nicht, klug zu sein und sich in der Welt aus­zu­ken­nen, um sich die­sem The­ma sach­ge­recht zuzu­wen­den. Ohne den dazu pas­sen­den emo­tio­na­len Antrieb, plap­pert man mei­stens nur das­je­ni­ge nach, was die Spat­zen von den Dächern pfeifen.

Bei Olaf Mül­ler ist das anders. Sei­ne Emo­tio­nen unter­lau­fen offen­bar das Übli­che, das zur­zeit als selbst­ver­ständ­lich gilt. Wird jemand ange­grif­fen, heißt es, so muss man ihm hel­fen. Ver­letzt jemand Moral und Völ­ker­recht, so muss er bestraft wer­den. Schließ­lich wur­de schon ein­mal der Feh­ler began­gen, eine Dik­ta­tur nicht recht­zei­tig zu stop­pen. Damals bei Hit­ler und durch die Appease­ment-Poli­tik. Es ist eben nicht mög­lich, am Grund­satz fest­zu­hal­ten, kei­ne Waf­fen in Kon­flikt­ge­bie­te zu lie­fern. Wor­an liegt es, dass jemand dar­an zweifelt?

Was mich angeht, so sind liegt es sicher an mei­nen Erin­ne­run­gen. Der Gedan­ke an Krieg gegen Russ­land führt immer Bil­der von Atom­pil­zen im Schlepp­tau. Auf den Titel­bil­dern von Illu­strier­ten waren sie häu­fig abge­bil­det, als ich jung war. Die Kuba-Kri­se habe ich als Schock erlebt. Ich hat­te mich gera­de ver­liebt und wuss­te über­haupt nicht, was ich davon hal­ten soll­te. Nichts pass­te zusam­men. Mein gan­zes Leben über tauch­ten die Atom­pil­ze in nächt­li­chen Träu­men auf. Fern am Hori­zont stie­gen sie hoch, und ich ahn­te im Halb­schlaf beklom­men, dass nun das Ende kom­men würde.

Daher ist Olaf Mül­ler für mich jemand, den ich ver­ste­he und der begrif­fen hat: Die Atom­waf­fen­fra­ge ist auch ein emo­tio­na­les Pro­blem. Ohne über­haupt etwas zu füh­len und ohne sich ins Ver­hält­nis zu sol­chen Emo­tio­nen gesetzt zu haben, wird nie­mand begrei­fen, wor­um es hier geht. Um was geht es? Es geht dar­um, Wege zu ent­decken, die aus dem Laby­rinth her­aus­füh­ren. Aus dem Laby­rinth der ato­ma­ren Bedro­hung, die seit dem 16. Juli 1945, der Explo­si­on der ersten Bom­be in einer Wüste New Mexi­cos, den Men­schen zu einem Wesen gemacht hat, das jeder­zeit sein eige­nes Schick­sal besie­geln kann, von jetzt auf gleich. Olaf Mül­ler hat dar­über nach­ge­dacht, und sei­ne Gedan­ken­gän­ge brin­gen Licht ins Dunkel.

Und noch eine ande­re Erin­ne­rung hin­dert mich, selbst­ver­ständ­lich zu fin­den, was so ver­brei­tet zum Ukrai­ne­krieg im Schwan­ge ist. Mei­nen Schü­lern und Stu­den­ten hat­te ich immer wie­der berich­tet, dass frü­her ein­mal, bei den Nazis vor allem, »Pazi­fis­mus« ein Schimpf­wort gewe­sen sei. Pazi­fi­sten, wie Carl von Ossietzky etwa, lan­de­ten im KZ. Dann las ich – kurz nach den Oster­mär­schen 2022 –, dass nun ein »Lum­pen-Pazi­fis­mus« sein Unwe­sen trei­be. Pazi­fi­sten hät­ten angeb­lich über­haupt nicht kapiert, was jetzt von­nö­ten sei. Was war da plötz­lich pas­siert? Jemand, den ich für einen über­zeug­ten Lin­ken gehal­ten hat­te und der frü­her Wehr­dienst­ver­wei­ge­rer war, wur­de ärger­lich, weil ich sein Ein­tre­ten für unbe­grenz­te Waf­fen­lie­fe­rung für wider­sprüch­lich hielt. »Bist du etwa ein Pazi­fist?« Ich wuss­te es nicht, aber deut­lich war mir, dass die Zei­ten­wen­de auch eine Wen­de der Gefüh­le war. Aber mir gelang es nicht, in den neu­en Kon­sens der Emp­fin­dun­gen ein­zu­schwin­gen. Wel­che Stim­mung den aktu­el­len Bel­li­zis­mus zu tra­gen scheint, kapie­re ich nicht. Auch nicht auf der gedank­li­chen Ebene.

