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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Hundert starke Jahre

Im Novem­ber 2022 wur­de mei­ne Mut­ter Bar­ba­ra 100 Jah­re alt, kurz dar­auf erlitt sie einen Schlag­an­fall, den sie, wahr­schein­lich lebens­ret­tend, selbst dia­gno­sti­zier­te: Sani­tä­ter haben nach ihrem Not­ruf Sturz­ver­let­zun­gen behan­delt, die Ärz­te sahen kei­ne Not­wen­dig­keit einer sta­tio­nä­ren Auf­nah­me, bis sie wider­sprach: »Sie kön­nen mich nicht nach Hau­se schicken, ich habe einen Schlag­an­fall. » Mit Blau­licht für drei Wochen in die näch­ste Uni-Kli­nik, noch mal drei Wochen Reha, dann Rück­kehr in ihre Woh­nung im 3. Stock eines Miets­hau­ses ohne Fahr­stuhl. Die Trep­pen hin­auf­zu­stei­gen, wird immer schwie­ri­ger, Schwin­del pei­nigt sie. Ihr Leben ist müh­se­li­ger geworden.

Auf die nahe­lie­gen­de Fra­ge, was an die­ser pri­va­ten Epi­so­de von all­ge­mei­ne­rem Inter­es­se sein könn­te, fal­len mir als Ant­wor­ten zwei Sät­ze ein, die mir in Stu­di­um und Berufs­le­ben treue Beglei­ter gewor­den sind. Da ist zunächst der vom »auf­rech­ten Gang«, wie Ernst Bloch die Bewe­gungs­form nennt, die der Mensch für sich errin­gen muss, um auch für ande­re da sein zu kön­nen. Als Bar­ba­ra, die sich nur noch unsi­cher ohne ihren Rol­la­tor bewe­gen kann, am 9. März 2023 in einer bewe­gen­den Fei­er­stun­de die Ehren­bür­ger­schaft der Stadt Wit­ten erhält, ver­traut sie sich selbst und nimmt, auf­recht gehend, die Gol­de­ne Ehren­na­del in Emp­fang: Für ihr sozia­les Enga­ge­ment bei der Grün­dung des Wit­te­ner Frau­en­hau­ses, in dem sie dann drei Jahr­zehn­te als Senio­rin eines Teams aus viel jün­ge­ren Frau­en mit­ar­bei­te­te. Im Rah­men der Fei­er beein­drucken nicht nur die wert­schät­zen­den Wor­te des Bür­ger­mei­sters, son­dern Auf­merk­sam­keit, Inter­es­se und Neu­gier, die vie­le Anwe­sen­de ihr schen­ken, nicht zuletzt jun­ge Frau­en, die Ein­zel­hei­ten über ihr Leben hören wollen.

Bar­ba­ra erzählt ger­ne, aber viel Zeit blieb an jenem Abend nicht. In der Ehrung für sie, kul­mi­niert ein Lebens­lauf, der typisch für jene Frau­en-Gene­ra­ti­on ist, die einen Welt­krieg und einen kal­ten Krieg durch­le­ben muss­te. Ihr Leben steht bei­spiel­haft für vie­le Frau­en, die Eman­zi­pa­ti­on und Gleich­be­rech­ti­gung erkämpft haben, gegen eine teils feind­li­che, teils sie benach­tei­li­gen­de gesell­schafts-poli­ti­sche Dyna­mik. »Das war doch alles selbst­ver­ständ­lich«, höre ich immer wie­der von ihr, aber ich weiß: Nein, das war es nicht, son­dern ein Befrei­ungs­kampf gegen all das, was läh­mend nach wie vor auf vie­len Frau­en lastet, ohne lau­tes Getö­se, son­dern, weil von den Ver­hält­nis­sen gefor­dert, nahe­zu selbst­ver­ständ­lich. Die Bot­schaft ihrer Ehren­bür­ge­rin­nen-Ehrung könn­te lau­ten: Die Revo­lu­ti­on kommt auf lei­sen Soh­len, wenn wir sie wol­len – aber sie muss in uns wach­sen, bis wir sie, als Ant­wort auf manch­mal hoff­nungs­ar­me Umstän­de, auf­recht gehend machen können.

