Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Die chilenische Tragödie

Am 11. Sep­tem­ber 1973 putsch­te sich das Mili­tär unter der Füh­rung des von den USA maß­geb­lich geför­der­ten Gene­rals Augu­sto Pino­chet in Chi­le an die Macht und stürz­te den demo­kra­tisch gewähl­ten sozia­li­sti­schen Prä­si­den­ten Sal­va­dor Allen­de. Mit sei­nem Tod ende­te der Ver­such eines demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus auf dem süd­ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent, der welt­weit Beach­tung fand. An den Putsch schloss sich eine 17-jäh­ri­ge Mili­tär­dik­ta­tur an, in der bis 1990 Zehn­tau­sen­de poli­ti­sche Geg­ner ein­ge­sperrt, gefol­tert oder umge­bracht wurden.

Unter den lite­ra­ri­schen Wer­ken, die sich mit der Zeit der Dik­ta­tur aus­ein­an­der­setz­ten, ist Car­los Franz‘ Roman »El desier­to« (dt. Die Wüste) der kom­ple­xe­ste. Der chi­le­ni­sche Autor erhielt im Erschei­nungs­jahr 2005 den Pre­mio Nove­la de la Nación-Suda­me­ri­ca­na für sei­nen Schlüs­sel­ro­man, der jetzt zum 50. Jah­res­tag des Mili­tär­put­sches erst­mals in einer deut­schen Über­set­zung von Lutz Kli­che im Mit­tel­deut­schen Ver­lag erschie­nen ist.

»Wo warst du, Mama, als all die­se schreck­li­chen Din­ge in dei­ner Stadt pas­sier­ten?« Die­se Fra­ge, die der Juri­stin Lau­ra Lar­co von ihrer Toch­ter Clau­dia gestellt wur­de, ist die Fra­ge, mit der sich die­je­ni­gen, die Tag für Tag in einer Dik­ta­tur leben muss­ten, kon­fron­tiert sehen. Nach zwan­zig Jah­ren selbst auf­er­leg­tem Exil in Ber­lin kehrt Lau­ra zurück in die fik­ti­ve Stadt Pam­pa Hundi­da, einer ver­steck­ten Oase in der Ata­ca­ma-Wüste. Sie will ihrer Toch­ter die Ant­wort in Brief­form sel­ber überbringen.

Aus­führ­lich schil­dert der Roman die Situa­ti­on der Stadt wäh­rend der Dik­ta­tur. Damals hat­te die jun­ge Lau­ra eine erste Anstel­lung als Rich­te­rin; doch nach dem Putsch wur­de das Gesetz in Stücke zer­ris­sen und in Pam­pa Hundi­da ein poli­ti­sches Gefäng­nis auf den Rui­nen eines ver­las­se­nen Sal­pe­ter­bü­ros errich­tet. Alle Gefan­ge­nen des Lagers wur­den zum Tode ver­ur­teilt, und so ließ der Lei­ter, der fin­ste­re Major Maria­no Cáce­res, jeden Mor­gen einen Gefan­ge­nen hin­rich­ten. Jeden Mor­gen ertön­ten Schüs­se über Pam­pa Hundi­da und quäl­ten die stum­me Bevölkerung.

Da tra­ten »zehn gerech­te Bür­ger« der Stadt an Lau­ra her­an mit der Bit­te, sich an den Major, der ein Auge auf sie gewor­fen hat­te, zu wen­den, um das Mor­den zu been­den. Als Lau­ra zu ihm geht, fol­tert und ver­ge­wal­tigt er sie und schlägt ihr einen Pakt vor: Solan­ge sie ihn wei­ter­hin regel­mä­ßig besucht, wird er auf­hö­ren, Gefan­ge­ne zu erschie­ßen. Schließ­lich gelang es Lau­ra, die­sem »Pakt mit dem Teu­fel« zu ent­rin­nen, sie floh aus ihrem Hei­mat­land nach Berlin.

In den Jah­ren ihres Exils, in denen sie ihre Toch­ter allein groß­zie­hen muss­te, erlang­te Lau­ra nicht nur aka­de­mi­schen Ruhm, son­dern ver­öf­fent­lich­te auch ein viel beach­te­tes Buch über Gerech­tig­keit, doch nun ver­folgt sie die Ver­gan­gen­heit uner­bitt­lich. Wäh­rend ande­re ehe­ma­li­ge Bewoh­ner, die eben­falls ver­strickt waren, sich vor der Ver­ant­wor­tung drücken, setzt sich Lau­ra in ihrem »Geständ­nis­schrei­ben« kri­tisch mit ihrer Rol­le in der Dik­ta­tur und all den »schreck­li­chen Din­gen« aus­ein­an­der, die vor zwei Jahr­zehn­ten in Pam­pa Hundi­da passierten.

Der kraft­vol­le Roman hat zwei Span­nungs­li­ni­en, die immer wie­der zusam­men­lau­fen: Lau­ras Rück­kehr und den Brief, den sie an ihre Toch­ter noch in Ber­lin ver­fasst hat­te. Die bei­den Tei­le sind zwar durch unter­schied­li­che Schrift­ar­ten gekenn­zeich­net; den­noch erfor­dert die Lek­tü­re eini­ge Kon­zen­tra­ti­on. Neben dem per­sön­li­chen Schick­sal sei­ner Prot­ago­ni­stin ist dem Autor auch ein histo­ri­sches Pan­ora­ma der chi­le­ni­schen Mili­tär­dik­ta­tur gelun­gen sowie ihrer Aus­wir­kun­gen auf die chi­le­ni­sche Gesellschaft.

Car­los Franz: Das ver­schwun­de­ne Meer, Mit­tel­deut­scher Ver­lag, Hal­le 2023, 480 S., 30 €.