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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Renaissance der Entspannungspolitik

Der West­end-Ver­lag hat einen Sam­mel­band unter dem Titel »Ukrai­ne­krieg« her­aus­ge­ge­ben. Die­ses Buch berührt Aspek­te, die weit über den Hori­zont die­ses Krie­ges in Ost­eu­ro­pa hin­aus­ge­hen: Es befasst sich mit Fra­gen der Glo­bal­stra­te­gie, mit diplo­ma­ti­schen Alter­na­ti­ven zur Nato-Poli­tik der Abschreckung, mit der psy­cho­lo­gi­schen Kriegs­füh­rung und den öko­no­mi­schen Inter­es­sen west­li­cher Welt­kon­zer­ne als Hin­ter­grund der Eska­la­ti­ons­dy­na­mik. Die fast 50 Sei­ten umfas­sen­de Ein­lei­tung klärt über die trans­at­lan­ti­schen Nar­ra­ti­ve auf, die das schwarz­weiß-Bild vom demo­kra­ti­schen Westen einer­seits und von der Gefahr aus dem Osten ande­rer­seits trans­por­tie­ren, indem sie die Nato-Expan­si­on als Span­nungs­quel­le und die ver­schie­de­nen Frie­dens­plä­ne, denen gegen­über sich die Nato des­in­ter­es­siert ver­hält, ausblenden.

Eine Schwä­che weist die Ein­lei­tung des Buches inso­fern auf, als sie sich in der Ana­ly­se nicht mit den inter­na­tio­na­len Ver­trä­gen befasst, gegen die die Nato-Ost­erwei­te­rung ver­stößt, dar­un­ter der 2+4-Vertrag über Deutsch­land, die Char­ta von Paris sowie die Euro­päi­sche Sicher­heits­char­ta von 1999. Dies führt zu der auf den ersten Blick plau­si­blen Wie­der­ho­lung des Nato-Nar­ra­tivs, dem­zu­fol­ge der Krieg in der Ukrai­ne im Wesent­li­chen eine mili­tä­ri­sche Aggres­si­on Russ­lands ist, wor­aus sich die Schluss­fol­ge­rung ergibt, dass sei­ne Bestra­fung gerecht und eine Beloh­nung des Aggres­sors etwa durch die Ver­ein­ba­rung einer Neu­tra­li­tät der Ukrai­ne kei­nes­falls zu akzep­tie­ren wären.

Im wei­te­ren Ver­lauf macht das Buch die­ses Defi­zit mehr als wett. Im Zusam­men­hang mit der nuklea­ren Eska­la­ti­ons­ge­fahr füh­ren die Autoren aus: »Jede Woche steigt das Risi­ko, dass der Kon­flikt außer Kon­trol­le gerät und die Nato zur unmit­tel­ba­ren Kriegs­par­tei wird. Der drit­te Welt­krieg hät­te spä­te­stens dann begonnen.«

Der wei­te Hori­zont des Sam­mel­ban­des wird auch im Ein­lei­tungs­ka­pi­tel über Chi­na, Tür­kei, Iran deut­lich: »Die chi­ne­si­sche Füh­rung kann kein Inter­es­se an einer Nie­der­wer­fung und Auf­lö­sung der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on haben. Ein Sze­na­rio mit Nato-Trup­pen kurz vor der chi­ne­si­schen Gren­ze und rus­si­schen Roh­stof­fen, die den USA im Kampf gegen Chi­na zur Ver­fü­gung stün­den, kann kei­ne ver­locken­de Vor­stel­lung für die chi­ne­si­sche Füh­rung sein.«

Die kon­kre­te Vor­ge­schich­te des 24.2.2022 ana­ly­sie­ren die Autoren wie folgt: Selen­skyj for­der­te im Jahr vor der Eska­la­ti­on des Krie­ges nach Gesprä­chen mit dem US-Prä­si­den­ten und dem Nato-Gene­ral­se­kre­tär die zeit­na­he Auf­nah­me der Ukrai­ne in die Nato, da das »der ein­zi­ge Weg« sei, den Krieg im Don­bass zu been­den. Dies über­geht auch die War­nun­gen des US-Stra­te­gen Hen­ry Kis­sin­ger, die Ukrai­ne als Teil einer Ost-West-Kon­fron­ta­ti­on zu behan­deln, wür­de jede Aus­sicht auf ein koope­ra­ti­ves inter­na­tio­na­les System »für Jahr­zehn­te zunich­te­ma­chen«. In die­sem Zusam­men­hang erin­nert das Buch an die von Russ­land gefor­der­ten Sicher­heits­ga­ran­tien, die die Nato Anfang 2022 zurück­wies. Der Nato-Gene­ral­se­kre­tär wird mit den Wor­ten zitiert: »Kein ande­rer hat irgend­et­was zu mel­den, und natür­lich hat Russ­land kein Veto­recht in der Fra­ge, ob die Ukrai­ne Nato-Mit­glied wer­den kann.«

Wei­te­re Rück­be­zü­ge in die Geschich­te des Ver­hält­nis­ses zwi­schen Russ­land und Staa­ten im Westen sowie zu den Inter­es­sen der fos­si­len Kon­zer­ne im Westen berei­chern den Tief­gang des Buches. Auch die Kri­tik an den Sank­tio­nen als mehr im Inter­es­se der USA als im west­eu­ro­päi­schen Inter­es­se beschlos­se­ne Bestra­fungs-Maß­nah­men, die man sel­ten in Tex­ten zum Ukrai­ne-Krieg fin­det, zeich­nen die­sen Sam­mel­band aus.

Im Schluss­teil des Buches zitiert der Autor Ste­fan Luft Heri­bert Prantl von der Süd­deut­schen Zei­tung, der sei­ne Kri­tik an der Spit­ze der rot-grü­nen Regie­rung wie folgt auf den Punkt bringt: Aus­ge­rech­net Rot-Grün begreift Frie­dens­fä­hig­keit als Kriegs­füh­rungs­fä­hig­keit; die­ses Zitat ist zwar aus der Zeit des völ­ker­rechts­wid­ri­gen Krie­ges der Nato gegen Jugo­sla­wi­en, es hat aber von sei­ner Aktua­li­tät nichts ein­ge­büßt. Schließ­lich run­det das Buch sei­ne Ana­ly­sen mit einem Inter­view mit dem sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Poli­ti­ker Klaus von Dohn­anyi ab, der dar­auf ver­weist, wel­ches Ver­säum­nis die vom Westen sabo­tier­ten Ver­ein­ba­run­gen im Minsk II-Pro­zess dar­stel­len: »Mer­kel ver­dan­ken wir die Abkom­men Minsk I und Minsk II, die für den Don­bass eine gewis­se Selbst­stän­dig­keit im Rah­men ukrai­ni­scher Staats­ho­heit vor­sah, ähn­lich wie etwa in Spa­ni­en für das Bas­ken­land. Ich glau­be, dass Mer­kel ange­sichts ihrer Erfah­run­gen (…) den Ernst der Lage schon viel frü­her durch­schaut hat­te.« Er betont, dass es einen Frie­den in Euro­pa nur mit und nicht gegen Russ­land gibt. Abschlie­ßend zitiert er Wil­ly Brandt: »Außen­po­li­tik ist Gene­ral­stabs­ar­beit am Frie­den.« Dem ist nichts hinzuzufügen.

San­dra Kost­ner, Ste­fan Luft (Hrsg.): Ukrai­ne­krieg. War­um Euro­pa eine neue Ent­span­nungs­po­li­tik braucht. Frank­furt 2023, 352 S., 24 €.