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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Was für ein Leben!

Regi­na Scheer hat über Jah­re mit »Tan­te Her­tha«, der alten Freun­din ihres Stief­va­ters Maxi­mi­li­an Scheer über deren Leben gespro­chen und nun ein gro­ßes Buch dar­aus gemacht.

Her­tha Gor­don-Wal­cher (1894-1990) hat die Geschich­te der sozia­li­sti­schen Bewe­gung am eige­nen Leib durch­lebt. Gebo­ren in einer jüdi­schen Fami­lie in Königs­berg eman­zi­pier­te sie sich, noch bevor sie voll­jäh­rig wur­de, und lern­te Ste­no und Schreib­ma­schi­ne in Lon­don. Schon da fas­zi­nier­ten sie die Ideen von Gleich­heit und Gerech­tig­keit. Durch die Zeit­schrift Die Gleich­heit. Zeit­schrift für die Frau­en und Mäd­chen des werk­tä­ti­gen Vol­kes, deren Chef­re­dak­teu­rin Cla­ra Zet­kin war, kam sie in Kon­takt mit der Sozia­li­stin und wur­de schließ­lich ihre Sekre­tä­rin und Assi­sten­tin. Sie beglei­te­te sie (auch auf ihren vie­len Rei­sen), mach­te Besor­gun­gen, erle­dig­te gefähr­li­che Auf­trä­ge und schrieb die Tex­te der Zet­kin ab. Zwi­schen­durch, wäh­rend des Ersten Welt­kriegs, lan­de­te sie im Gefäng­nis (Lager Holz­min­den), war aber immer unter Genos­sen und vor­nehm­lich Genos­sin­nen. So lern­te sie Lenin, Trotz­ki, Rosa Luxem­burg, Karl Radek (des­sen Sekre­tä­rin sie zeit­wei­se in Mos­kau war) und unter ande­rem Jacob Wal­cher (1887-1970) ken­nen. (Wenn er heu­te noch bekannt ist, so mei­stens wegen sei­ner Kon­tak­te zu Ber­tolt Brecht.) Wal­cher war ein jun­ger lin­ker Sozi­al­de­mo­krat und Gewerk­schaf­ter, der zu den Begrün­dern des Spar­ta­cus-Bun­des und spä­ter der KPD gehör­te. Die Gemein­schaft mit ihm währ­te lebens­lang, genau­so wie der Ein­satz und Kampf der bei­den für eine sozia­li­sti­sche Revo­lu­ti­on. Dabei waren sie kei­ne bra­ven oder lini­en­treu­en Par­tei­mit­glie­der. Nach­dem Jacob in der Gewerk­schafts­ar­beit der Kom­in­tern aktiv war und schon da gegen­sätz­li­che Posi­tio­nen zu denen Sta­lins deut­lich wur­den, wur­de er 1928 mit ande­ren füh­ren­den Genos­sen als »Rech­te« aus der Par­tei ausgeschlossen.

Spä­ter, in der KPO (Kom­mu­ni­sti­sche Par­tei Oppo­si­ti­on), für die er sich enga­gier­te, wur­de er auch nicht gedul­det, weil er die neu gegrün­de­te Sozia­li­sti­sche Arbei­ter­par­tei Deutsch­lands (SAPD), die für eine Ein­heit von SPD und KPD ein­trat, unter­stütz­te. Fort­an wur­de er ein füh­ren­des Mit­glied der SAPD, die ihre Arbeit auch nach 1933 in der Ille­ga­li­tät fort­setz­te. Damals war Jacob in enger Ver­bin­dung mit Wil­ly Brandt, den er als einen sei­ner »Zieh­söh­ne« begriff. (Wie schmerz­lich war spä­ter die Trennung!)

Jacob und Her­tha gin­gen nach Paris ins Exil. Immer im Ein­satz, immer in Gefahr, immer ohne Geld. Her­tha war oft krank, im Lager hat­te ihre Lun­ge gelit­ten. Aber sie gab nie auf, auch als sie in die USA emi­grie­ren konn­ten. Immer tipp­te sie Brie­fe und Arti­kel, über­setz­te, betei­lig­te sich an den Dis­kus­sio­nen. So trug sie zu dem kar­gen Lebens­un­ter­halt, den Jacob als Dre­her ver­dien­te, bei und war in den Dis­kus­sio­nen auf dem Lau­fen­den. 1947 kehr­ten die Wal­ch­ers nach Deutsch­land zurück und gin­gen, anders als die mei­sten ihrer engen Mit­strei­ter, in die sowje­ti­sche Besat­zungs­zo­ne. Anfangs Chef­re­dak­teur der Zei­tung Tri­bü­ne soll­te Jacob Wal­cher wie­der ein­mal ein Tri­bu­nal sei­ner Genos­sen erle­ben. Als frü­he­rer »Abweich­ler« (KPO und SAPD) und West­e­mi­grant beschul­dig­te man ihn des Ver­rats und ent­zog ihm die Par­tei­mit­glied­schaft. Her­tha durf­te blei­ben, aber sie blieb auch an sei­ner Sei­te. Nach dem XX. Par­tei­tag wur­de Wal­cher wie­der in die Par­tei auf­ge­nom­men. Abge­scho­ben ins Archiv, erleb­ten Jacob und Her­tha im Ver­gleich zu frü­her ruhi­ge Jah­re, aber von KPO oder SAPD soll­te nichts öffent­lich werden.

Regi­na Scheer erzählt Par­tei­ge­schich­te. Wen haben die Wal­ch­ers nicht alles gekannt! Wie vie­le Genos­sen haben sie in den Strei­te­rei­en und Kämp­fen ver­lo­ren! (Wür­den doch die heu­ti­gen Lin­ken dar­aus gelernt haben!) Regi­na Scheer hat gründ­lich recher­chiert und mischt dabei die per­sön­li­chen Erin­ne­run­gen an Begeg­nun­gen und eige­nes Schick­sal unter. Was immer wie­der auf­fällt, ist die Soli­da­ri­tät inner­halb der »Fami­lie« (so begrif­fen sich die Genos­sen), sowohl wäh­rend des Exils als auch noch spä­ter in der DDR. Und doch waren die alten Gefech­te nicht ver­ges­sen. Es ist das gro­ße Ver­dienst von Regi­na Scheer, über eine Frau geschrie­ben zu haben, die fast nur über den männ­li­chen Part­ner defi­niert wur­de, aber doch eigen­stän­dig und auch eigen­wil­lig war. Dass das Buch den (Sachbuch-)Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se erhielt, spricht für die Mes­se und ihre Juroren.

Regi­na Scheer: Bit­te­re Brun­nen. Her­tha Gor­don-Wal­cher und der Traum von der Revo­lu­ti­on, Pen­gu­in-Ver­lag, Mün­chen 2023, 704 S., 30 €.