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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Patriotismus

In Zei­ten des Kriegs hat der Patrio­tis­mus Kon­junk­tur. Er ist plötz­lich popu­lär und herrscht auf allen Sei­ten aller Fron­ten, tritt aku­stisch und visu­ell mit Hym­nen und Fah­nen in Erschei­nung und stellt für die Hym­nen­sän­ger und Fah­nen­schwin­ger wohl ein klei­nes Ersatz­glück dar, das das durch den Krieg ver­ur­sach­te Leid kom­pen­sie­ren hel­fen soll. Unter dem Eti­kett »Soli­da­ri­tät mit den Opfern« kann sich sogar ein Patrio­tis­mus mit einem ande­ren iden­ti­fi­zie­ren und sich mit des­sen Fah­nen und Hym­nen aus­stat­ten. Vie­le Deut­sche kön­nen jetzt »Sla­wa Ukrai­ne« sagen – oder skandieren.

Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem ver­meint­lich »eige­nen« Volk, mit der Nati­on und deren Geschich­te ist das grund­le­gen­de Muster eines jeden Patrio­tis­mus. Nun sind Volk und Nati­on aber nur Fik­tio­nen, Ima­gi­na­tio­nen; denn wor­in ein Volk und eine Nati­on bestehen sol­len, was das rele­van­te Wesens­merk­mal wäre, das anzu­ge­ben, ist nicht mög­lich. Das »Volk« ist nicht beschreib­bar durch das Ter­ri­to­ri­um, auf dem es lebt, denn es leben auch ande­re, nicht dem Volk zuge­hö­ri­ge Men­schen dort; es ist auch nicht die Spra­che, denn inner­halb des Ter­ri­to­ri­ums wer­den vie­le von Regi­on zu Regi­on unter­schied­li­che Spra­chen gespro­chen, und es ist schon gar nicht eine »Gemein­schaft«, wie zumeist behaup­tet wird. Ein nie­der­baye­ri­scher Bau­er hat mehr mit einem Ober­öster­rei­cher gemein­sam als mit einem nord­frie­si­schen Fischer. Volk und Nati­on sind Phan­tas­men. Sie sind erfun­den wor­den, um dem klei­nen Mann eine Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mög­lich­keit nicht nur mit etwas »Grö­ße­rem«, son­dern auch mit etwas »Mäch­ti­gem« zu bie­ten, und vor allem etwas, wofür er sich – das ist dann oft das trau­ri­ge Resul­tat der pathe­ti­schen Sinn­stif­tung – opfern kann. Der Ort, wo das geschieht, wird noch immer das »Feld der Ehre« genannt. Und wenn Deutsch­land (sei­ne Bür­ger, sei­ne Eli­ten, sei­ne Regie­rung) glaubt, am Hin­du­kusch ver­tei­digt wer­den zu müs­sen, dann wird das Feld der Ehre dort­hin ver­legt. Ein Sol­dat, der lebend, oder gege­be­nen­falls ver­wun­det, von dort zurück­kehrt darf dann »stolz« auf sich sein, sein Bestes für das Vater­land gege­ben zu haben. Die Frau­en und Kin­der eines Sol­da­ten, der nicht lebend zurück­kehrt, dür­fen stolz dar­auf sein, ihren Ehe­mann und ihren Vater geop­fert zu haben. Kein Vater­land, das nicht Opfer, auch Men­schen­op­fer ver­langt. In der zivi­li­sier­te­ren Spra­che eines John F. Ken­ne­dy heißt das: »Ask not what your coun­try can do for you – ask what you can do for your coun­try.« Tau­sen­de Ame­ri­ka­ner glaub­ten tat­säch­lich, sie wür­den in Viet­nam etwas für ihr Land tun. Von über acht­und­fünf­zig­tau­send blie­ben nur die in polier­tem schwar­zem Gra­nit ein­gra­vier­ten Namen an einem Vete­ra­nen-Memo­ri­al in Washing­ton D.C.

