Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Der Krieg, der nicht vergeht

Fern der Hei­mat, auf dem US-Stütz­punkt Guam ver­kün­de­te Bun­des­ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin Kramp-Kar­ren­bau­er jüngst: »Wir kämp­fen für Demo­kra­tie, Frei­heit und eine auf Regeln basier­te Ord­nung. (…) In Euro­pa ist Russ­land der Geg­ner, hier eher Chi­na« (Zeit 24/​2021). 80 Jah­re nach dem deut­schen Angriff auf die Sowjet­uni­on wis­sen wir also wie­der, wo der Feind steht: im Osten. Ler­nen aus der Geschich­te, eine von Ver­bre­chen in der Sowjet­uni­on beschäm­te Kanzlerin?

Das Blei­ben­de in der Erin­ne­rung an den Zwei­ten Welt­krieg, den Kampf gegen den deut­schen, ita­lie­ni­schen Faschis­mus und japa­ni­schen Mili­ta­ris­mus ist der müh­se­li­ge, aber aus­ch­lag­ge­ben­de gemein­sa­me Kampf von Staa­ten unglei­cher, ja poli­tisch kon­trä­rer Posi­tio­nen in einer Anti­hit­ler­ko­ali­ti­on, die sowje­ti­sche Arbei­ter mit bri­ti­schen Lords, fran­zö­si­schen Prie­stern, ita­lie­ni­schen Bau­ern und jugo­sla­wi­schen Berg­leu­ten vereinte.

Es war sowje­ti­scher­seits der gemein­sa­me Krieg aller Völ­ker der Sowjet­uni­on, die trotz der sta­li­ni­sti­schen Will­kür­herr­schaft in der Stun­de der Gefahr in der über­wie­gen­den Mehr­zahl für ihren neu­en Staat ein­tra­ten und ihn mit ihrem Leben ver­tei­dig­ten. Es war gemein­sa­mes Kämp­fen, Lei­den und Sie­gen. Hier aus­ein­an­der­zu­di­vi­die­ren, hat nichts mit der rea­len Geschich­te zu tun. Dass Ukrai­ner, Bel­o­rus­sen, die Bür­ger der bal­ti­schen Repu­bli­ken – teils gera­de erst mit Über­re­dung und Zwang wie­der in den einst groß­rus­si­schen, nun sowje­ti­schen Staats­ver­band hin­ein­ge­drängt – die Haupt­last des Kamp­fes tru­gen und die mei­sten Opfer brach­ten, ändert dar­an wenig.

Mos­kau stellt immer wie­der sei­ne beson­de­re Lei­stung in die­sem Gro­ßen Vater­län­di­schen Krieg her­aus. Das empört etwa den FAZ-Autor Fried­rich Schmidt, weil »Putin den Krieg als Argu­ment gegen Russ­lands aktu­el­le äuße­re Geg­ner in Stel­lung« bringt. Er blen­de die Lei­stung der Alli­ier­ten aus und bekla­ge, dass Mos­kau in die­sem Krieg allein gelas­sen wur­de (FAZ 15.5.21). Abge­se­hen davon, dass die USA und Groß­bri­tan­ni­en geschla­ge­ne drei Jah­re brauch­ten, um im Juni 1944 end­lich in West­eu­ro­pa zu lan­den, und die 1942 anlau­fen­den Hilfs­lie­fe­run­gen nur einen Teil der mate­ri­el­len und kei­nes­wegs die mensch­li­chen Lasten kom­pen­sie­ren konn­ten, ist sol­che Geschichts­kri­tik nichts ande­res als Geschichts­klit­te­rung. Groß­zü­gig wird über­se­hen, dass der rus­si­sche Prä­si­dent vor einem Jahr in einem bemer­kens­wer­ten Grund­satz­ar­ti­kel die Pro­ble­me des Vor­kriegs wie des Krie­ges ab 1939 ana­ly­sier­te, sowje­ti­sche Ver­säum­nis­se benann­te und die Anti-Hit­ler-Koali­ti­on wür­dig­te. Putin schrieb: »Alle füh­ren­den Län­der haben sei­nen Aus­bruch in dem einen oder ande­rem Maße zu ver­ant­wor­ten. Jedes von denen hat nicht wie­der gut zu machen­de Feh­ler in der selbst­ge­fäl­li­gen Zuver­sicht began­gen, dass man ande­re über­li­sten, ein­sei­ti­ge Vor­tei­le für sich gewin­nen und dem her­an­rücken­den glo­ba­len Unheil aus­wei­chen kann.« Er ver­band die­se auch selbst­kri­ti­sche Ein­sicht mit der Rück­be­sin­nung auf die Anti-Hit­ler-Koali­ti­on: »Den Sieg brach­ten die Bemü­hun­gen aller Län­der und Völ­ker, die mit einem gemein­sa­men Feind kämpf­ten« (jW 25.6.20). Putins Auf­satz lässt sich vor allem als Ange­bot lesen, über ein­sti­ge wie heu­ti­ge Block­gren­zen hin­weg zu neu­er Gemein­sam­keit zu fin­den. Auch 2021 plä­diert er erneut »für die Wie­der­her­stel­lung einer umfas­sen­den Part­ner­schaft« mit Euro­pa (Zeit 26/​2021).