Die Welt­wirt­schafts­kri­se ver­arm­te die Eltern, die Gräu­el des Nazi­re­gimes wur­den ihr erst nach dem Ende des 2. Welt­kriegs bewusst, im Bund Deut­scher Mäd­chen (BDM) fand sie Freun­din­nen und Freu­de, Ver­werf­li­ches drang in ihr Bewusst­sein nicht vor. Ihren Mann, mei­nen Vater, lern­te sie 1941 ken­nen, als er, an der Ost­front im Stu­ka-Ein­satz, auf Hei­mat­ur­laub an einem von der Wehr­macht organ­sier­ten Tref­fen von Sol­da­ten mit jun­gen Frau­en teil­nahm. Ich wur­de als erstes Kind im Janu­ar 1943 in Ber­lin gebo­ren, als mein Vater wie­der Hei­mat­ur­laub hat­te, ent­stand mein Bru­der, der im Novem­ber 1944, an ihrem Geburts­tag, gebo­ren wur­de. Frau­en und Kin­der waren Anfang 1944 aus Ber­lin eva­ku­iert wor­den, sie zu ihrer Mut­ter, die in Göh­ren auf Rügen eine Feri­en­pen­si­on betrieb. Unser Vater kam 1946 aus der rus­si­schen Gefan­gen­schaft, als Eisen­bah­ner setz­te die Reichs­bahn ihn zunächst beim »Rasen­den Roland« ein, der Klein­bahn von Göh­ren nach Ber­gen, dann in Lau­ter­bach, dem dama­li­gen Ver­sor­gungs­ha­fen für die Insel, wo im Febru­ar 1947 als drit­tes Kind mei­ne Schwe­ster zur Welt kam.

»Das Leben bestand in den letz­ten Kriegs­mo­na­ten, mehr noch nach dem Krieg, vor allem dar­in, für euer Über­le­ben zu sor­gen, es gab ja nichts.« Zum Ver­schnau­fen blieb kei­ne Zeit, die mei­sten Frau­en muss­ten in den Nach­kriegs­jah­ren »ihren Mann ste­hen«. Die Drei­fach­be­la­stung – Kin­der und Fami­lie, Haus­halt, Berufs­tä­tig­keit unter »einen Hut« brin­gen – ließ dem lebens­rhyth­mi­schen Über­gang vom Jugend- ins Erwach­se­nen­le­ben kei­ne Minu­te des Aus­pro­bie­rens. Wur­zeln schla­gen war nicht: Der Eisen­bahn­be­am­te wur­de ver­setzt, zunächst nach Toitz-Rust­ow, einer Drei-Häu­ser-Bahn­sta­ti­on, dann nach Elmen­horst bei Grim­men. Umzü­ge, Neu­an­fän­ge, beeng­te Wohn­ver­hält­nis­se ver­lang­ten, prak­tisch und zugleich fan­ta­sie­vol­le Modi des Über­le­bens zu fin­den, die den Kin­dern oft nicht gerecht wur­den, ihnen aber eine abhär­ten­de Selb­stän­dig­keit abverlangten.

Als der Eisen­bah­ner einen töd­li­chen Unfall auf einem Bahn­hof, für den er zustän­dig war, ver­ant­wor­ten soll­te, löste der Pflicht­an­walt mit sei­ner Ver­mu­tung, dass eini­ge Jah­re Baut­zen abseh­bar sei­en, eine Kon­flikt­dy­na­mik aus, die die noch fra­gi­le jun­ge Fami­lie fast zer­ris­sen hät­te: Bar­ba­ra war nicht bereit, mit ihren drei Kin­dern jah­re­lang allein zu blei­ben, sie setz­te die Flucht in den Westen durch, der ihr Ehe­mann sich wider­stre­bend beug­te. Sie trans­por­tier­te auf meh­re­ren Rei­sen Haus­halts­uten­si­li­en und Klei­dungs­stücke nach West­ber­lin zu Ver­wand­ten, er plan­te die Flucht­de­tails. Bei Nacht und Nebel – wört­lich zu ver­ste­hen – gelang am 12. Okto­ber 1958 die Rei­se von Elmen­horst nach West­ber­lin über Mag­de­burg und Babels­berg, vor­läu­fi­ge End­sta­ti­on das Flücht­lings­la­ger in Berlin-Marienfelde.