Das Phan­tas­ma »Volk« schlägt sich auch in wei­te­ren Fik­tio­nen nie­der, auf denen die angeb­li­che Legi­ti­mi­tät des Herr­schafts­sy­stems beruht, vor allem in der so genann­ten Volks­sou­ve­rä­ni­tät und im »Wil­len des Vol­kes«. Als im Jahr 2016 über den Aus­tritt des Ver­ei­nig­ten König­reichs aus der Euro­päi­schen Uni­on abge­stimmt wur­de, nah­men 72,2 Pro­zent der wahl­be­rech­tig­ten Bevöl­ke­rung an der Abstim­mung teil. Davon stimm­ten 51,89 Pro­zent für den Aus­tritt und 48,11 Pro­zent dage­gen. Ins­ge­samt stell­ten damit 37,46 Pro­zent der Bevöl­ke­rung, die den Brexit befür­wor­te­ten, den »Wil­len des Vol­kes« dar, wäh­rend dem­nach 62,54 Pro­zent nicht für den Aus­tritt gestimmt haben. Volks­wil­le? Und lei­der gehört zum »Volk«, wie frü­her die Syphi­lis zur katho­li­schen Sexu­al­mo­ral, auch immer die bedroh­li­che – nicht nur in faschi­sto­iden Krei­sen gern ver­wen­de­te – Kon­struk­ti­on des »Volks­ver­rä­ters«. Jeder Mensch, dem die­se Voka­bel ange­hef­tet wird, wünscht unver­meid­lich, dass es »das Volk« bes­ser nicht gäbe.

Ein Auf­satz des ame­ri­ka­ni­schen Phi­lo­so­phen Alasd­air Mac­In­ty­re trägt der Titel »Ist Patrio­tis­mus eine Tugend?« Für Mac­In­ty­re, einen füh­ren­den Ver­tre­ter des Kom­mu­ni­ta­ris­mus, ist das eher eine rhe­to­ri­sche Fra­ge. Die phi­lo­so­phi­sche Schu­le des Kom­mu­ni­ta­ris­mus ent­stand als Ent­geg­nung auf und Kri­tik an den 1972 in dem gemein­hin als epo­chal betrach­te­ten Werk Eine Theo­rie der Gerech­tig­keit von John Rawls vor­ge­tra­ge­nen Grund­sät­zen, die eine Gesell­schaft als gerecht qua­li­fi­zie­ren sol­len. Die Phi­lo­so­phen des Kom­mu­ni­ta­ris­mus ver­ur­teil­ten Rawls‘ an Kant ori­en­tier­ten Kon­trak­tua­lis­mus und vor allem sei­nen Uni­ver­sa­lis­mus. Grund­le­gend für eine Gesell­schaft sei­en nie­mals abstrak­te uni­ver­sa­li­sti­sche Prin­zi­pen, son­dern die kon­kre­ten Tra­di­tio­nen, Gebräu­che und per­sön­li­chen Bin­dun­gen einer Gemein­schaft. Dabei erfüll­ten die Dorf­ge­mein­schaft, das Ver­eins­le­ben, die Kir­chen­ge­mein­den, die bür­ger­li­che Stadt­ge­sell­schaft etc. wesent­li­che Funk­tio­nen für die Indi­vi­du­en, die sich in ihrer com­mu­ni­ty auf­ge­ho­ben und zu Hau­se fühl­ten. Auch die Nati­on tra­ge zu die­sem Auf­ge­ho­ben-Sein in einem grö­ße­ren Gan­zen bei. Also ist Patrio­tis­mus für den Kom­mu­ni­ta­ris­mus eine not­wen­di­ge Tugend. Mac­In­ty­re benennt ganz klar das damit ent­ste­hen­de Kon­flikt­po­ten­zi­al, weil »der patrio­ti­sche Stand­punkt von mir for­dert, dass ich ver­su­che, die Inter­es­sen mei­ner Gemein­schaft zu för­dern und du das glei­che für dei­ne tust – und sicher­lich dort, wo es um das Über­le­ben einer Gemein­schaft geht (…), schließt der Patrio­tis­mus die Bereit­schaft ein, für sei­ne Gemein­schaft in den Krieg zu zie­hen.« Da der Kom­mu­ni­ta­ris­mus uni­ver­sel­le, für alle Gemein­schaf­ten (bzw. Natio­nal­staa­ten) gel­ten­de Regeln ablehnt, kennt er auch für zwi­schen­staat­li­che Kon­flikt­fäl­le kein ver­bind­li­ches Pro­ce­de­re, mit dem sich Krieg ver­mei­den lie­ße. Zum Kon­flikt kann es kom­men zum einen wegen der »Knapp­heit lebens­wich­ti­ger Res­sour­cen«, heut­zu­ta­ge (d. h. 1984, als der Text publi­ziert wur­de) vor allem wegen »der Begrenzt­heit fos­si­ler Brenn­stof­fe. Die mate­ri­el­len Vor­aus­set­zun­gen, die dei­ne Gemein­schaft zum Über­le­ben als beson­de­re Gemein­schaft und zur Ent­wick­lung einer beson­de­ren Nati­on benö­tigt, mögen den allei­ni­gen Gebrauch der­sel­ben oder eini­ger der natür­li­chen Res­sour­cen umfas­sen, die auch mei­ne Gemein­schaft zum Über­le­ben und zur Ent­wick­lung zu einer bestimm­ten Nati­on benö­tigt.« Der ande­re mög­li­che Kon­flikt­grund »hängt mit Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen Gemein­schaf­ten über die rich­ti­ge Lebens­wei­se zusam­men«. Mac­In­ty­re umschreibt ziem­lich prä­zi­se, wor­um es im inter­na­tio­na­len Kon­flikt­ge­sche­hen geht, näm­lich um natür­li­che Res­sour­cen (zu denen man auch die mensch­li­che Arbeits­kraft zäh­len darf) und um die Hege­mo­nie einer Lebens­form, zum Bei­spiel hier und heu­te: die west­lich-kapi­ta­li­stisch-demo­kra­ti­sche Lebens­form, für die die Nati­on der USA als Muster steht. Da die­se zu ihrer histo­ri­schen Grund­la­ge den Kolo­nia­lis­mus und den Impe­ria­lis­mus hat­te und hat, wird sie von den Staa­ten des glo­ba­len Südens nicht unbe­dingt als Vor­bild akzep­tiert, wes­halb die­se sich u. U. eher am auf­stei­gen­den neu­en Hege­mon Chi­na ori­en­tie­ren. Krie­ge­ri­sche Kon­flik­te sind bei rea­li­sti­scher Betrach­tung also bereits pro­gram­miert. Das hin­dert den Patrio­ten nicht an sei­ner Treue zur Nati­on und deren »beson­de­re® Bin­dung an eine Ver­gan­gen­heit, die ihm oder ihr eine bestimm­te mora­li­sche und poli­ti­sche Iden­ti­tät ver­lie­hen hat«, die mich als Patrio­ten so bin­det, dass ich »das geleb­te Nar­ra­tiv mei­nes eige­nen indi­vi­du­el­len Lebens als Teil der Geschich­te mei­nes Lan­des ver­ste­he«. Und egal, ob mein Land rich­tig oder falsch agiert, es ist mein Land.

