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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ärger frisst Erholung

Das Dut­zend war voll. Das Maß auch. Eigent­lich hät­te ich die Rei­se stor­nie­ren sol­len, als zwei Wochen zuvor mei­ne Tau­be in der Not­auf­nah­me der Cha­ri­té eine Schie­ne am lin­ken Fuß ange­legt bekam, um die Bän­der zu scho­nen, die infol­ge eines Stur­zes ein wenig über­stra­pa­ziert wor­den waren. Da sie sich aber ohne Krücken fort­be­we­gen konn­te, mein­te sie, es auch mit dem Flie­ger bis zum Eiland vor der West­kü­ste Afri­kas zu schaf­fen. Unter der wär­men­den Son­ne des Südens wür­de sie rascher gene­sen als unterm trü­ben Win­ter­him­mel in Ber­lin. Und schließ­lich wäre die­se Rei­se unse­re zwölf­te auf den Archi­pel. Das müs­se sein. Schon wegen unse­res Hochzeitstages.

Am Tag vorm Auf­bruch teil­te der Rei­se­ver­an­stal­ter mit, dass er uns in einem ande­ren als dem gebuch­ten Quar­tier unter­brin­gen müs­se. Nun gut. Dann stan­den wir nach meh­re­ren Stun­den Flug am Trans­port­band, auf denen die Kof­fer krei­sten. Wir stan­den dort noch, als das Band abge­schal­tet wur­de. Ohne Gepäck. Ich rei­se, auch berufs­be­dingt, seit meh­re­ren Jahr­zehn­ten und stets rei­ste die Sor­ge mit, ob ich denn gleich­zei­tig mit mei­nem Gepäck am Ziel­ort ein­tref­fen wür­de. Bis­her hat­te sich die Furcht als unbe­grün­det erwie­sen. Irgend­wann gibt es immer ein erstes Mal.

Wir waren jedoch nicht die ein­zi­gen gepäck­lo­sen Rei­sen­den, wie ich an der Län­ge der Gesich­ter und der Schlan­ge bemerk­te. Nun ganz lang­sam wur­de die­se kür­zer, was an der Dau­er der inten­siv geführ­ten Gesprä­che am Kopf der War­te­schlan­ge lag. Vor mir stan­den schließ­lich nur noch zwei jun­ge Leu­te aus Amster­dam, die den Ver­lust ihrer Ruck­säcke anzeig­ten und der Frau hin­ter der Glas­schei­be klar­zu­ma­chen ver­such­ten, dass sie Back­packer sei­en, wes­halb sie auch kein Hotel benen­nen konn­ten, des­sen Adres­se sie ange­ben soll­ten, damit dort das Gepäck ange­lie­fert wer­den kön­ne, wenn es denn käme. Die Kom­mu­ni­ka­ti­on erfolg­te in einer Mischung als Eng­lisch, Spa­nisch und Nie­der­län­disch und durch eine Öff­nung, die sich zwar in Augen­hö­he der dahin­ter sit­zen­den Beam­tin, aber in Höhe des Bauch­na­bels der vor dem Schal­ter Ste­hen­den befand. Des­halb muss­ten sie sich ziem­lich krumm machen. Dann waren wir an der Rei­he und beka­men ziem­lich rasch ein Papier: Wir hat­te ja eine Adres­se. Dort­hin wer­de man die bei­den ver­miss­ten Kof­fer brin­gen. Morgen.

Am Schal­ter, wo Schlüs­sel und Papie­re für den Miet­wa­gen lagen, hat­te man die Öff­nungs­zeit augen­schein­lich ver­län­gert und zwei Stun­den über die ver­ein­bar­te Abhol­zeit geöff­net. Es war bereits dun­kel, als mei­ne hin­ken­de Tau­be und ich das Gefährt kof­fer­los auf dem mäßig beleuch­te­ten Park­platz bestiegen.

Am spä­ten Nach­mit­tag des näch­sten Tages nah­men wir einen Kof­fer an der Rezep­ti­on in Emp­fang. Und der ande­re? Es sei nur einer vom Flug­platz gebracht wor­den, sag­te die Dame und hob bedau­ernd die Schul­ter. Viel­leicht mor­gen. Bei dem aus­ge­hän­dig­ten Kof­fer han­del­te es sich um den Trol­ley, den wir als Hand­ge­päck zu beför­dern gedach­ten. Er war uns in Ber­lin abge­nom­men wor­den. Die Maschi­ne sei über­bucht, hat­te es gehei­ßen. Wenig­stens waren nun das Arbeits­ma­te­ri­al und die Bade­ho­se da.

Am fünf­ten Tag war der Kof­fer mit unse­ren Kla­mot­ten noch immer nicht ein­ge­gan­gen. Obgleich wir die Dusche im Hotel über­durch­schnitt­lich oft nutz­ten, hät­ten wir gern die Wäsche gewech­selt, die wir seit Ber­lin tru­gen. Auch ver­miss­ten wir die wär­men­den Pull­over, denn wenn die Son­ne nicht am Him­mel stand, war’s ver­dammt kühl. Und in die­sen Gegen­den ken­nen auch gute Hotels kei­ne Hei­zung. Inzwi­schen hat­ten wir den Ver­lust unse­res Kof­fers beim Rei­se­ver­an­stal­ter ange­zeigt. Es ent­wickel­te sich eine rege Kom­mu­ni­ka­ti­on per Whats­App und Fern­ge­spräch, die Quint­essenz lau­te­te: Der Kof­fer sei wie­der in Ber­lin, aber bar der übli­chen Ban­de­ro­le, die irgend­wo in Madrid abhan­den­ge­kom­men sei. Man wer­de ihn neu­er­lich auf den Weg bringen.

Der opti­mi­sti­sche Trost ließ uns von Tag zu Tag Abstand von dem Gedan­ken neh­men, uns auf Kosten des Rei­se­ver­an­stal­ters neu ein­zu­klei­den. Man war schließ­lich kein nölen­der Tou­rist, der sich über jeden Flie­gen­schiss beschwer­te. Außer­dem hät­ten wir dann auf der Rück­rei­se das Dop­pel­te zu schlep­pen, sofern unser Kof­fer schließ­lich doch noch ein­trä­fe, wor­an wir nicht zweifelten.

Unter­des­sen hielt mei­ne Tau­be ihr lädier­tes Fuß­ge­lenk in die Son­ne und hoff­te dar­auf, dass die­se die im Kof­fer befind­li­chen Medi­ka­men­te, Sal­ben und Bin­den ersetz­te. Und ich hock­te als blin­der Vogel auf dem Bal­kon, denn ich konn­te weder schrei­ben noch lesen, weil die Bril­le im Kof­fer steck­te. Das Maß war voll, der Urlaub im Eimer, egal, was noch kom­men wür­de. Ich sehn­te mich zurück ins trü­be Ber­lin, wo alles an sei­nem Platz stand oder lag.

Was soll ich sagen: Am Abend des fünf­ten Urlaubs­ta­ges stand der Kof­fer an der Rezep­ti­on, behängt mit etli­chen Ban­de­ro­len, die er im Lau­fe sei­ner Rei­se quer durch Euro­pa ein­ge­sam­melt hat­te. Am näch­sten Mor­gen, gleich nach dem Früh­stück, wür­den wir end­lich in fri­scher Wäsche die Insel erobern.

Am fol­gen­den Tag goss es wie aus Kannen …