Das sich anschlie­ßen­de Lager in Lübeck ver­ließ Wal­ter, als er, ver­mit­telt durch einen Ver­wand­ten, eine Stel­le beim Guss­stahl­werk in Wit­ten bekam, als Hei­zer auf einer Lok der Werk­bahn; die Bun­des­bahn zeig­te an Kol­le­gen aus dem Osten kein Inter­es­se. Kurz vor Weih­nach­ten folg­te die Rest­fa­mi­lie, in eine Zwei-Zim­mer-Woh­nung außer­halb von Wit­ten, emp­fan­gen von Sät­zen wie »haut ab in den Osten, wo ihr her­ge­kom­men seid«. Nach­dem 1962 das Opel­werk in Bochum eröff­net hat­te, wech­sel­te Wal­ter ans Fließ­band, des Gel­des wegen. Nach Fei­er­abend mach­te er Fern­lehr­gän­ge zur Ver­wal­tungs­kraft, schließ­lich bekam er, der Büro­mensch, eine Stel­le bei der Stadt­ver­wal­tung Wit­ten, den­noch: Beruf­lich im dop­pel­ten Sin­ne aus der Bahn gewor­fen, begann eine Depres­sio­nen ihn wie ein schlei­chen­des Gift zu zer­fres­sen. Den Ruck­sack vol­ler Sor­gen, den Bar­ba­ra her­um­schlepp­te, vor allem ihre Sor­ge um die Zukunft der drei Kin­der, mach­te die um ihren Mann nicht leichter.

Der Umzug in eine Woh­nung im Stadt­zen­trum von Wit­ten erwies sich als Glücks­fall für Bar­ba­ra und letzt­lich für die gan­ze Fami­lie: Sie hat­te einen Job als Sprech­stun­den­hil­fe bei einem anthro­po­so­phi­schen Arzt gefun­den, der sei­ne neue Pra­xis in eben die­sem Haus bezog. Die für sie kom­for­ta­blen Arbeits­be­din­gun­gen blie­ben fami­li­är nicht span­nungs­frei, denn sie wur­de »die See­le« der Pra­xis, ver­bun­den mit ent­grenz­ten Arbeits­zei­ten, die zu häu­fi­gen Kon­flik­ten zwi­schen den Ehe­leu­ten führ­ten. Hin­zu kamen finan­zi­el­le Eng­päs­se, obwohl bei­de vol­le Jobs hat­ten, denn drei Kin­der auf dem Gym­na­si­um ver­schlan­gen einen gro­ßen Teil der Ein­kom­men. Ein­wän­den von außen, die Kin­der soll­ten doch bes­ser etwas Ver­nünf­ti­ges ler­nen und Geld ver­die­nen, erteil­ten bei­de eine – kei­nes­wegs kon­flikt­freie – Absage.

Bei­de Eltern schu­fen die Grund­la­gen für das Fami­li­en­le­ben, doch ohne Bar­ba­ras uner­müd­li­chen Ein­satz, ohne ihr so kon­se­quen­tes wie fin­di­ges finan­zi­el­les Manage­ment und ohne ihre prag­ma­ti­sche Zuver­sicht in schwie­ri­gen Situa­tio­nen, wäre vie­les schwe­rer für uns alle gewor­den. Sie ging unbe­irrt auf­recht, und wenn sie sich unter zu vie­len Lasten beu­gen muss­te, mobi­li­sier­te sie irgend­wo­her Kräf­te, um das Gleich­ge­wicht nicht zu ver­lie­ren. Nach dem Aus­zug der Kin­der aus dem elter­li­chen Haus­halt blieb ihre Lage nur für kur­ze Zeit ent­spannt, bei Wal­ter wur­de weni­ge Wochen nach Ein­tritt ins Ren­ten­al­ter 1983 eine Krebs­er­kran­kung dia­gno­sti­ziert, es folg­te das übli­che the­ra­peu­ti­sche Pro­ze­de­re mit Kran­ken­haus­auf­ent­hal­ten, Reha, erheb­li­chen Ein­schrän­kun­gen der Lebens­qua­li­tät, die er, ohne­hin oft schwer­mü­tig, kaum ver­kraf­te­te, bis er, auf den Tag genau drei­hun­dert Jah­re nach der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on, starb.

Nein, die­ses Datum hat kei­ner­lei Bezug zum Leben mei­nes Vaters, den­noch regt es zum Nach­den­ken an. Sein Leben, wie das sei­ner Ehe­frau, bestimm­ten zwar kei­ne Ade­li­gen, er und sie waren kei­ne Leib­ei­ge­nen, aber sie gehör­ten zur Mas­se der Men­schen, die für Pro­fit und Reich­tum – und die Krie­ge – ande­rer ein beschränk­tes, wenn nicht arm­se­li­ges Dasein fri­sten und, wenn sie nicht mehr benö­tigt wer­den und trotz allem ein wenig Glück haben, mit einer beschei­de­nen Ren­te noch ein paar Jah­re, mehr oder weni­ger durch Krank­hei­ten gezeich­net, am Ran­de des Wohl­stands und der Über­fül­le exi­stie­ren dür­fen. Es sei denn, sie schaf­fen es irgend­wie, sich die­sem unwür­di­gen Rol­len­mu­ster, das für sie in der kapi­ta­li­sti­schen Dyna­mik vor­ge­se­hen ist, nicht zu unterwerfen.