Die­se Hal­tung ist es, die den Patrio­ten – man soll­te viel­leicht nicht sagen: »aus­zeich­net«, son­dern eher – aus­macht. Es ist näm­lich eine durch­aus zwei­fel­haf­te Hal­tung, die nicht unbe­dingt Respekt ver­dient. Und aus Mac­In­ty­res Aus­füh­run­gen geht auch klar her­vor, dass »mein Patrio­tis­mus« kein ande­rer ist als »dein Patrio­tis­mus«, dass Patrio­tis­mus immer der glei­che ist, wor­aus folgt, dass nicht ein guter Patrio­tis­mus einem schlech­ten Patrio­tis­mus gegenübersteht.

Was es wei­ter­hin bedeu­tet, ein Patri­ot zu sein, führt Mac­In­ty­re fol­gen­der­ma­ßen aus: »Von sehr außer­ge­wöhn­li­chen Bedin­gun­gen ein­mal abge­se­hen, benö­tigt eine jede poli­ti­sche Gemein­schaft Streit­kräf­te für ihre mini­ma­le Sicher­heit. Sie muss von den Mit­glie­dern die­ser Streit­kräf­te ver­lan­gen, dass sie sowohl bereit sind, ihr Leben für die Sicher­heit die­ser Gemein­schaft zu ris­kie­ren, wie auch, dass ihre Bereit­schaft dazu von ihrer eige­nen indi­vi­du­el­len Beur­tei­lung, ob die Sache ihres Lan­des (…) in bestimm­ten Fäl­len rich­tig oder falsch ist, unab­hän­gig ist.« Das bedeu­tet, dass der patrio­ti­sche Sol­dat sich selbst mit bedin­gungs­lo­sem Gehor­sam gegen­über der Regie­rung sei­nes Lan­des zum wil­len­lo­sen Werk­zeug macht. Als Mensch und Indi­vi­du­um ver­zich­tet er vor­sätz­lich und bereit­wil­lig dar­auf, sich sei­nes »eige­nen Ver­stan­des zu bedie­nen« (Kant), und wird dadurch zu einem von sei­ner Regie­rung nach Belie­ben ein­setz­ba­ren blo­ßen Mit­tel und Tötungs­in­stru­ment. Und es hilft hier nichts, zu unter­schei­den, ob die Befeh­le von einer demo­kra­ti­schen oder auto­ri­tä­ren Regie­rung kom­men, denn die­se Unter­schei­dung ist in dem Moment sus­pen­diert, wenn Men­schen dar­auf ver­zich­ten, die Ent­schei­dun­gen ihrer Regie­rung (oder des Par­la­ments oder jeg­li­cher ande­rer poli­ti­schen Insti­tu­ti­on) kri­tisch zu hinterfragen.

