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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Bloß ein Mensch sein

»Ich will eines Tages bloß ein Mensch sein«, sagt Maries Schwe­ster. Aber: Wie wird man bloß ein Mensch? Und viel wich­ti­ger: Wie erzählt man, wie man ein sol­cher wird? In Sabi­ne Peters neue­stem Roman kann der Leser mit­er­le­ben, wie die aus den vor­he­ri­gen Roma­nen gut bekann­te Marie zusam­men mit ihren drei Schwe­stern unter den gestren­gen Blicken der gläu­bi­gen Eltern und einer illu­stren Ver­wandt­schaft vom Klein­kind zur Frau heranwächst.

Fried­rich Engels spricht in sei­ner Schrift von der »Mensch­wer­dung des Affen« im Lau­fe der Geschich­te, und in der Regel erfah­ren auch wir die­sen Pro­zess am eige­nen Leib. Am Anfang sind wir bedürf­ti­ge und wehr­lo­se Wesen, die auf Gedeih und Ver­derb auf ihre Umge­bung ange­wie­sen sind. Vie­le Gefah­ren dro­hen, zum Bei­spiel erhält Maries Schwe­ster als Reak­ti­on auf ihren oben­ste­hen­den, unbe­dacht geäu­ßer­ten Satz eine Back­pfei­fe ver­passt. Aus die­sen Grün­den erfin­den die Schwe­stern aus christ­li­chem Haus­halt ziem­lich unchrist­li­che Ritua­le, um in die­ser gefähr­li­chen Welt zu überleben.

Das erste Kapi­tel spielt in der Bade­wan­ne, die sich plötz­lich in ein Boot ver­wan­delt, in dem die Mäd­chen einen alten See­manns­brauch pfle­gen. Sie pin­keln wie Matro­sen ins Was­ser, um dem Fuß­pilz vor­zu­beu­gen. Das Boot ist ein wich­ti­ges sprach­li­ches Bild in der lite­ra­ri­schen Welt der Sabi­ne Peters. Das Was­ser ist das seit der chi­ne­si­schen und grie­chi­schen Phi­lo­so­phie bekann­te Ele­ment, aus dem das Leben kommt. Den Chri­sten dient die Tau­fe der Sün­den­rei­ni­gung, wes­halb die Schwe­stern sie in der Bade­wan­ne mit Inbrunst fei­ern. Dabei drücken sie sich gegen­sei­tig unters Schaum­was­ser, bis ihnen die Luft und der Atem Got­tes aus­ge­hen, um dann wie­der mit Geschrei und zu neu­em Leben aufzutauchen.

Indem das Was­ser in der Wan­ne und auf hoher See ein Ele­ment der Gefahr dar­stellt, wird das Boot zur Alle­go­rie für das Über­le­ben der Men­schen­kin­der in gefahr­vol­len Zeiten.

Das zwei­te Kapi­tel han­delt von der zwei­ten wich­ti­gen Alle­go­rie, die im Gegen­satz zum Was­ser steht: die Wüste. Das Vor­schul­kind Marie lässt eine Grup­pe von Mira­bel­len­ker­nen und Spiel­zeug­au­tos durch die Sand­ki­ste wan­dern, wir den­ken an die alt­te­sta­men­ta­ri­sche Wan­de­rung der Israe­li­ten durch die Wüste nach der Flucht aus Ägyp­ten; hier wer­den die Spiel­zeu­ge unter Maries Hän­den zu einem »gemein­sa­men Zug«, der im furio­sen Fina­le des Romans wie­der auf­ge­grif­fen wird. Marie wird dann grau sein, die Wan­de­rung dau­er­te schließ­lich bibli­sche 40 Jah­re. In die­ser Wan­der­grup­pe haben alle wich­ti­gen leben­den und auch nicht mehr leben­den Per­so­nen aus Maries Umkreis ihren phan­tas­ma­go­rischen Auf­tritt und bil­den den gemein­sa­men Zug durch die Wüste des Lebens.

»Alles war in Ver­wand­lung begrif­fen«, heißt ein wei­te­rer sinn­auf­schlie­ßen­der Satz des Romans. Vor Maries Ver­wand­lungs­fan­ta­sie ist nichts sicher. Eben­so wie aus der Obla­te das Fleisch des Herrn wird, wer­den aus Frucht­ker­nen, Rau­pen und Amei­sen Men­schen und umge­kehrt. Auch das Böse gibt es schon unter der Son­ne, so wird aus dem Mopp im Besen­schrank ein Hei­den­mensch mit rei­ßen­dem Schna­bel. Dies alles sind Vor­gän­ge, die wir ken­nen und durch­ge­macht haben. Hal­ten wir fest: Auch unse­re Spin­ne­rei­en aus Kin­der­zei­ten haben das Zeug, lite­ra­ri­sche Alle­go­rien zu wer­den, im Grun­de sind wir alle Erzähler.