Bar­ba­ra begehr­te auf, unauf­ge­regt, aber mutig. Sie ent­schloss sich, noch vor dem Tod ihres Ehe­man­nes, an der Uni Dort­mund ein Senio­rIn­nen­stu­di­um zu absol­vie­ren, das sie mit einer Examens­ar­beit über die star­ken Frau­en in der Fami­li­en­ge­schich­te abschloss. Sie ent­deck­te das Fahr­rad­fah­ren für sich als sport­li­che Her­aus­for­de­rung, ein­schließ­lich all­jähr­li­cher Mal­lor­ca-Tou­ren, und wur­de zwei­mal vom ADFC zur Rad­fah­re­rin des Jah­res gekürt, als sie noch in hohem Alter auf dem Fahr­rad unter­wegs war. Und schließ­lich half sie, wie erwähnt, das Frau­en­haus auf­zu­bau­en und zu betrei­ben. So gelang es ihr, als im Lau­fe der Jahr­zehn­te Weg­ge­fähr­ten nach und nach weg­star­ben, aktiv zu blei­ben und durch die Kon­tak­te zu Jün­ge­ren das Gespenst der Ein­sam­keit zu ver­trei­ben. Kör­per­li­che, gei­sti­ge und see­li­sche Beweg­lich­keit konn­ten das Älter­wer­den zwar nicht ver­hin­dern, aber ihm sei­nen oft­mals läh­men­den Schrecken nehmen.

Mei­ne zwei­te Ant­wort auf die Fra­ge, was das All­ge­mei­ne an die­ser beson­de­ren Erzäh­lung sein könn­te, lei­he ich von Ador­no. Ana­ly­tisch gese­hen ist sei­nem Bon­mot, »es gibt kein gutes Leben im schlech­ten«, bei­zu­pflich­ten, aber es ver­deckt eine all­tags­na­he wider­stän­di­ge Dia­lek­tik. In den letz­ten Kriegs- und den ersten Nach­kriegs­jah­ren rang der Kampf um das Über­le­ben – nicht zuletzt der Kin­der – dem so umfas­send schlech­ten einen klei­nen Rest gutes Leben ab, bei Bar­ba­ra wie bei vie­len ande­ren Frau­en. Das inten­si­ve Dorf­le­ben in Elmen­horst in der DDR brach­te viel Freu­de in den All­tag, Schu­le und Leh­re­rIn­nen wur­den zum sozia­len und kul­tu­rel­len Zen­trum, vie­le Men­schen waren erfüllt von der Hoff­nung auf, man­che waren begei­stert vom Auf­bruch in eine sozia­li­sti­sche Gesell­schaft. Bar­ba­ra hat­te ihre Beden­ken, dass sie wirk­lich wer­den könn­te – und doch trans­por­tiert sie bis heu­te mit ihrem Sinn für Gerech­tig­keit und ihrer Empa­thie für ande­re Men­schen eine Ahnung von dem, was eine neue Gesell­schaft sein könn­te: Wie soll das schlech­te Leben über­wun­den wer­den, wenn nicht das gute aus­pro­biert wird, als geleb­te Alter­na­ti­ve zum Sog des gesell­schaft­li­chen Sta­tus quo, als Selbst­be­haup­tung gegen patri­ar­cha­le Bevor­mun­dung – mein Vater: Nein, Du machst kei­nen Füh­rer­schein! Aber sie hat ihn gemacht –, als Mut zur eige­nen Wei­ter­ent­wick­lung und zum Ein­griff in men­schen­feind­li­che Ver­hält­nis­se, um sie ein wenig men­schen­freund­li­cher zu gestal­ten? Die Bot­schaft die­ses lan­gen Lebens lau­tet: Respekt­voll ande­ren Men­schen gegen­über sein, sich für ihr wür­de­vol­les Leben ein­set­zen, Gewalt gegen sie ver­hin­dern und ihnen Mut machen – was sonst könn­te ein gutes Leben sein, das im schlech­ten kei­men muss?