Man hat den Patrio­tis­mus oft den klei­ne­ren Bru­der des Natio­na­lis­mus genannt. Aber die­ses Dimi­nu­tiv macht ihn nicht weni­ger schlimm. Vor allem weil der Bru­der des Natio­na­lis­mus wie des Patrio­tis­mus unwei­ger­lich der Mili­ta­ris­mus ist. Der Patrio­tis­mus, das zeigt Mac­In­ty­re sehr über­zeu­gend, ist die emo­tio­na­le Res­sour­ce des Kriegs. Der Krieg wur­zelt in ihm und nährt sich von ihm. Ohne Patrio­tis­mus wäre Krieg nicht möglich.

Nun könn­te man viel­leicht mei­nen, dass es einen qua­si unschul­di­gen und legi­ti­men Patrio­tis­mus gebe auf der Sei­te der Opfer eines Angriffs­kriegs. Ein Staat, der von einem ande­ren Staat ange­grif­fen wird, hat das Recht sich zu ver­tei­di­gen, so die meist ein­hel­li­ge Ansicht. Das aller­dings beruht wie­der auf den bereits erwähn­ten begriff­li­chen Fiktionen.

Nicht zufäl­lig nennt Mac­In­ty­re den Staat eine »poli­ti­sche Gemein­schaft«. Das aller­dings ist eine begriff­li­che Erschlei­chung, denn kein Staat kann jemals eine ech­te Gemein­schaft sein. Es gibt selbst­ver­ständ­lich ein Recht, sich zu ver­tei­di­gen. Ver­tei­di­gen kann man aber nur, was wirk­lich exi­stiert. Man kann sich selbst, die eige­ne Per­son ver­tei­di­gen, sei­nen Besitz, die eige­ne Frei­heit, die Fami­lie, Freun­de, Bekann­te, irgend­wel­che ande­re Men­schen, aber Phan­tas­men wie Volk, Vater­land und Nati­on kann man nicht ver­tei­di­gen; die Illu­si­on, das aus Patrio­tis­mus tun zu müs­sen und ein Recht dazu zu haben, macht die dabei ange­wen­de­te Gewalt so ille­gi­tim wie jene des Aggres­sors. In bei­den wal­tet der­sel­be Wahn, die­sel­be Ein­bil­dung eines sich in einem »Grö­ße­ren« und »Höhe­ren« und »Mäch­ti­ge­ren« auf­ge­ho­ben sein wol­len­den Ichs. Jeder Sol­dat redet sich patrio­tisch sel­ber ein, weil es ihm ein­ge­re­det wird, »nur sein Land« zu ver­tei­di­gen. Und jeder sich selbst im Recht wäh­nen­de »Ver­tei­di­gungs­pa­trio­tis­mus« kehrt irgend­wann wie­der als böser und aggres­si­ver Patrio­tis­mus, wie Putin neu­er­dings am 9. Mai bei der Erin­ne­rung an die gro­ßen und schreck­li­chen Opfer für den Sieg im »Gro­ßen vater­län­di­schen Krieg« vorführte.

Es gibt also kei­nen »unschul­di­gen Patrio­tis­mus«, denn jeder Patrio­tis­mus sagt immer wie­der: right or wrong, my coun­try! Auch wenn die Regie­rung mei­nes Lan­des falsch han­delt – was aber, so Mac­In­ty­re, für den ein­zel­nen, den Patrio­ten gar nicht fest­stell­bar ist, denn der hat bedin­gungs­los zu glau­ben und zu gehor­chen –, es ist und bleibt mein Land, dem ich ver­pflich­tet bin. Und genau die­ses Ver­ständ­nis von Ver­pflich­tung ist ethisch ver­werf­lich, wes­halb jeder Patrio­tis­mus eine Untu­gend ist. Nur ein kos­mo­po­li­ti­sches Den­ken bie­tet in einer sich selbst glo­ba­li­sie­ren­den, post­na­tio­na­len Welt einen Aus­weg aus die­ser Verwerflichkeit.

Alasd­air Mac­In­ty­re, Ist Patrio­tis­mus eine Tugend? (1984) in: Axel Hon­neth (Hg.), Kom­mu­ni­ta­ris­mus. Eine Debat­te über die mora­li­schen Grund­la­gen moder­ner Gesell­schaf­ten, Frank­furt a. Main und New York, 1994, S. 84-102.