Sehr gut tat mir daher die Lek­tü­re von Olaf Mül­lers Schrif­ten über den Pazi­fis­mus (Reclam, Stutt­gart 2022 und im Anhang zu Rus­sells Essay über den Pazi­fis­mus: Stutt­gart 2023). Ein Pazi­fist ist nach Mül­ler jemand, der lei­den­schaft­lich und kon­se­quent nach fried­li­chen Lösun­gen für Kon­flik­te sucht, auch dort, wo auf den ersten Blick eine sol­che Lösung unmög­lich zu sein scheint. Pazi­fis­mus ist nach Mül­ler durch­aus kei­ne absei­ti­ge Idee, etwa von Leu­ten, die nicht ein­mal ihre eige­nen Kin­der gegen Mör­der ver­tei­di­gen wür­den, auch wenn eine ent­si­cher­te Pisto­le griff­be­reit läge. Ein sol­cher Pazi­fis­mus ist nur für Hei­li­ge und für eine Welt, in der es nur Hei­li­ge gibt. Mül­ler schlägt einen »prag­ma­ti­schen Pazi­fis­mus« vor, und er fin­det dafür Bei­spie­le, Albert Ein­stein etwa oder Bert­rand Rus­sell, den gro­ßen bri­ti­schen Mathe­ma­ti­ker und Philosophen.

Ein prag­ma­ti­scher, an den Umstän­den ori­en­tier­ter Pazi­fis­mus lehnt nicht blind und rigo­ros jede Form der bewaff­ne­ten Ver­tei­di­gung ab. Aber er for­dert, dass die Kon­se­quen­zen einer mili­tä­ri­schen Opti­on sorg­samst mit jenen Fol­gen ver­gli­chen wer­den, die bei einem Ver­zicht auf ein sol­ches Ein­grei­fen zu erwar­ten sind. Der Pazi­fist hat immer die­se Waa­ge im Kopf: Wel­che mög­li­chen Übel sind schlim­mer, die des Waf­fen­gangs oder die­je­ni­gen einer Unter­las­sung von Gewalt­an­wen­dung? In wel­che Rich­tung neigt sich die Waa­ge? Mül­ler betont, dass Pazi­fi­sten lei­der immer viel zu spät gefragt wer­den, denn zumeist soll­te der Ver­such einer pazi­fi­sti­schen Lösung von Pro­ble­men bereits weit im Vor­feld eines mög­li­chen Krie­ges begon­nen werden.

Als Phi­lo­soph und Wis­sen­schafts­theo­re­ti­ker weiß Olaf Mül­ler natür­lich: Wir Men­schen durch­schau­en die Welt nur sehr unge­nü­gend. Unse­re »Wis­sens­schwä­che« ist beacht­lich, ganz beson­ders, was die Zukunft angeht. Mili­tä­ri­sches Geha­be, demon­stra­ti­ve Über­le­gen­heit hin­ter dem Lamet­ta der Uni­for­men ver­ber­gen, dass gera­de der Krieg ein undurch­schau­ba­res, hoch­gra­dig chao­ti­sches Gesche­hen ist. Wir wis­sen ein­fach nicht, was dabei her­aus­kommt. Die­se Schwä­che, kaum vor­her­sa­gen zu kön­nen, was wir mit unse­ren Inter­ven­tio­nen anrich­ten, über­spie­len wir gern durch Groß­manns­sucht. Mül­ler ver­wen­det das Wort »Hybris«, einen Begriff eher anti­ker Prä­gung, als noch bewusst war, dass über allem mensch­li­chen Tun und selbst über den Göt­tern das Schick­sal wal­tet, das vie­le der mensch­li­chen Anstren­gun­gen tra­gisch enden lässt.

