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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Geheime Mächte oder reale Verhältnisse?

Angst vor dem Erstar­ken der Par­tei AfD treibt die Bun­des­re­gie­rung und die Par­tei­en um. Sie bil­den des­halb zusam­men mit den Leit­me­di­en eine Ein­heits­front, um den dro­hen­den Sie­ges­zug der rechts­extre­men Kon­kur­renz ein­zu­däm­men. Bis­lang ohne Erfolg. Das hat Gründe.

Wahl­pro­gno­sen in Bund und Län­dern geben in der Tat Anlass zur Sor­ge. Längst zit­tert die Rechts­par­tei nicht mehr um den Ein­zug in die Par­la­men­te; sie kann gelas­sen abwar­ten und zuse­hen, wo sie den ersten oder »nur« den zwei­ten Platz belegt. Doch wer erwar­tet, dass Poli­ti­ker, Wis­sen­schaft­ler und Medi­en nach Grün­den für die­sen Trend suchen, etwa die Wirt­schafts- und Gesell­schafts­po­li­tik im neo­li­be­ral radi­ka­li­sier­ten Kapi­ta­lis­mus ana­ly­sie­ren und über­zeu­gen­de Gegen­stra­te­gien ent­wickeln, täuscht sich.

Sofern über­haupt nach Ursa­chen gesucht wird, bedie­nen vie­le das fast schon ras­si­stisch anmu­ten­de Kli­schee von der Ossi-Men­ta­li­tät, die durch die DDR-Dik­ta­tur geprägt wor­den sei. Alt­bun­des­prä­si­dent Joa­chim Gauck ver­or­tet das rech­te Wahl­ver­hal­ten in der Prä­gung der DDR-Men­schen durch die lan­ge poli­ti­sche Ohn­macht (natür­lich nicht nach 1990) und die star­ke Bin­dung an auto­ri­tä­re Füh­rung (vor 1990). Die grü­ne Bun­des­tags­vi­ze Kat­rin Göring-Eckardt mut­maßt, die Ost­deut­schen sei­en irgend­wo in der Dik­ta­tur­ver­herr­li­chung hängengeblieben.

Sol­che Äuße­run­gen und die dahin­ter­ste­hen­den Ein­stel­lun­gen sind igno­rant und über­heb­lich; sie betrei­ben in der Kon­se­quenz das Geschäft der AfD. Die Urtei­len­den las­sen sich in ihrem Dün­kel nicht ein­mal durch Ergeb­nis­se des Polit­ba­ro­me­ters für Sep­tem­ber irri­tie­ren, die die AfD als zweit­stärk­ste Par­tei aus­weist – und zwar für ganz Deutsch­land. Und wie schaf­fen es sol­che Polit­funk­tio­nä­re, die Augen davor zu ver­schlie­ßen, dass in den mei­sten Län­dern der EU rech­te bis faschi­sti­sche Par­tei­en die Macht erobern oder erheb­li­chen Ein­fluss haben: in Ita­li­en, Spa­ni­en, Frank­reich, Öster­reich, Finn­land, Schwe­den, Slo­wa­kei, Griechenland …?

Wenn jetzt die Fest­tags­re­den zum »Tag der deut­schen Ein­heit« ver­klun­gen sind, kann man dar­an erin­nern: »Die skan­da­lö­se Ent­eig­nung des Ostens ist wei­ter tabu«, wie David Goeß­mann die Lage zusam­men­fasst. Er weist auf die Bilanz der Publi­zi­stin Danie­la Dahn hin, einst Grün­dungs­mit­glied des Demo­kra­ti­schen Auf­bruchs, wonach sich die Zahl der bun­des­deut­schen Mil­lio­nä­re mit der »Wie­der­ver­ei­ni­gung« auf über eine Mil­li­on ver­dop­pel­te, wäh­rend im Osten die Zahl der Arbeits­lo­sen von null auf vier Mil­lio­nen stieg. »Immer lief es dar­auf hin­aus, den Inter­es­sen von west­deut­schen Ban­kern, Unter­neh­mern, Agrar­in­ve­sto­ren, Mana­gern, Poli­ti­kern und Kul­ture­li­ten Vor­rang vor den Bedürf­nis­sen der Bür­ger im Osten ein­zu­räu­men.« Die Gewin­ner haben die Macht über­nom­men, schrei­ben die Geschich­te und ver­ach­ten die Verlierer.

