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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Eine neue Entspannung

Der Krieg in der Ukrai­ne mit inzwi­schen geschätz­ten rund 500.000 Todes­op­fern und Ver­wun­de­ten (Stand: Mit­te August 2023) hat in Deutsch­land bis­her zu kei­ner kon­tro­ver­sen Debat­te geführt, in der Ver­tre­ter unter­schied­li­cher Posi­tio­nen um die Zustim­mung des Publi­kums rin­gen. Die Debat­te ist im Gegen­teil gekenn­zeich­net durch die nahe­zu voll­stän­di­ge Vor­herr­schaft jener Bel­li­zi­sten, deren Mot­to ist: Waf­fen und noch mehr Waf­fen in die Ukrai­ne, dann wird Russ­land besiegt wer­den. Die Fokus­sie­rung auf die Aus­ein­an­der­set­zung auf dem Schlacht­feld und den magisch her­bei­ge­re­de­ten Sieg der Ukrai­ner kenn­zeich­nen die öffent­li­che Befas­sung mit die­sem The­ma. Posi­tio­nen, die herr­schen­de Nar­ra­ti­ve (oder die Nar­ra­ti­ve der Herr­schen­den) infra­ge stel­len, sind zwar vor­han­den, aber in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung, ins­be­son­de­re in den eta­blier­ten Medi­en, nicht prä­sent. Wer Alter­na­ti­ven zur Kriegs­füh­rung ein­for­dert, wird wahl­wei­se als »Lob­by­ist des Fein­des«, als »Lum­pen­pa­zi­fist« oder als »gefal­le­ner Engel« dif­fa­miert. In einer sol­chen poli­ti­schen Lage kommt der Band »Ukrai­ne­krieg. War­um Euro­pa eine neue Ent­span­nungs­po­li­tik braucht« gera­de zur rech­ten Zeit.

Die bei­den Her­aus­ge­ber San­dra Kost­ner und Ste­fan Luft haben zehn wei­te­re Autoren gewon­nen, die aus der Per­spek­ti­ve ihrer jewei­li­gen wis­sen­schaft­li­chen Fach­rich­tun­gen ver­schie­de­ne Aspek­te des Krie­ges und sei­ner Geschich­te ana­ly­sie­ren. Zwei Autoren sind ehe­ma­li­ge Poli­ti­ker – Klaus von Dohn­anyi (SPD) und Wil­ly Wim­mer (CDU). Der the­ma­ti­sche Rah­men des Ban­des ist gespannt von der Geschich­te der rus­sisch-euro­päi­schen Bezie­hun­gen der letz­ten Jahr­hun­der­te über Ana­ly­sen zur Vor­ge­schich­te des Krie­ges, zu den Erfah­run­gen mit Sank­tio­nen und Wirt­schafts­krie­gen, zur Rol­le der Medi­en in der Kriegs­be­richt­erstat­tung und zur Rol­le der Par­tei Bünd­nis 90/​Die Grü­nen bis hin zu Leh­ren für eine künf­ti­ge Entspannungspolitik.

In der Ein­lei­tung (gemein­sam mit Ste­fan Luft) und in ihrem Bei­trag »Ver­spiel­te histo­ri­sche Chan­cen« zeich­net die Histo­ri­ke­rin und Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin San­dra Kost­ner (Stutt­gart) minu­ti­ös und quel­len­ba­siert die Vor­ge­schich­te des aktu­el­len Krie­ges in der Ukrai­ne seit dem Ver­schwin­den des Eiser­nen Vor­hangs nach. Kein Krieg ist ohne sei­ne Vor­ge­schich­te zu ver­ste­hen – dass die­se Selbst­ver­ständ­lich­keit wie­der beson­ders betont wer­den muss, zeigt, wie unpo­li­ti­sches Den­ken und Pro­pa­gan­da gegen­wär­tig die ver­öf­fent­lich­te Mei­nung domi­nie­ren. Kost­ner kommt zu dem Schluss: »Die Ver­ant­wor­tung für den Angriffs­krieg trägt allein Putin. Aber dar­an, dass es über­haupt an den Punkt gekom­men ist, wo er die Ent­schei­dung traf, einen poli­ti­schen Kon­flikt mili­tä­risch zu lösen, ist die unnach­gie­bi­ge und zu sehr an eige­nen Inter­es­sen ori­en­tier­te Poli­tik der US-geführ­ten Nato mit­ver­ant­wort­lich. Der Westen täte daher sehr gut dar­an, sich selbst­kri­tisch mit den Fol­gen sei­ner kom­pro­miss­lo­sen Poli­tik auseinanderzusetzen.«

