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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Aufsteigende Schatten

»Knallt ab den Walt­her Rathen­au, die gott­ver­fluch­te Juden­sau«, san­gen die Rech­ten in den Anfangs­jah­ren der Wei­ma­rer Repu­blik, und so geschah es dann auch. Am 24. Juni 1922 wur­de der von ihnen gehass­te Reichs­au­ßen­mi­ni­ster am hell­lich­ten Tag in Ber­lin auf offe­ner Stra­ße im Auto ermor­det. So weit sind wir heu­te noch nicht, aber der alte Hass auf alles, was nicht ins deutsch-völ­ki­sche Welt­bild passt, ist immer noch vorhanden.

Heu­te wer­den kei­ne Hass­ge­sän­ge ange­stimmt, heu­te tobt sich der rech­te Mob im Inter­net aus, und gemor­det wird hin­ter­rücks per Kopf­schuss, wie das bei dem Ver­bre­chen an dem Kas­se­ler Regie­rungs­prä­si­den­ten der Fall zu sein scheint. Er hat­te sich bei den Rech­ten durch sei­ne offe­ne Hal­tung gegen­über Flücht­lin­gen unbe­liebt gemacht. Und wie­der ein­mal geben sich alle ent­setzt, dass einer aus der rech­ten Ecke die Tat aus­ge­führt haben könn­te. Dabei liegt die NSU-Mord­se­rie noch gar nicht so lan­ge zurück, als dass man nicht von vorn­her­ein einen rechts­extre­mi­sti­schen Hin­ter­grund hät­te ver­mu­ten können.

Bun­des­in­nen­mi­ni­ster Horst See­ho­fer, der den Rech­ten lan­ge genug nach Mun­de gere­det hat, kom­men­tier­te das Gesche­hen unter ande­rem mit den Wor­ten: »Ein rechts­extre­mi­sti­scher Anschlag auf einen füh­ren­den Reprä­sen­tan­ten des Staa­tes ist ein Alarm­si­gnal, rich­tet sich gegen uns alle.« Mit Ver­laub, Herr Mini­ster: Und was ist mit den min­de­stens 169 Men­schen, die in Deutsch­land seit 1990 Opfer rechts­extre­mi­stisch moti­vier­ter Mor­de gewor­den sind, wie eine gemein­sa­me Recher­che von Tages­spie­gel und Zeit online ergab? Jedes ein­zel­ne der Opfer muss­te doch als Alarm­si­gnal auf­ge­fasst wer­den. 169 Alarm­si­gna­le. Aber immer blieb es nur bei schö­nen Wor­ten des Bedauerns.

So konn­ten rechts­extre­mi­sti­sche Netz­wer­ke ent­ste­hen, deren Ange­hö­ri­ge sich seit Jah­ren heim­lich mit Waf­fen ver­sor­gen. Wie die Bun­des­re­gie­rung auf Anfra­ge der Links­frak­ti­on im Bun­des­tag mit­teil­te, haben sich seit 2015 deut­sche Rechts­extre­mi­sten zwölf Mal zu Schieß­übun­gen im Aus­land getrof­fen (Bild, 19.6.2019). Ist es nicht beun­ru­hi­gend, dass rech­te Gewalt­tä­ter Poli­zi­sten nicht mehr so sehr als Geg­ner zu betrach­ten schei­nen, son­dern, wie die Süd­deut­sche Zei­tung schreibt, als mög­li­che Ver­bün­de­te? Allein in Hes­sen lau­fen – der­sel­ben Quel­le zufol­ge – 38 Ermitt­lungs­ver­fah­ren gegen Poli­zi­sten wegen rechts­extre­mi­sti­scher Umtriebe.

Aus­ge­rech­net in die­ser Situa­ti­on plä­dier­te der ehe­ma­li­ge Bun­des­prä­si­dent Joa­chim Gauck für eine »erwei­ter­te Tole­ranz in Rich­tung rechts«. Fas­sungs­los fragt man sich, was Joa­chim Gauck wohl bewo­gen haben mag, im Gespräch mit dem Spie­gel so daher zu schwa­dro­nie­ren. Nach sei­nen Wor­ten muss die CDU für einen bestimm­ten Typus des Kon­ser­va­ti­ven wie­der eine Hei­mat wer­den. Frü­her sei­en die­se Men­schen in der CDU/​CSU von Alfred Dreg­ger und Franz Josef Strauß behei­ma­tet gewesen.

Kön­nen die bei­den wirk­lich nach dem Geschmack eines frü­he­ren deut­schen Bun­des­prä­si­den­ten sein? Dreg­ger hielt den Angriff auf die Sowjet­uni­on nur des­halb für falsch, weil er nicht als Befrei­ungs­krieg, son­dern als Erobe­rungs­krieg geführt wor­den sei, wie er in sei­nem Buch »Der Preis der Frei­heit« auf Sei­te 11 schreibt. War es viel­leicht das, was Gauck davon abhielt, Russ­land einen offi­zi­el­len Besuch abzu­stat­ten und sich vor den Opfern des deut­schen Ver­nich­tungs­krie­ges zu ver­nei­gen? Franz Josef Strauß sei­ner­seits rela­ti­vier­te die deut­sche Schuld am Zwei­ten Welt­krieg mit den Wor­ten, die »syste­ma­ti­sche Dif­fa­mie­rung des deut­schen Vol­kes« soll­te mit aller Ent­schie­den­heit bekämpft wer­den. Hit­lers Ein­marsch in Polen sei schließ­lich nicht denk­bar gewor­den ohne die Hal­tung Groß­bri­tan­ni­ens, das Hit­ler in sei­nem Wahn bestärkt habe. (Frank­fur­ter All­ge­mei­ne, 8.2.1965)

Was unter­schei­det die Äuße­run­gen von Strauß und Dreg­ger eigent­lich von der Aus­sa­ge des AfD-Par­tei- und Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den Alex­an­der Gau­land, Hit­ler und die Nazis sei­en nur ein »Vogel­schiss in über 1000 Jah­ren erfolg­rei­cher deut­scher Geschich­te«? Auch der frü­he­re Prä­si­dent des Bun­des­am­tes für Ver­fas­sungs­schutz, Hans-Georg Maa­ßen, pro­mi­nen­tes Mit­glied der kon­ser­va­ti­ven Wer­te­uni­on der CDU/​CSU, scheint sich das zu fra­gen. Er schließt eine Zusam­men­ar­beit von CDU und AfD in den ost­deut­schen Bun­des­län­dern für die Zukunft nicht gene­rell aus. Im Deutsch­land­funk sag­te er die­ser Tage: »Ich glau­be, in der jet­zi­gen Situa­ti­on wer­den wir es auch aus­schlie­ßen, dass es zu einer der­ar­ti­gen Koali­ti­on kommt, aber man weiß nie.«

»Ich sehe Schat­ten auf­stei­gen, wohin ich mich wen­de. Ich sehe sie, wenn ich abends durch die gel­len­den Stra­ßen von Ber­lin gehe; wenn ich die Indo­lenz unse­res wahn­sin­nig gewor­de­nen Reich­tums erblicke; wenn ich die Nich­tig­keit kraft­strot­zen­der Wor­te ver­neh­me.« Das schrieb Walt­her Rathen­au 1911, in der angeb­lich so gol­de­nen Zeit vor dem Ersten Welt­krieg, wie die legen­dä­re Mari­on Grä­fin Dön­hoff sich am 3. Janu­ar 1969 in der Zeitaus­drück­te. Elf Jah­re nach sei­nen ahnungs­vol­len Äuße­run­gen wur­de Rathen­au ermordet.