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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Teenage Wasteland

Es sind die­se zwei Wör­ter (viel­leicht zu über­set­zen mit »Teen­ager-Ödland«) aus einem berühm­ten Song (»Baba O’ Riley«) der Beat­ka­pel­le »The Who«, die einem per­ma­nent durch den Kopf schwir­ren beim Lesen des Buches »Git­ter­see« von Char­lot­te Gneuß. Die Ent­ste­hungs­zeit des Rock­songs und die haupt­säch­lich erzähl­te Zeit im Roman pas­sen etwa zusam­men. Es ist ein ein­zi­ges Ödland, das hier dar­ge­stellt wird. Auch wenn Git­ter­see ein Stadt­vier­tel von Dres­den ist. Auch wenn es so etwas wie Auf­müp­fig­keit in den Sieb­zi­ger­jah­ren der DDR zu regi­strie­ren gilt.

Es gibt eine »Män­gel­li­ste« und kri­ti­sche Rufe zu die­sem Buch: Das sei alles nicht selbst erlebt, da sei man­ches unge­nau dar­ge­stellt, eini­ges schlicht­weg falsch. Stimmt lei­der. Eine nicht in der DDR auf­ge­wach­se­ne und sozia­li­sier­te Autorin kön­ne nicht über jenes Land und das Leben dar­in schrei­ben, wird dekre­tiert. Sol­ches ist zu bestrei­ten. Wo blie­be die Lite­ra­tur, wenn der­ar­ti­ge Bedin­gun­gen maß­ge­bend wären? Dann dürf­te die Zahl der Mit­tel­al­ter­ro­ma­ne rapi­de sinken …

Das Pro­blem die­ses Romans ist, dass er in man­chen Pas­sa­gen schlecht geschrie­ben und vol­ler sprach­li­cher Unzu­läng­lich­kei­ten ist. Schlecht geschrie­ben nen­ne ich die den Text unnö­tig auf­blä­hen­den Traum­schil­de­run­gen – wie auch die durch kei­ner­lei Iro­nie ver­sal­ze­ne Klein­mäd­chen­per­spek­ti­ve man­cher Pas­sa­gen mit dem vie­len »süß«, »alles gut« und den Betrach­tun­gen über »Hös­chen«, auf­ge­häng­te »Schlüp­pis« und den Schil­de­run­gen der Selbst­be­frie­di­gungs­ak­tio­nen der Prot­ago­ni­stin Karin. Und soll­ten alle die am Ende mit Dank bedach­ten Per­so­nen und Insti­tu­tio­nen nicht die Sprach- und son­sti­gen Feh­ler (die nun nichts mit Feh­lern in der »DDR-Dar­stel­lung« zu tun haben) bemerkt haben? Die »rote Abend­däm­me­rung der Win­ter­son­ne«, ein Ton, der die Prot­ago­ni­stin »erschrak«, Tau­ben, die ein Sie­ger­denk­mal »ver­kacken«? Und dies ist nur eine klei­ne Aus­wahl, die aber über­trof­fen wird von dem viel­leicht für wer­be­wirk­sam gehal­te­nen Satz auf dem Rücken­deckel, dass das Herz der Autorin der ein­sa­me Jäger sei.

Jedoch: Die­ser Roman hat auch sei­ne Stär­ken. Dazu gehört unzwei­fel­haft die Ödland-Schil­de­rung der DDR in den Sieb­zi­ger­jah­ren: Das kar­ge Stadt­vier­tel, die fade Schu­le, die kaput­ten Fami­li­en, das Schnaps­t­rin­ken, die lee­ren Ritua­le, in sum­ma die Per­spek­tiv­lo­sig­keit eines gan­zen Lan­des, wo nur die Flucht in den Westen oder ein Umzug nach Ber­lin so etwas wie Erlö­sung zu ver­spre­chen schei­nen – und nicht zuletzt die Schil­de­rung des Sicher­heits­be­dürf­nis­ses jenes bereits ziem­lich ange­schla­gen wir­ken­den Lan­des. Denn die sech­zehn­jäh­ri­ge Karin gerät ins Visier und in die Fän­ge des Staats­si­cher­heits­dien­stes. Sie lebt in einer äußer­lich intakt wir­ken­den Fami­lie, mit Oma, Vater, Mut­ter und klei­ner Schwe­ster, deren Hüte­rin sie ist. Der Vater aber ist ein erfolg­lo­ser Ško­da-Repa­ra­teur und Trin­ker, die Mut­ter ist auf einer Art Selbst­fin­dungs­trip (sie ver­lässt spä­ter die Fami­lie), an der Figur der Oma hat Char­lot­te Gneuß treff­lich das unter­schwel­lig wei­ter wabern­de und auch in der DDR nie offen auf­ge­ar­bei­te­te Nazi­tum vorgeführt.

Ein Teen­ager von 16, den bal­di­gen Schul­ab­schluss vor Augen, muss ver­liebt sein. Und das ist Karin. Sie liebt Paul, den Berg­stei­ger, den Künst­ler ohne Stu­di­en­platz­zu­sa­ge und Schacht­ar­bei­ter bei der Wis­mut. Er bricht eines Tages zu einem Aus­flug auf, von dem er nicht zurück­kommt, sprich, er ist »abge­hau­en«, »ist in den Westen gemacht«. Die Fol­ge für Karin ist die Sta­si vor der Tür.

Der Klap­pen­text des Buches behaup­tet: »Karins fra­gi­le Welt gerät aus den Fugen.« Dies ist zu stark trom­pe­tet. Denn es ist ja gera­de ein Haupt­ge­winn der Lek­tü­re, dass man erlebt, wie die unzwei­fel­haft brü­chi­ge Welt der Karin, ihrer Freun­de und Freun­din­nen, ihrer Fami­lie ganz gut vom »Sicher­heits­kitt« gehal­ten wird. Denn solan­ge sich Karin mit dem Sta­si-Mann Wick­walz trifft, bleibt, bis auf die unauf­halt­ba­re Tren­nung ihrer Eltern, zunächst für sie äußer­lich alles im Lot. Wick­walz ist von allen Figu­ren des Buches am besten getrof­fen: Freund­lich, väter­lich, ver­ständ­nis­voll – und doch Ver­füh­rer, Aus­hor­cher, Intri­gant, gna­den­lo­ser Ver­fol­ger jeg­li­chen Fein­des des Sozia­lis­mus. Und wenn, gewiss zu Recht, behaup­tet wird, Char­lot­te Gneuß habe die DDR nicht über­all rich­tig dar­ge­stellt, so lebt sie in die­sem Wick­walz doch wie­der auf. Wie Karin mit ihm ver­fährt, als sie sich der gren­zen­lo­sen Per­fi­die, Tücke und Kalt­her­zig­keit des Man­nes ganz bewusst­wird, das mag eine lite­ra­ri­sche Lösung sein. Mit dem Leben in jenem Land DDR, des­sen Welt eben nicht »ein­zu­rich­ten« war, wenn man den Gedan­ken der aus den Fugen gera­te­nen Welt zu Ende denkt, hat das Ende Wick­walz’ und des Roma­nes wohl weni­ger zu tun. Und dies auch, wenn der Klap­pen­text die Fra­ge stellt, ob Unschuld mög­lich sei. Wie soll­te die aus­se­hen in einer Welt wie der geschil­der­ten? Im Ödland Git­ter­see. Im gan­zen Ödland?

Char­lot­te Gneuß, Git­ter­see. Roman. S. Fischer Ver­lag 2023, 231 S., 22 €.