Eine ande­re Art über­heb­li­cher Vor­ein­ge­nom­men­heit las­sen auch Umfra­gen erken­nen, die der­zeit brei­te Publi­zi­tät erfah­ren. Nach einer Stu­die zum The­ma »rechts­po­pu­li­sti­sches Welt­bild« (»Demo­kra­tie-Moni­to­ring« der Uni­ver­si­tät Hohen­heim) glaubt jeder Vier­te, die Poli­tik sei von »gehei­men Mäch­ten« gesteu­ert; jeder Fünf­te meint, Mas­sen­me­di­en wür­den die Bevöl­ke­rung »syste­ma­tisch belü­gen«. Die­se Wort­wahl gibt die Befra­gung vor und inter­pre­tiert Zustim­mung als rech­tes Welt­bild. Die mei­sten Befrag­ten wür­den wohl nicht über gehei­me Mäch­te faseln; aller­dings erle­ben sie, dass sich ihre Lebens­ver­hält­nis­se ver­schlech­tern und sie dage­gen ohn­mäch­tig sind. Sie machen die Erfah­rung, dass ein Heer von Kon­zern- und Ban­ken-Lob­by­isten Ein­fluss auf poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen nimmt, dass EU-Geset­ze zu wich­ti­gen The­men unter Aus­schluss der Öffent­lich­keit beschlos­sen wer­den. Sie hören von Geheim­ver­trä­gen, die die EU-Kom­mis­si­ons­che­fin von der Ley­en ohne Man­dat per SMS mit dem Phar­ma­rie­sen Pfi­zer abge­schlos­sen hat, von der Mil­li­ar­den-Kun­ge­lei von Bän­kern und Poli­ti­kern bei CumEx, und sie ken­nen auch zahl­rei­che Poli­ti­ker mit lukra­ti­ver Anschluss­ver­wen­dung in der Wirt­schaft. Ver­schwö­rung, gehei­me Mäch­te – oder rea­le Ver­hält­nis­se, deren Kri­tik zur gei­sti­gen Ver­wir­rung gestem­pelt wird?

Woll­ten Umfra­gen wirk­lich erfas­sen, wie die Men­schen den­ken und füh­len, müss­ten die Fra­gen ihre Lebens­rea­li­tät berück­sich­ti­gen, etwa so: Hal­ten Sie die Kluft zwi­schen Arm und Reich für ver­ein­bar mit dem sozia­len Rechts­staat? Wer­den die Inter­es­sen der Bevöl­ke­rung an einer gut funk­tio­nie­ren­den Daseins­vor­sor­ge (Gesund­heit, Woh­nen, sozia­le Siche­rung) von den Regie­ren­den umge­setzt? Fin­den Sie es rich­tig, dass Kon­zer­ne Ein­fluss auf poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen und Geset­ze neh­men? Neh­men Ihrer Ansicht nach Medi­en ihre Auf­ga­be der Kon­trol­le der Mäch­ti­gen aus­rei­chend wahr?

Ant­wor­ten auf sol­che Fra­gen könn­ten nicht nur über Mei­nun­gen Auf­schluss geben, son­dern auch über die Ursa­chen des euro­pa­wei­ten Anwach­sens rech­ter Grup­pen. Die­se grei­fen manch­mal rea­le Pro­ble­me der Leu­te auf, bie­ten aber men­schen­feind­li­che Ideo­lo­gien und wei­ter spal­ten­de neo­li­be­ra­le Rezep­te als Lösung. Wenn aber Poli­ti­ker Kri­tik an unde­mo­kra­ti­scher Macht­kon­zen­tra­ti­on mit Rechts­po­pu­lis­mus gleich­set­zen, deren Schein­lö­sun­gen sie teil­wei­se sogar kopie­ren, bestär­ken sie die Ver­hält­nis­se, die zum Erstar­ken auto­ri­tä­rer, teils faschi­sti­scher Kräf­te führen.

