Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Die Militarisierung der Republik

Im Ber­li­ner Grund­satz­pro­gramm der SPD von 1989, gül­tig bis 2007(!), heißt es zur Poli­tik der gemein­sa­men Sicher­heit in Euro­pa: »Frie­dens­po­li­tik muss Macht­kon­flik­te ent­schär­fen, Inter­es­sen­aus­gleich suchen, gemein­sa­me Inter­es­sen auf­grei­fen, dem Vor­macht­stre­ben der Welt­mäch­te durch regio­na­le Zusam­men­schlüs­se ent­ge­gen­wir­ken und Gegen­sät­ze zwi­schen Syste­men, Ideo­lo­gien und Reli­gio­nen im fried­li­chen Wett­be­werb und in einer Kul­tur des poli­ti­schen Streits aus­tra­gen. Frie­dens­po­li­tik muss die Vor­herr­schaft mili­tä­ri­scher, büro­kra­ti­scher und rüstungs­wirt­schaft­li­cher Inter­es­sen bre­chen und Rüstungs­pro­duk­ti­on in die Pro­duk­ti­on zivi­ler Güter überführen.«

Das System der mili­tä­ri­schen Abschreckung soll­te über­wun­den und block­über­grei­fend Sicher­heit orga­ni­siert wer­den. Welt­weit soll­ten alle Mas­sen­ver­nich­tungs­mit­tel besei­tigt, Deutsch­land davon befreit wer­den. Das Land soll­te auch kei­ne Mit­ver­fü­gung anstre­ben, statt­des­sen woll­te die SPD den Ver­zicht auf ABC-Waf­fen ver­fas­sungs­recht­lich absi­chern, die Dyna­mik der Auf­rü­stung bre­chen und eine Dyna­mik der Abrü­stung in Gang set­zen; zudem soll­te der Export von Waf­fen und Rüstungs­gü­tern ver­hin­dert werden.

Die­se Idee schei­ter­te zuerst an den Kohl-Regie­run­gen und end­gül­tig mit der Betei­li­gung der rot-grü­nen Bun­des­re­gie­rung am völ­ker­rechts­wid­ri­gen Nato-Krieg gegen Jugo­sla­wi­en. Die wei­te­re Anpas­sung der SPD an die Mili­ta­ri­sie­rung Deutsch­lands im deutsch-atlan­ti­schen Bünd­nis brach­te die taz auf den Punkt, indem sie den Weg eines Jusos zum Vor­sit­zen­den die­ser Par­tei über­schrieb: »Lars und die Pan­zer«, das ist der Weg der SPD. Aus dem »lächeln­den« Lars Kling­beil (heu­te Vor­sit­zen­der der Par­tei) ist ein Mili­ta­rist gewor­den: Ein ehe­ma­li­ger Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer ist nun Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter im Ver­tei­di­gungs­aus­schuss. Sol­che mili­tär­ori­en­tier­ten Kar­rie­ren gibt es nach 1990, vor allem in Insti­tu­tio­nen, die sich mit »Sicher­heit«, ver­stan­den als Auf­rü­stung, Abschreckung und Kampf­ein­sät­zen der Bun­des­wehr, beschäf­ti­gen, tau­send­fach: Der Krieg setz­te sich als Mit­tel der Poli­tik im Den­ken der Staats­bü­ro­kra­tie, von SPD und grü­ner Par­tei fest, völ­ker­rechts­wid­ri­ge Krie­ge inklu­si­ve. Eine unter­schät­ze Rol­le spie­len die per­so­nell enorm ange­wach­sen »Think Tanks« und Netz­wer­ke, die im US-ame­ri­ka­ni­schen und eige­nen Sin­ne »atlan­ti­sche« Auf­rü­stungs­po­li­tik und Mili­ta­ri­sie­rung betrei­ben, die doch im Jubel deutsch-deut­scher Ver­ei­ni­gung unter­ging. Der beson­de­ren Beto­nung einer Frie­dens­po­li­tik, die im Grund­ge­setz und beson­ders in den neu­en ost­deut­schen Län­der­ver­fas­sun­gen ver­an­kert wur­de, folg­te die poli­ti­sche Pra­xis nicht. Eine neue Poli­tik und ein neu­es Euro­pa des Frie­dens blie­ben eine uner­füll­te Idee. Poli­tik und Medi­en, Uni­ver­si­tä­ten und For­schungs­ein­rich­tun­gen schlu­gen, erst ver­klau­su­liert, einen ent­ge­gen­ge­setz­ten Weg ein. »Peace­kee­ping« und »Huma­ni­tä­re Inter­ven­tio­nen« weck­ten in Tei­len der Gesell­schaft die Vor­stel­lung von etwas Gutem, das in Wahr­heit der Mili­ta­ri­sie­rung den Weg berei­te­te. Gleich­zei­tig ver­lo­ren Anhän­ger einer kri­ti­schen, anti­mi­li­ta­ri­sti­schen Frie­dens­for­schung an Ein­fluss, was dazu bei­trug, der Öffent­lich­keit glau­ben zu machen, das sei der Weg zu einer Friedensordnung.

