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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Flucht aus Afghanistan

Wolf­gang Herz­berg Flucht aus Afghanistan

 

P. wur­de 2000 in einem klei­nen Dorf in Afgha­ni­stan gebo­ren, etwa 200 km von Kabul ent­fernt. Sein Vater war dort Orts­po­li­zist, sei­ne Mut­ter Haus­frau. Er hat zwei klei­ne­re Schwe­stern und drei Brü­der, die alle noch zur Schu­le gehen. P. ist der älte­ste Sohn. Er hat mir sei­ne Geschich­te in einem Kran­ken­haus erzählt und auf sei­nem kaput­ten Han­dy Sze­nen sei­ner Flucht gezeigt.

Sein Vater war ziem­lich auto­ri­tär. Ein­mal, als er P. beim Ona­nie­ren erwisch­te, droh­te er, ihn zu erschie­ßen. Die­ses Tabu exi­stiert immer noch im stren­ge­ren Islam, Chri­sten­tum und Juden­tum. Eines Tages wur­de sein Vater von den Tali­ban ent­führt, ob er noch lebt, weiß P. nicht. Der Vater scheint sein Unheil geahnt zu haben, denn kurz zuvor riet er sei­nem Sohn noch, zu flie­hen, um nicht von den Tali­ban ver­schleppt zu wer­den und für sie als Sol­dat kämp­fen und even­tu­ell ster­ben zu müssen.

So begann P.s Flucht 2016 aus Afgha­ni­stan, als er 16 Jah­re alt war, ganz über­wie­gend zu Fuß, nur sel­ten mit Autos oder Bus­sen. Er teil­te sein Schick­sal mit Hun­der­ten und Aber­hun­der­ten von ande­ren jun­gen afgha­ni­schen Men­schen – Män­nern wie Frau­en –, alle unter­wegs in Rich­tung Euro­pa, durch vie­le Län­der hin­durch. Etwa 40 Mil­lio­nen, die Hälf­te aller Flücht­lin­ge welt­weit, sind Jugend­li­che unter 18 Jahren.

Sie über­quer­ten zu Fuß zunächst die schnee­be­deck­ten, hohen Ber­ge nach Paki­stan, immer auf der Hut vor der Grenz­po­li­zei auf bei­den Sei­ten, die offen­bar Anwei­sung hat, auf Flücht­lin­ge zu schie­ßen. Von Paki­stan ging es nach Syri­en, von dort in den Iran, schließ­lich durch die Tür­kei. Oft wuss­te P. nicht, in wel­chem Land er sich gera­de befand. In Bul­ga­ri­en waren die Flucht­hel­fer sogar bewaff­net. Dort wur­den sie von Poli­zei oder Mili­tär ver­folgt, unter­stützt von deut­schen Fron­tex-Poli­zi­sten. Wäh­rend die Deut­schen wohl huma­ner waren, schos­sen auch die Bul­ga­ren auf die Flücht­lin­ge. P. wur­de von einem Poli­zei­hund blu­tig gebissen.

Beim Über­que­ren eines Flus­ses mit star­ker Strö­mung hielt sich die Flucht­grup­pe an den Hän­den. Doch die Men­schen­ket­te riss, und sein Freund und ande­re Flücht­lin­ge wur­den vom eis­kal­ten Was­ser mit­ge­zo­gen und ertran­ken vor sei­nen Augen in den Flu­ten. Als P. mir die­se Epi­so­de erzähl­te, konn­te er sei­ne Trä­nen nicht zurück­hal­ten. Spä­ter zwäng­te er sich mit 15 ande­ren Män­nern acht Stun­den lang, dicht gedrängt, in einen PKW, so dass sich das Blut in sei­nen Adern schmerz­haft stau­te. Doch das Auto ver­un­glück­te, und vie­le Insas­sen star­ben. P. über­leb­te und floh wei­ter durch Grie­chen­land, Rumä­ni­en, Ser­bi­en und Ungarn, also die soge­nann­te Bal­kan­rou­te ent­lang. Schließ­lich gelang­te er nach Öster­reich, wo er nach zwei Jah­ren in Salz­burg aber wie­der aus­ge­wie­sen wur­de. Schließ­lich gelang­te er nach Frank­reich und leb­te dort mit Hun­der­ten von Flücht­lin­gen mona­te­lang unter den Brücken von Paris in bil­li­gen Mini-Zel­ten, immer von den Raz­zi­en der fran­zö­si­schen Poli­zei bedroht – in der nas­sen Käl­te die­ses Corona-Winters.