Der Histo­ri­ker Jür­gen Wend­ler (Bre­men) stellt ein ahi­sto­ri­sches und von Feind­bil­dern gepräg­tes Russ­land-Bild in der gegen­wär­ti­gen Poli­tik fest. Er ver­weist auf die viel­fäl­ti­gen Bezie­hun­gen zu Russ­land seit Jahr­hun­der­ten. Das vor­herr­schen­de Bild von Gut und Böse sei ein­fäl­tig und wer­de kei­ner Sei­te gerecht. Die Frie­dens­schlüs­se des 19. Jahr­hun­derts sei­en auch des­halb mög­lich und nach­hal­tig gewe­sen, weil poli­tisch-ideo­lo­gi­sche Dif­fe­ren­zen aus­ge­klam­mert wor­den sei­en. Das unter­schei­det die Poli­tik im 19. Jahr­hun­dert von der im 20. und 21. Jahr­hun­dert. Wend­ler resü­miert: »Die Euro­päi­sche Uni­on und ins­be­son­de­re Deutsch­land hät­ten im besten Sin­ne histo­ri­scher Erfah­run­gen die Rol­le eines Brücken­bau­ers spie­len und die Durch­set­zung von für alle Sei­ten akzep­ta­blen Ent­schei­dun­gen för­dern kön­nen. Dass dies nicht gesche­hen ist, ist ein Ver­säum­nis von histo­ri­scher Tragweite.«

Der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Gün­ther Auth geht in sei­nem Bei­trag häu­fig ver­nach­läs­sig­ten The­men wie den wirt­schaft­li­chen Moti­ven anglo­ame­ri­ka­ni­scher Inter­es­sen­grup­pen und ihrer Ver­quickung mit den Regie­run­gen nach. David Teur­trie, Poli­tik­wis­sen­schaft­ler aus Paris, inter­pre­tiert in sei­nem Bei­trag »Krieg in der Ukrai­ne: die Fol­gen der Aus­rich­tung Euro­pas an den stra­te­gi­schen Zie­len der USA« den Ukrai­ne­krieg als Stell­ver­tre­ter­krieg zwi­schen Russ­land und dem Westen. Letz­te­rem sei es nicht gelun­gen, Russ­land welt­weit zu iso­lie­ren. Der Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler Jac­ques Sapir sieht dar­in einen der Grün­de, war­um die Sank­tio­nen der EU und der USA die rus­si­sche Wirt­schafts­kraft sehr viel weni­ger tref­fen als von den Initia­to­ren beab­sich­tigt. Er ver­folgt die Geschich­te von Wirt­schafts­krie­gen zurück bis in die 1920er-Jah­re und belegt mit zahl­rei­chen Wirt­schafts­da­ten, dass die Effek­ti­vi­tät von Sank­tio­nen als gering ein­ge­stuft wer­den muss.

Von Inter­es­se für zeit­ge­schicht­lich Inter­es­sier­te ist auch das Zeit­zeu­gen­ge­spräch mit dem CDU-Poli­ti­ker Wil­ly Wim­mer über deut­sche Poli­tik im Fahr­was­ser US-ame­ri­ka­ni­scher Inter­es­sen. Wim­mer war von 1988-1992 par­la­men­ta­ri­scher Staats­se­kre­tär im Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­ri­um und von 1994-2000 Vize­prä­si­dent der par­la­men­ta­ri­schen Ver­samm­lung der Kon­fe­renz über Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit in Euro­pa (KSZE) bezie­hungs­wei­se der dar­aus her­vor­ge­gan­ge­nen Orga­ni­sa­ti­on für Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit in Euro­pa (OSZE). Er berich­tet aus eige­ner Anschau­ung, dass bereits Anfang der Neun­zi­ger­jah­re ein Kurs­wech­sel in der US-ame­ri­ka­ni­schen Poli­tik zu beob­ach­ten war, der »eine völ­li­ge Abkehr bedeu­te­te, und zwar inner­halb sehr kur­zer Zeit, von allen Ver­ein­ba­run­gen des Nato-Gip­fels vom Som­mer 1990, von den Ver­si­che­run­gen, die Gor­bat­schow im Rah­men der Ver­ein­ba­rung zur Wie­der­ver­ei­ni­gung Deutsch­lands hin­sicht­lich der Nato-Erwei­te­rung münd­lich gege­ben wur­den, und natür­lich auch (…) der Char­ta von Paris«. Wim­mer kon­sta­tiert: »Russ­land kämpft dage­gen, aus Euro­pa ver­drängt zu wer­den. Die­se Ver­drän­gung ist eine Vor­aus­set­zung dafür, dass die USA ihre Hege­mo­nie­plä­ne umset­zen kön­nen. Den USA geht es dar­um, eine gesamt­eu­ro­päi­sche Zusam­men­ar­beit, die Russ­land ein­be­zieht, zu ver­hin­dern, weil dies ihre Plä­ne durch­kreu­zen wür­de. Eine trag­fä­hi­ge Frie­dens­lö­sung wird nicht mög­lich sein, wenn die USA an ihren Plä­nen festhalten.«