Man ließ damals Russ­land ver­blu­ten. Kei­ne Inte­gra­ti­on, kei­ne gemein­sa­me Sicher­heit. US-Ame­ri­ka­ni­sche Wirt­schafts­exper­ten brach­ten Russ­land Pri­va­ti­sie­rung, Berei­che­rung, kapi­ta­li­sier­ten die Res­sour­cen des größ­ten Lan­des der Erde. 60 Pro­zent der Bevöl­ke­rung stürz­ten in Armut. Weni­ge pro­fi­tier­ten davon, spä­ter »Olig­ar­chen« genannt, will­kom­me­ne Bür­ger Lon­dons, dort kauf­ten sie sich ein. Die von den USA- und Nato-geführ­ten Krie­ge gegen den Irak, Jugo­sla­wi­en, Liby­en und den »isla­mi­sti­schen Ter­ror« brach­ten die Idee einer Gemein­sa­men Sicher­heit in Euro­pa zum Schei­tern, noch bevor Struk­tu­ren, Regeln und vor allem Man­power bereit­stan­den. Der poli­ti­sche Wil­le dafür war in Deutsch­land nicht vor­han­den. Die »Frie­dens­be­we­gung« und kri­ti­sche Frie­dens­for­schung ver­lo­ren an Ein­fluss, jün­ge­re Gene­ra­tio­nen waren anders sozia­li­siert, sodass der Nach­wuchs am grü­nen Kriegs­be­tei­li­gungs­be­schluss 1999 sich spal­te­te. Josch­ka Fischer, inzwi­schen Elder Sta­tes­man für Atom­be­waff­nung, plan­te sei­ne atlan­ti­sche Kar­rie­re, grün­de­te mit Außen­mi­ni­ste­rin Made­lei­ne Alb­right »Bera­tungs­un­ter­neh­men« im Sicher­heits­be­reich. Kar­rie­re­we­ge jun­ger Men­schen öff­ne­ten sich gegen­über Kon­zep­ten, die »Sicher­heit« ver­spra­chen, kru­de Zugän­ge und Argu­men­ta­tio­nen lie­fer­ten, wie bei­spiels­wei­se der 2016 an die Uni­ver­si­tät Pots­dam beru­fe­ne »Mili­tär­hi­sto­ri­ker« Sön­ke Neit­zel. Schein­bar unver­fäng­lich lehrt er auch »Kul­tur­ge­schich­te der Gewalt«; ist es nicht eine Unkul­tur? Was zuvor »Mili­ta­ry Stu­dies« hieß, wird bei ihm »War und Con­flict Stu­dies«. Dass der Histo­ri­ker Neit­zel Wis­sen­schaft als Pro­pa­gan­da nutzt, als »Exper­te« für Mili­tär­po­li­tik und Kriegs­füh­rungs­fä­hig­keit auf­tritt, gehört seit Jah­ren zum Bestand media­ler Exper­ten­run­den. Kri­tik hat da kei­nen Platz mehr, sonst droht der Ausschluss.

Bis zur Jahr­tau­send­wen­de war das noch anders. Der Frie­dens­for­scher Die­ter S. Lutz, Nach­fol­ger Egon Bahrs am Ham­bur­ger Frie­dens­for­schungs­in­sti­tut, schaff­te es noch, der erste Vor­sit­zen­de der neu­en Stif­tung Frie­dens­for­schung (DSF) zu wer­den. Er hat­te viel auf sich genom­men, um die SPD vom rich­ti­gen Weg zu über­zeu­gen, hat­te Ein­fluss neh­men kön­nen, die Kriegs­po­li­tik der rot-grü­nen Koali­ti­on infra­ge zu stel­len. Sein Tod im Janu­ar 2003 war der Preis die­ser rast- und ruhe­lo­sen Hin­ga­be die­ses Sozi­al­de­mo­kra­ten Lutz, der die Grün­dung der Deut­schen Stif­tung Frie­dens­for­schung im Okto­ber des Jah­res 2000 vor­an­trieb und mitgestaltete.