Als es P. dort vor Käl­te und Elend nicht mehr aus­hielt, setz­te er sich in einen Flix­bus und fuhr, trotz Poli­zei­kon­trol­len, nach Deutsch­land. Hier bekam er schließ­lich einen Behelfs­aus­weis und arbei­te­te kurz­zei­tig als Putz­kraft in Ber­lin, wur­de aber Coro­na-bedingt wie­der arbeits­los und lan­de­te in einem Flücht­lings­heim außer­halb Berlins.

P. ist nicht sicher, ob er wie­der nach Kabul »abge­scho­ben« wird. Er hat sich zwar nichts zu Schul­den kom­men las­sen, aber sein »unge­klär­ter Flücht­lings­sta­tus« ver­setzt ihn in sol­che Angst, dass er begann, sich sei­ne Arme mit einem Mes­ser auf­zu­schlit­zen. Des­halb kam er ins Krankenhaus.

Wenn man ihn wie­der ins umkämpf­te Kabul abschiebt, befürch­tet er, dass er dort nie weiß, mit wem er es zu tun bekommt: mit Tali­ban-Spio­nen oder mit Leu­ten von der Kabu­ler Regie­rung oder mit Nato-Kund­schaf­tern. Er hät­te Angst, dort in ein Auto oder Bus zu stei­gen, auf Fahr­zeu­ge wer­den Anschlä­ge ver­übt, oder er könn­te von den Tali­ban ent­führt werden

P. wuss­te nicht, als er mir sei­ne Geschich­te erzähl­te, dass er als psy­chisch kran­ker Kriegs­flücht­ling, jeden­falls nach der Gen­fer Kriegs­flücht­lings­kon­ven­ti­on, nicht abge­scho­ben wer­den darf. Er spricht bis­her nur ein paar Brocken Deutsch und Eng­lisch. Er wür­de gern arbei­ten, darf aber nicht. Und er frag­te mich, wie er eine Frau ken­nen­ler­nen könn­te, die er lie­ben und hei­ra­ten möch­te, also nicht bloß, um mit ihr zu schla­fen. Denn vie­le jun­ge Män­ner in den Flücht­lings­hei­men, wuss­te er zu berich­ten, woll­ten vor allem unbe­dingt »ficken«.

P.s Schick­sal wird von 3,7 Mil­lio­nen Flücht­lin­gen aus Afgha­ni­stan geteilt. Sie flie­hen aus ihrem Land, um zu über­le­ben, oder auch »nur« in der Hoff­nung, irgend­wo, oft in Euro­pa, ein bes­se­res Leben füh­ren zu können.

In Afgha­ni­stan und anders­wo führ­ten die USA, assi­stiert von der Nato, also auch mit Deutsch­lands Hil­fe, seit dem Anschlag auf das »Word Trade Cen­ter« einen geschei­ter­ten Krieg gegen die Tali­ban und ande­re isla­mi­sti­sche Grup­pie­run­gen. Das ist über­wie­gend das Ergeb­nis der Spät­fol­gen einer gründ­lich geschei­ter­ten west­li­chen Kolo­ni­al- und Kriegs­po­li­tik, übri­gens auch in Syri­en, dem Irak und Liby­en, Vene­zue­la, Süd­su­dan und Myan­mar. Die spä­te Ent­ko­lo­nia­li­sie­rung hin­ter­ließ eine Rück­stän­dig­keit, die sich oft in inter­eth­ni­schen Bür­ger- und Ver­tei­lungs­krie­gen ent­lud, in die der Westen aber mili­tä­risch und neo­ko­lo­ni­al ver­wickelt ist und die schließ­lich auf ihn zurück­schla­gen. Denn die Mil­lio­nen Flücht­lin­ge wol­len in ihrer Not viel­fach ins rei­che West­eu­ro­pa und Nord­ame­ri­ka. Aber auch die isla­mi­sti­schen Ter­ro­ri­sten schla­gen hier bekannt­lich immer wie­der zu. Das ruft wie­der­um die Natio­na­li­sten und Ras­si­sten auf den Plan, die die bür­ger­li­chen Demo­kra­tien von rechts infra­ge stel­len. Statt Waf­fen­ex­por­te und Mili­tär­in­ter­ven­tio­nen kann auf Dau­er nur eine Poli­tik des glo­ba­len sozia­len Aus­gleichs das Flücht­lings­elend zurück­drän­gen. Das wäre zugleich eine Art »Wie­der­gut­ma­chung« für eine Jahr­hun­der­te wäh­ren­de kolo­nia­le Aus­beu­tungs- und Völ­ker­mord­po­li­tik, die die Eli­ten der west­li­chen Indu­strie­staa­ten wohl­ha­bend mach­te, auf Kosten der viel ärme­ren Völ­ker der Welt.