Die Medi­en­wis­sen­schaft­le­rin Sabi­ne Schif­fer befasst sich in ihrem Bei­trag »Von Euphe­mis­men, Deu­tungs­rah­men und Dop­pel­stan­dards« mit Arbeits­wei­sen und Tech­ni­ken im Jour­na­lis­mus und stellt dabei eine weit­ver­brei­te­te Vor­ein­ge­nom­men­heit und selek­ti­ve Wahr­neh­mung fest. Die Ergeb­nis­se von Framing (»Per­spek­tiv­ge­bung bei einem Sach­ver­halt durch sprach­li­che und bild­li­che Mit­tel sowie vie­le wei­te­re«) schil­dert sie am Bei­spiel zahl­rei­cher The­men­fel­der. Schif­fers Dar­stel­lung erklärt vie­les von dem, was gegen­wär­tig in den Medi­en zum Krieg ver­öf­fent­licht bzw. nicht ver­öf­fent­licht wird.

Wei­te­re Bei­trä­ge – etwa »Die Grü­nen und der Krieg« (Ste­fan Luft) oder »Augen zu und rein: Deutsch­land im Krieg« von Wolf­gang Stre­eck – legen Zusam­men­hän­ge frei, die für das Ver­ständ­nis unse­rer Zeit sehr för­der­lich sind. In dem abschlie­ßen­den Teil des Buches »Aus­blicke und Ein­sich­ten« betont Klaus von Dohn­anyi: »Frie­den kann es nur mit und nicht gegen Russ­land geben«. Er betont: »Die The­se, mit Putin redet man nicht, ist ein Ver­ge­hen gegen die poli­ti­sche Ver­nunft, solan­ge Putin an der Macht und zu gefähr­lich für die Exi­stenz nicht nur Euro­pas ist.«

Der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Ste­fan Luft (Bre­men) run­det mit sei­nem Bei­trag »Deutsch­land und der Krieg. Leh­ren für eine künf­ti­ge Ent­span­nungs­po­li­tik« den Band ab. Er ver­wirft die auch in der SPD stark ver­tre­te­ne The­se, die Ent­span­nungs­po­li­tik sei geschei­tert. Viel­mehr sei die Poli­tik der Kon­fron­ta­ti­on seit dem Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on und des War­schau­er Pakts geschei­tert, indem sie zu den mas­si­ven poli­ti­schen Span­nun­gen und letzt­end­lich auch zur Ent­schei­dung für die­sen Krieg bei­getra­gen habe. Luft plä­diert für kon­kre­te Frie­dens­in­itia­ti­ven aus Euro­pa, was zur Vor­aus­set­zung hat, die gegen­wär­ti­ge Poli­tik vom Kopf auf die Füße zu stel­len. Zahl­rei­che Hand­lungs­op­tio­nen stellt er zur Debat­te (unter ande­rem Rüstungs­kon­trol­le und Abrü­stung, Ver­trau­ens- und sicher­heits­bil­den­de Maß­nah­men). Das Buch schließt mit den Wor­ten: »Egon Bahrs Ver­mächt­nis ›Es ist Euro­pas Ver­ant­wor­tung, dass Koope­ra­ti­on zum Schlüs­sel­wort unse­res Jahr­hun­derts wird‘ darf nicht leicht­fer­tig in den Wind geschla­gen wer­den. Auch sein Kon­zept ‚Wan­del durch Annä­he­rung‹ war Mit­te der 1960er-Jah­re eine Pro­vo­ka­ti­on. Heu­te ist es das auch. Das ist kein Grund, es nicht zu wagen.«

In dem Band sind aus­schließ­lich fun­dier­te und auch ver­ständ­lich geschrie­be­ne Bei­trä­ge ent­hal­ten. Sie geben zahl­lo­se wert­vol­le Hin­wei­se für ein bes­se­res Ver­ständ­nis der vor­herr­schen­den Poli­tik, die zum Wei­ter­den­ken anre­gen. Das Buch kann ohne Zwei­fel als Doku­ment der Zeit­ge­schich­te bezeich­net wer­den. Ihm ist eine wei­te Ver­brei­tung zu wünschen.

Ukrai­ne­krieg. War­um Euro­pa eine neue Ent­span­nungs­po­li­tik braucht. Her­aus­ge­ge­ben von San­dra Kost­ner und Ste­fan Luft, Frank­furt am Main 2023, 352 S., 24 €.