Der­zeit fin­det ein Über­bie­tungs­wett­be­werb bei der Bekämp­fung der Flücht­lin­ge statt der Flucht­ur­sa­chen statt. Men­schen­ver­ach­ten­de rechts­extre­me Ideo­lo­gie wird nicht huma­ner, wenn sie von bür­ger­li­chen Par­tei­en kopiert wird und als Grund­la­ge der EU-Außen­ab­schot­tung dient. Nach Anga­ben des UNHCR ist die Zahl der Todes­op­fer auf dem Mit­tel­meer von Anfang Janu­ar bis Sep­tem­ber auf über 2.500 gestie­gen. Seit 2014 star­ben auf der Flucht über das Mit­tel­meer und durch die Saha­ra etwa 34.000 Men­schen. Die Zahl der Flücht­lin­ge weckt in Deutsch­land Äng­ste, zumal die ele­men­ta­re Ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung ohne­hin nicht gewähr­lei­stet ist, sich spür­bar ver­schlech­tert und Lösungs­ver­spre­chen der Koali­ti­on noch mehr sozia­le Ungleich­heit schaf­fen. Mit die­ser berech­tig­ten und nach­voll­zieh­ba­ren Angst gewinnt die AfD Zulauf – und die Poli­ti­ker in Bund und Län­dern ver­su­chen, ihr das The­ma strei­tig zu machen, indem sie, wie auch die EU-Poli­tik, Grund­rech­te abschaf­fen und jede Mensch­lich­keit auf­ge­ben, um Men­schen von der Flucht abzu­hal­ten und ein Leben hier unmög­lich zu machen.

Das The­ma ist bekannt­lich kom­plex und kann ange­mes­sen nur durch Besei­ti­gung der Flucht­grün­de wie Krie­ge, Aus­beu­tung, unge­rech­te Han­dels­ver­trä­ge und auf­ge­zwun­ge­ne neo­li­be­ra­le »Struk­tur­an­pas­sungs­pro­gram­me« gelöst wer­den. Dazu Ex-Bun­des­mi­ni­ster für wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit Gerd Mül­ler (CSU!) 2016: »Wir haben unse­ren Wohl­stand auf dem Rücken der Ent­wick­lungs­län­der auf­ge­baut. Das wird nicht mehr lan­ge gut gehen. Die­se Span­nun­gen ent­la­den sich. Dann ist egal, was wir hier fest­le­gen. Die Men­schen wer­den uns nicht fra­gen, ob sie kom­men können.«

Auf­fal­lend bleibt, dass die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen ein ande­res The­ma der AfD zwang­haft mei­den, obwohl sei­ne Behand­lung den Bedürf­nis­sen gro­ßer Tei­le der Bevöl­ke­rung ent­spre­chen wür­de: Frie­dens­ver­hand­lun­gen, um den Krieg in der Ukrai­ne been­den zu kön­nen. In den letz­ten Mona­ten hat­te die AfD meh­re­re Initia­ti­ven ergrif­fen, um dem Schlach­ten in dem Stell­ver­tre­ter­krieg ein Ende zu berei­ten, hat­te sich im Bun­des­tag gegen mili­tä­ri­sche Hil­fen für die Ukrai­ne und für Frie­dens­ver­hand­lun­gen mit Mos­kau und die Inbe­trieb­nah­me der Gas­pipe­line Nord Stream 2 aus­ge­spro­chen. Erst kürz­lich trat die AfD-Frak­ti­on für sofor­ti­ge Frie­dens­ver­hand­lun­gen unter OSZE-Ver­mitt­lung ein. Eigent­lich wären Bun­des­re­gie­rung und Par­tei­en ver­pflich­tet, Frie­dens­in­itia­ti­ven nicht den Rechts­extre­men zu überlassen.