Doch die zur­zeit herr­schen­de Ein­stel­lung scheint so etwas wie das Nega­tiv eines falsch ver­stan­de­nen Pazi­fis­mus zu sein. Mül­ler bezeich­net sie als »gesin­nungs­ethi­schen Ver­tei­di­gungs­bel­li­zis­mus«. Hier wird eben nicht mehr gefragt, wel­che Fol­gen die krie­ge­ri­sche Opti­on haben könn­te. Rigo­ros wird an Prin­zi­pi­en fest­ge­hal­ten, koste es, was es wol­le. Mül­ler ergän­zend könn­te ein histo­ri­sches Bei­spiel her­an­ge­zo­gen wer­den: Die »Poli­tik am Abgrund« wäh­rend der ersten Pha­se des Kal­ten Kriegs. Anti­kom­mu­ni­stisch bis in die Kno­chen ris­kier­te der US-Außen­mi­ni­ster John Foster Dul­les in den 1950er-Jah­ren hals­bre­che­risch die ato­ma­re Zer­stö­rung der Welt. »Wenn man Angst davor hat, bis an den Rand des Abgrunds zu gehen«, so for­mu­lier­te Dul­les, »ist man ver­lo­ren.« Was wäre das für ein ent­setz­li­cher Opfer­gang gewor­den, wäre hier etwas schief­ge­lau­fen. Wis­sen wir doch heu­te, dass jener Kom­mu­nis­mus, den Dul­les bekämpf­te, fast wie von allein ver­schwun­den ist. Der pazi­fi­sti­sche Rat hät­te lau­ten kön­nen: Nichts tun und ein­fach warten!

Dul­les ist zuzu­bil­li­gen, dass er ehr­lich war. Aus­drück­lich wies er dar­auf­hin, dass die Welt am Abgrund stand. Unse­re gegen­wär­ti­gen Bel­li­zi­sten dage­gen haben kei­ner­lei Ahnung, dass es jeder­zeit zur Kata­stro­phe kom­men kann. Viel­leicht fehlt ihnen Erin­ne­rung, viel­leicht das Wis­sen, viel­leicht die pas­sen­de Emo­ti­on. Frau Baer­bock war drei Jah­re alt, als Frie­dens­be­weg­te eine Men­schen­ket­te bil­de­ten, Anton Hof­rei­ter steck­te in der Puber­tät. Frau Strack-Zim­mer­mann scheint mir kaum über war­nen­de Emp­fin­dun­gen zu ver­fü­gen. Der Kanz­ler – wegen sei­nes Zögerns beschimpft – hat zu viel zu tun. Aus der Rei­he zu tan­zen, ist auch nicht ange­nehm. Allen fehlt es auf jeden Fall an Beschei­den­heit. Viel­leicht hof­fen sie, dass Biden die Sache irgend­wie steu­ern wird und wis­sen nicht, dass eigent­lich alle Krie­ge irgend­wann aus dem Ruder lau­fen. Der­weil lagern die Atom­spreng­köp­fe abge­schirmt und ruhig in ihren Silos und war­ten auf ihre Stun­de. Wie schrieb der Histo­ri­ker Golo Mann in Aus­ein­an­der­set­zung mit der Atom­waf­fen­fra­ge? »Die Erfah­rung, zumal unse­res Jahr­hun­derts, lehrt, dass Krie­ge nie­mals das sind, was man vor­her gedacht hat­te. Geplant wird wohl und geplant muss wer­den, aber die neue Wirk­lich­keit zer­reißt die­se Plä­ne. Man ist frei, Krieg zu machen oder nicht. Macht man ihn, dann ist man nicht mehr frei. Dann wird er, was er will, und stellt alle, die ihm die­nen, unter ein neu wer­den­des, vor­her nicht zu fas­sen­des Gesetz. (…) Wie unbe­lehr­bar muss der sein, der noch glaubt, man könn­te den Krieg, wenn er ein­mal da ist, beherr­schen, ihm sei­ne Gren­zen belie­big vor­schrei­ben!« Pazi­fis­mus ist die bes­se­re Option.