Der Sieg der unglei­chen Alli­ier­ten brach­te die Chan­ce – wie im Pots­da­mer Abkom­men fixiert – für Den­a­zi­fi­zie­rung, Demi­li­ta­ri­sie­rung, Dezen­tra­li­sie­rung, Demo­kra­ti­sie­rung. Dies wur­de in Deutsch­land zunächst erfolg­reich begon­nen, wenn auch bald durch den Kal­ten Krieg über­la­gert. In den Besat­zungs­zo­nen wur­de unter­schied­lich mit dem faschi­sti­schen Müll und den alten Eli­ten umge­gan­gen. Aber trotz der System­aus­ein­an­der­set­zung ein­te, dass die Nazi-Bar­ba­rei nicht wie­der­keh­ren und bei­de Deutsch­län­der je nach ihrer Façon demo­kra­tisch gestal­tet wer­den sollten.

Zugleich gab es die Her­aus­for­de­rung in den von den deut­schen Besat­zern befrei­ten Gebie­ten, dort eben­falls einen Neu­an­fang zu wagen. Auch wenn es in War­schau, Prag oder Buda­pest gern ver­ges­sen wird: Sowje­ti­sche Bajo­net­te mögen neue Macht­ver­hält­nis­se geschützt haben, rea­li­siert wur­den sie durch ein­hei­mi­sche Kom­mu­ni­sten und Sozia­li­sten. Sie wur­den lan­ge – wenn auch mit Wider­sprü­chen und Kon­flik­ten – getra­gen von den eige­nen Arbei­tern und Bau­ern, die wuss­ten, wer für das Ver­sa­gen der bür­ger­lich-kapi­ta­li­sti­schen, meist dik­ta­to­ri­schen Vor­kriegs­re­gime Ver­ant­wor­tung trug.

Der Auf­schrei in Ost­eu­ro­pas Haupt­städ­ten über die angeb­lich erneu­te rus­si­sche Bedro­hung ent­behrt nicht einer gewis­sen Iro­nie. Das Beschwö­ren der Zwi­schen­kriegs­zeit als Blü­te­zeit von Polen bis zum Bal­ti­kum über­sieht, dass die­se Vor­läu­fer der heu­ti­gen ost­eu­ro­päi­schen Demo­kra­tien auto­ri­tä­re, ja, dik­ta­to­ri­sche Regime waren, die mit zu viel Demo­kra­tie, erst recht mit Lin­ken und gar Kom­mu­ni­sten wenig anfan­gen moch­ten. Sie waren zufrie­den, gewalt­sam die Okto­ber­re­vo­lu­ti­on abge­wehrt und den Kapi­ta­lis­mus bewahrt zu haben. Von der sozia­len Revo­lu­ti­on, die im Gefol­ge des Vor­mar­sches der Roten Armee auch in die­sen Staa­ten Arbei­ter und Bau­ern zu einer aus­beu­tungs­frei­en Gesell­schaft ermäch­tig­te, möch­ten die heu­ti­gen Eli­ten nichts mehr wissen.