Auf­fäl­lig ist der zehn­ma­li­ge Auf­tritt der Amei­se, die Marie vor dem Putz­fim­mel der Oma ret­tet und in die sie sich ver­wan­delt, um unbe­merkt über den Schreib­tisch des Vaters zu krab­beln. Die Amei­se als Freund auf­zu­fas­sen, erin­nert an ein Gedicht von Chri­sti­an Geiss­ler aus dem Band »Klopf­zei­chen« von 1998: »sie trägt am kopf eine zan­ge. /​ die ist eine schön­heit.« Die drei hier genann­ten Alle­go­rien (Boot, Wüste, Amei­se) hat sich die Erzäh­le­rin mit und gegen die kul­tu­rel­le Tra­di­ti­on ange­eig­net, das heißt, sie hat sie sich zu eigen gemacht und dann von außen in die Roman­hand­lung hin­ein­ge­tra­gen. Aller­dings ist bei der Wüsten­wan­de­rung eine Beson­der­heit fest­zu­stel­len. Zu den Beten­den mit den gefal­te­ten Hän­den beim Got­tes­dienst fällt der Erzäh­le­rin ein, »dass man sie leicht hät­te fes­seln kön­nen«. Marie befreit sich nun aus der Fes­se­lung durch die katho­li­sche Erzie­hung, indem sie die bibli­sche Alle­go­rie Wüsten­wan­de­rung, die die Unter­ord­nung unter eine gött­li­che Auto­ri­tät for­dert, ummünzt in eine Alle­go­rie der Ent­wick­lung zur Selbst­stän­dig­keit. So führt die über­schie­ßen­de alle­go­ri­sche Fan­ta­sie zur Wider­spen­stig­keit, gar Wider­stän­dig­keit gegen eine als bedrückend emp­fun­de­ne Umwelt. Wir sehen, durch Aneig­nung kön­nen Alle­go­rien die Fron­ten wech­seln und zu Werk­zeu­gen der Befrei­ung werden.

Laut Fried­rich Engels ist es die Arbeit, ver­stan­den als Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Mensch und Natur, die bei der Mensch­wer­dung die ent­schei­den­de Rol­le spielt. Dabei wird von den natür­li­chen und gesell­schaft­li­chen Bedin­gun­gen aus­ge­gan­gen, die durch den Arbeits­pro­zess in ideel­le und mate­ri­el­le Pro­duk­te ver­wan­delt wer­den. Bei die­sem Pro­zess ver­än­dern sich nicht nur Natur und Gesell­schaft, son­dern auch der Mensch. Über­tra­gen auf den Roman: Die Erzäh­le­rin geht von den vor­ge­fun­de­nen Bedin­gun­gen aus, wie der bil­dungs­na­hen Klein­fa­mi­lie, der auto­ri­tä­ren Erzie­hung, der Reli­gio­si­tät, den gesell­schaft­li­chen Vor­be­hal­ten gegen­über Mäd­chen, kurz: von den ideo­lo­gi­schen Ver­hält­nis­sen der Sech­zi­ger­jah­re in der Bun­des­re­pu­blik. Wäh­rend die her­kömm­li­che auto­bio­gra­fisch ori­en­tier­te Lite­ra­tur häu­fig ein iso­lier­tes Ich in den Mit­tel­punkt stellt, das sich gegen­über einer frem­den Welt allein auf sich gestellt sieht, wird in Sabi­ne Peters‘ Roman Maries Lebens­weg sowohl aus ihrer eige­nen Sicht als auch von außen aus der Retro­spek­ti­ve der Erzäh­le­rin erzählt. Zwi­schen Marie und Erzäh­le­rin ent­spinnt sich ein ste­ti­ger Aus­tausch, eine lite­ra­ri­sche Refle­xi­on, die sich auch auf die ande­ren Per­so­nen des gemein­sa­men Zuges aus­wei­tet, so dass wir von einer Wir-Erzäh­le­rin spre­chen kön­nen. Oder genau­er: von einer die Haupt­per­spek­ti­ve der Marie ein­neh­men­de Kol­lek­tiv-Erzäh­le­rin. In einer sol­chen Kom­bi­na­ti­on von Außen- und Innen­sicht wird Maries Eman­zi­pa­ti­ons­pro­zess dar­stell­bar. Mit die­ser Erzähl­wei­se macht die Autorin einen ent­schei­den­den Schritt über die sub­jek­ti­vi­sti­schen Ein­sei­tig­kei­ten der auto­bio­gra­fi­schen Lite­ra­tur hinaus.

Die Wir-Erzäh­le­rin bin­det in ihren Erzähl­fluss am Ende auch den Leser ein: Die Gren­ze zwi­schen Erzäh­ler und Leser beginnt sich zu ver­schie­ben und auf­zu­lö­sen. Aller­dings fal­len de m Leser die Lese­früch­te nicht ein­fach zu, er muss sie sich im Schwei­ße sei­nes Ange­sichts, aber auch mit viel Ver­gnü­gen selbst erar­bei­ten. Sabi­ne Peters‘ Roman »Ein wah­rer Apfel leuch­te­te am Him­mels­zelt« lädt uns dazu ein, unse­ren eige­nen Zug der Wan­de­rung durch die Wüste zusam­men­zu­stel­len und gleich damit anzu­fan­gen, bloß ein Mensch zu werden.

Sabi­ne Peters: Ein wah­rer Apfel leuch­te­te am Him­mels­zelt. Roman. Göt­tin­gen (Wall­stein Ver­lag) 2020, 184 S., 20 €.