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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Alpen-Krimi wie es ihn noch nie gab

»Manch­mal, o glück­li­cher Augen­blick, bist du in ein Buch so ver­tieft, dass du in ihm ver­sinkst – du bist gar nicht mehr da.« So beschrieb Kurt Tuchol­sky die Situa­ti­on, wie ich sie zuletzt bei Stieg Lars­sons Büchern emp­fand. Und jetzt wie­der: »Hin­ter­wald« von Lissbeth Lut­ter hat­te ich in den Hän­den. Es war wie bei den Lars­son-Büchern. Damals traf man Men­schen in der S-Bahn, die dar­in ver­tieft waren. Han­dys blie­ben unbe­ach­tet. Die Sta­ti­on, da man aus­stei­gen muss­te, auch. So wird es bei »Hin­ter­wald« wie­der sein, wenn nur genü­gend Leu­te davon erfahren.

»Die­se Geschich­te ist aus­ge­dacht. Sie ist dar­um nicht weni­ger wahr.« So steht es vor­ne­an. Das Aus­ge­dach­te ist ein span­nen­der Roman mit poli­ti­schem Hin­ter­grund. Anti­fa­schi­sten ent­lar­ven die Vor­ge­schich­te einer Alpen­ge­mein­de, in der jene Vete­ra­nen leben, die einst, alle ver­eint in einem Batail­lon der Gebirgs­jä­ger der Wehr­macht durch Grie­chen­land zie­hend, sich schwe­rer Kriegs­ver­bre­chen schul­dig mach­ten. In »Hin­ter­wald« haben sie auch als alte Leu­te noch das Sagen. Die Gemein­de bringt das Kunst­stück fer­tig, als Tou­ri­sten­zen­trum beliebt zu sein und die Ver­bre­chen zu ver­schwei­gen. Bis die Anti­fa-Grup­pe aus Nord­rhein-West­fa­len auf den Plan tritt. Die Lage eska­liert. Eine jun­ge Jour­na­li­stin am Ort wit­tert ihre Chan­ce zu gro­ßen Sto­rys. Die dür­fen nicht erschei­nen, der Jour­na­li­stin droht der Tod durch Vete­ra­nen­hand. Sie ver­bün­det sich mit den Anti­fas, mit den Demon­stran­ten, ver­liebt sich in eine der Anfüh­re­rin­nen – was die Lage nicht unge­fähr­li­cher macht. Je ein Toter im Kreis der Recher­cheu­re und der Wehr­machts­mör­der beschäf­ti­gen Staats­schutz und Medi­en. Mehr wird hier nicht verraten.

Und dann das »nicht weni­ger Wah­re«. Es hat die Aktio­nen in Mit­ten­wald wirk­lich gege­ben mit alten und jun­gen Anti­fa­schi­sten gegen alte und jun­ge Gebirgs­jä­ger. Ab 2002 sie­ben Jah­re lang. Tote gab es vie­le – das waren jene, die den Nazi­sol­da­ten zum Opfer fie­len. Jedoch kei­ne Toten in der Jetzt­zeit. Aller­dings: Mund­tot gemacht wer­den soll­ten die Recher­cheu­re durch­aus. Ruf­mord war an der Tages­ord­nung. Die Recher­cheu­re kamen aus der auto­no­men Anti­fa und aus der Ver­ei­ni­gung der Ver­folg­ten des Nazi­re­gimes – Bund der Anti­fa­schi­stin­nen und Anti­fa­schi­sten (VVN-BdA). Auch Mor­de der Vete­ra­nen unter­ein­an­der wären im wirk­li­chen Leben nicht aus­ge­schlos­sen gewe­sen. Man lese nur mal Juli­us Maders »Ban­di­ten­schatz«, Berlin/​DDR 1966. Da kom­men sogar in der Haft jene SS-Leu­te um, die aus­zu­stei­gen und aus­zu­sa­gen drohen.