Media­le Ver­ein­sei­ti­gun­gen und Ver­fäl­schun­gen, der schwa­che Wider­stand der Histo­ri­ker­zunft, das Aus­blei­ben eines neu­en »Histo­ri­ker­streits« nach dem Zusam­men­bruch des Real­so­zia­lis­mus haben Fol­gen. Das Bild des Krie­ges wird neu gezeich­net: Umfra­gen zei­gen heu­te, dass die USA, viel­leicht Groß­bri­tan­ni­en ent­schei­dend waren, der Krieg im Westen geführt und gesiegt wur­de, der Fer­nen Osten wich­tig wäre, die US-Atom­bom­ben auf Hiro­shi­ma und Naga­sa­ki den Krieg ent­schie­den. Dass die Rote Armee zu die­sem Zeit­punkt das Gros der kai­ser­lich-japa­ni­schen Armee in Chi­na gestellt und geschla­gen hat­te, fin­det sich besten­falls in einem Nebensatz.

Nur dumm, dass der wirk­li­che Krieg 1418 Tage an der Ost­front geführt wur­de, bis Som­mer 1944 auf sowje­ti­schem Ter­ri­to­ri­um. Dabei ist auch über Feh­ler der sowje­ti­schen Füh­rung unter Sta­lin zu reden, der die rea­len Mög­lich­kei­ten und die Heim­tücke Hit­lers unter­schätz­te, den Ver­trä­gen trau­te und den eige­nen Geheim­dien­sten miss­trau­te. Nur, er hat das unter ande­ren Vor­zei­chen fort­ge­führt, was die west­li­chen Demo­kra­tien mit ihrer Appease­ment-Poli­tik in den 1930er Jah­ren eben­falls ver­such­ten: Hit­ler zu beschwich­ti­gen und ihn gegen den Kom­mu­nis­mus, gegen Mos­kau zu len­ken. Ohne die Opfe­rung der Demo­kra­tie in Spa­ni­en, das Schand­dik­tat von Mün­chen und die Ver­nich­tung der Tsche­cho­slo­wa­kei wird jede Vor­kriegs­ge­schich­te zum ver­fäl­schen­den Lücken­text. Ohne den Ver­zicht Lon­dons und Paris (und War­schaus), im August 1939 ein Bünd­nis mit Mos­kau zu schmie­den, ist kein Deutsch-Sowje­ti­scher Nicht­an­griffs­ver­trag und kein Abgren­zen von Ein­fluss­zo­nen in einem unmit­tel­bar bevor­ste­hen­den Krieg zu erklä­ren. Mos­kau setz­te in die­ser Kon­stel­la­ti­on sei­ne Sicher­heits­in­ter­es­sen rigo­ros durch, auch wenn sich die sowje­ti­sche Füh­rung bit­ter ver­rech­ne­te, was den mög­li­chen Kriegs­be­ginn betraf. Die Atem­pau­se wur­de zu wenig genutzt, aber sie half trotz­dem. Kei­ne Hil­fe, son­dern Ver­rat war das sowje­ti­sche Ein­ge­hen auf eine ver­meint­li­che Freund­schaft mit dem unver­meid­li­chen Geg­ner Faschis­mus, der Kom­mu­ni­sten, Juden, Exi­lan­ten Frei­heit und Leben kosten soll­te und das Ver­trau­en in die Sowjet­uni­on und die Kom­mu­ni­sten lädier­te. Erst der blu­ti­ge Weg des Sowjet­vol­kes konn­te die­ses Ver­trau­en zurück­ge­win­nen und die Sowjet­uni­on zur Super­macht wan­deln, die die Welt lan­ge prägte.

Jal­ta und Pots­dam sind spä­te­stens seit 1989/​91 Geschich­te. Es gab nun die Chan­ce für eine neue Welt­ord­nung ohne Vor­herr­schaft einer Macht. Die Sowjet­uni­on und ihre Nach­fol­ger schie­nen auf­ge­schlos­sen, und woll­ten mit der Abkehr von sozia­li­sti­schen Ver­hält­nis­sen und einer kapi­ta­li­sti­schen Neu­ori­en­tie­rung auch die Bezie­hun­gen mit dem Westen neu gestal­ten. Jel­zin wie auch Putin streck­ten ihre Hän­de aus. Doch Putin begriff, dass das Wen­de-Russ­land schon viel zu tief in die neue, von Washing­ton, Brüs­sel und Ber­lin bestimm­te Welt­ord­nung hin­ge­zo­gen und zur unbe­deu­ten­den Mit­tel­macht degra­diert war.

Mos­kau beob­ach­tet in den letz­ten Jahr­zehn­ten etwas, was es schon am Vor­abend des Zwei­ten Welt­krie­ges befürch­te­te: Eine Ein­krei­sung durch feind­li­che Staa­ten, das Beför­dern des natio­na­li­sti­schen Spalt­pil­zes im Inne­ren und die Ein­bin­dung der nach 1991 aus der Sowjet­uni­on aus­ge­schie­de­nen, neu­en Staa­ten ins west­li­che Bünd­nis. Die Ost­aus­deh­nung der Nato, 1990 noch als Preis für die deut­sche Ein­heit hei­lig abge­schwo­ren, ist Rea­li­tät, natio­na­li­sti­sche Regime in Russ­lands Umfeld wer­den geför­dert, an »bun­ten Revo­lu­tio­nen« gewer­kelt, wobei längst nicht mehr klar ist, ob es um legi­ti­me For­de­run­gen nach demo­kra­ti­schen Refor­men geht oder um von außen gesteu­er­te Umstürze.

Unter Putin ist Russ­land wie­der Groß­macht, zeigt mit sei­nen Kern­waf­fen, der reor­ga­ni­sier­ten Armee und sei­nen außen- und sicher­heits­po­li­ti­schen Ambi­tio­nen vom syri­schen Pal­my­ra bis zur Krim Flag­ge. Noch streckt Russ­land sei­ne Füh­ler in Rich­tung Westen aus, sucht nach einer neu­en Sei­den­stra­ße und preist Erd­gas oder auch Was­ser­stoff an. Und doch spürt Mos­kau die Zwän­ge jener Vor­kriegs­jah­re wie­der: die mas­si­ve Rüstung gegen sie, das Vor­schie­ben von Trup­pen, die Unter­stüt­zung Oppo­si­tio­nel­ler. Wie­der sind War­schau, Tal­linn oder Riga Aus­gangs­ba­sen für sol­che Akti­vi­tä­ten – und Ber­lin, wie­der Ber­lin, aber auch Lon­don und natür­lich Washing­ton. Der jüng­ste Nato-Gip­fel mach­te offen Front gegen Mos­kau und Peking. »Russ­lands aggres­si­ves Vor­ge­hen stellt eine Bedro­hung für die euro-atlan­ti­sche Sicher­heit dar.« Des­halb wer­de die Nato ihre »Abschreckungs- und Ver­tei­di­gungs­hal­tung ver­bes­sern, auch durch eine Vor­wärts­prä­senz im öst­li­chen Teil der Alli­anz« (Brussels Sum­mit Com­mu­ni­qué, 14.6.21). Die Welt steckt wie­der in einem Kal­ten Krieg.

Doch Mos­kau will ein neu­es 1941 nicht zulas­sen. Vor allem aber: Chi­na wie Russ­land sind wie­der so stark und selbst­be­wusst, dass sie sich einer Vor­macht der USA und ihrer (west)europäischen Ver­bün­de­ten inklu­si­ve der ost­eu­ro­päi­schen Nach­be­ter nicht unter­wer­fen wer­den. Wir soll­ten schnell ler­nen und uns nicht wun­dern: Es gibt wie­der Kal­ten Krieg – mit sei­nen Pro­vo­ka­tio­nen, Diver­sio­nen, Sabo­ta­gen und sei­nen Medi­en –, vie­les moder­ner als einst, man­ches effek­ti­ver, eini­ges düm­mer. Aber eben permanent.

Auch dar­um ist die Erin­ne­rung an den gro­ßen Sieg von 1945, an die Opfer und die Tri­um­phe so wich­tig. Lin­ke mögen kei­nen Natio­na­lis­mus, kei­ne impe­ria­li­sti­sche Poli­tik, aber sie müs­sen schau­en, wer wel­che Zie­le wie zu durch­kreu­zen ver­mag. Prä­si­dent Putin spricht wie immer Klar­text, so in einer Bera­tung mit dem Ver­band »Pope­da« (Sieg), der die Erin­ne­rung an 1945 hoch­hal­ten soll: »Jeder will uns bei­ßen oder ein Stück Russ­land abbei­ßen. Aber jeder, der es ver­sucht, soll­te wis­sen, dass wir ihre Zäh­ne aus­schla­gen wer­den, damit sie nicht bei­ßen kön­nen. Das ver­steht sich von selbst, und die Ent­wick­lung unse­rer Streit­kräf­te garan­tiert dies« (Putin, 20.5.21).