Der Kame­ra­den­kreis der Gebirgs­jä­ger unter­nahm – unter­stützt von Justiz und Staats­schutz – sehr viel, um die Recher­cheu­re mund­tot zu machen. Man prä­sen­tier­te gefälsch­te staats­an­walt­schaft­li­che Brie­fe, um Ver­fah­ren gegen Anti­fa­schi­sten aus­zu­lö­sen. Zwei­mal gab es in Nürn­berg Gerichts­ver­fah­ren, die vor allem Dank Rechts­an­walt Eber­hard Rei­necke aus Köln gut für die Anti­fa­schi­sten aus­gin­gen. Doch ein beschlag­nahm­tes VVN-Archiv blieb als Kopie im Besitz des Staats­schut­zes. In dem Archiv sind die Namen und Trup­pen­tei­le sowie Tat­or­te gesam­melt, Fak­ten zu den wider­lich­sten mas­sen­haf­ten Ver­bre­chen gegen die Zivil­be­völ­ke­rung in Grie­chen­land und Ita­li­en. »Sol­che Maß­nah­men gegen uns konn­ten nicht ver­hin­dern, dass wir Fak­ten prä­sen­tier­ten und öffent­lich Ankla­ge erho­ben; Medi­en grif­fen unse­re Ver­öf­fent­li­chun­gen auf«, berich­te­te einer der Akteu­re. Rund 100 Vete­ra­nen wur­den ange­zeigt bei der Lud­wigs­bur­ger Zen­tral­stel­le für NS-Mas­sen­ver­bre­chen. Die Ver­jäh­rung von Tot­schlag bewahr­te die Ver­bre­cher vor Haft und eben­so die Rege­lung, dass nicht der kol­lek­ti­ve Mord zur Ver­ur­tei­lung füh­ren konn­te, son­dern nur die kon­kret und ein­zeln nach­ge­wie­se­ne Tat. In einem Fall kam es den­noch zur Ver­ur­tei­lung eines Gebirgs­jä­gers. Aller­dings starb er vor Haft­an­tritt. Ande­re Täter wur­den in Ita­li­en ver­ur­teilt, blie­ben aber auf frei­em Fuß, denn Deutsch­land lie­fer­te sie nicht aus.

Die Wirk­lich­keit war so span­nend wie es der Roman nun ist. Was dar­in fehlt, steht in der von der VVN-BdA vor­ge­leg­ten Doku­men­ta­ti­on »Eine Mords­trup­pe« – die Wahr­heit über den völ­kisch-mili­ta­ri­sti­schen Gebirgs­jä­ger-Kame­ra­den­kreis. In einer Hin­sicht bleibt der Roman hin­ter der Wirk­lich­keit zurück – was sei­ne Span­nung und Les­bar­keit kei­nes­wegs min­dert. Die Bun­des­wehr taucht im Roman nur als Fan­klub für die alten Kame­ra­den auf, nicht aber als eine Kraft, die in der Tra­di­ti­on der Nazi­ge­birgs­jä­ger blieb. Auf den Pfingst­tref­fen der alten und jun­gen Gebirgs­trupp­ler haben regel­mä­ßig Ver­bre­chens­be­tei­lig­te gespro­chen – sie waren wie­der bei der Trup­pe, und die­ser Dienst schütz­te sie vor Straf­ver­fol­gung. Und auch die Gene­ra­li­tät war bei den Tref­fen wie­der ver­tre­ten: Ent­we­der in Gestalt des Karl-Wil­helm Thi­lo, der es zum Kom­man­deur in Maze­do­ni­en brach­te und dann stell­ver­tre­ten­der Hee­res­in­spek­teur der Bun­des­wehr wur­de. Oder die Gene­rä­le der Gebirgs­trup­pe Klaus Rein­hardt und Gene­ral­inspek­teur Klaus Nau­mann. Der eine war Bun­des­wehr­kom­man­deur im Koso­vo, der ande­re begrün­de­te die »neue« Bun­des­wehr nach 1990. Und bei­de ver­tei­dig­ten die Nazi­trup­pe und ihre Ver­bre­chen, wo immer sich eine Gele­gen­heit bot. Sol­che Gele­gen­hei­ten erga­ben sich in Hin­ter­wald, par­don, Mit­ten­wald sehr oft.

Lissbeth Lut­ter: »Hin­ter­wald«, Ver­lag de Noan­tri, 473 Sei­ten, 20 €