Frie­den müs­se gelernt wer­den, dar­an glaub­te Die­ter S. Lutz. Das sei ein län­ge­rer Pro­zess, der vie­le Schrit­te ver­lan­ge. Des­halb müs­se man gemein­sam an der Sicher­heit in Euro­pa, dem alten und neu­en, arbei­ten, Euro­pa, so wie Frank­reich und Deutsch­land ver­söh­nen. Eine Frie­dens­ord­nung sah er ange­sichts der völ­ker­rechts­wid­ri­gen Mili­tär­ein­sät­ze von USA, Nato und Ver­bün­de­ten nicht gege­ben. Nach sei­nem Tod wan­del­te sich nach und nach die Beset­zung der DSF und der Frie­dens­for­schungs­in­sti­tu­te. Sie rich­te­ten sich deutsch-atlan­tisch aus, kon­zep­tio­nell ging Frie­den in »Sicher­heit« auf, die vor­nehm­lich macht- und geo­po­li­tisch und vor allem mili­tä­risch zu garan­tie­ren sei.

Der gei­sti­ge und mili­tä­ri­sche Umbau der Repu­blik begann in den Jah­ren der Kohl-Regie­run­gen, vor allem nach der Ver­ei­ni­gung bei­der deut­scher Staa­ten. Der dama­li­ge Gene­ral­inspek­teur Klaus Nau­mann (1991-96), Vor­sit­zen­der des Mili­tär­aus­schus­ses der Nato (1996-1999), warb anschlie­ßend als ehren­amt­li­cher Vor­stand für die Nato-nahe Deutsch-Atlan­ti­schen Gesell­schaft (über 3000 Mit­glie­der). Zuvor hat­te er mit Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Vol­ker Rühe (1992-1998) die Bun­des­wehr umge­baut. Rühe soll damals gesagt haben, dass es min­de­stens eine Gene­ra­ti­on daue­re, bis der anti­mi­li­ta­ri­sti­sche Effekt aus dem Bewusst­sein öffent­li­chen Den­kens zurück­ge­drängt sei.

Die­ser poli­ti­schen Ideo­lo­gie, die »Sicher­heit« durch Abschreckung und Auf­rü­stung als »Frie­den« für das west­li­che Bünd­nis defi­niert, fol­gen Hun­dert­tau­sen­de Nato-nahe, deutsch-atlan­tisch-ori­en­tier­te Mit­glie­der von Ver­ei­ni­gun­gen wie der Deutsch-Atlan­ti­schen Gesell­schaft, dem Reser­vi­sten­ver­band, dem Deut­schen Bun­des­wehr­ver­band, der Clau­se­witz-Gesell­schaft, der Deut­schen Gesell­schaft für Wehr­tech­nik und der Gesell­schaft für Sicher­heits­po­li­tik, bei denen Pro­fes­sor Sön­ke Neit­zel (»Deut­sche Krie­ger«) unter vie­len ande­ren Ein­rich­tun­gen Dau­er­gast ist. Dar­über hin­aus betrei­ben tau­sen­de selbst­er­nann­te und aus­ge­bil­de­te Exper­ten und Exper­tin­nen poli­ti­sche Bil­dungs­ar­beit für das Nato-Mili­tär­bünd­nis: über Par­tei­en­stif­tun­gen und ihre kar­rie­re­för­dern­den Ver­bin­dun­gen zu euro­pä­isch-deutsch-atlan­ti­schen NGO‘s (»Denk­fa­bri­ken«, die über glo­ba­le Stra­te­gien und Krie­ge for­schen, dafür »Mili­ta­ry Stu­dies« auf­le­gen), wie bei­spiels­wei­se Atlan­tik-Brücke e. V., Ame­ri­can Coun­cil on Ger­ma­ny, Atlan­ti­sche Initia­ti­ve e. V., Deut­sche Gesell­schaft für Aus­wär­ti­ge Poli­tik – zumeist von der Bun­des­re­gie­rung wesent­lich mitfinanziert.

Abschreckung und Auf­rü­stung zemen­tie­ren Macht­po­si­tio­nen in libe­ra­len Demo­kra­tien, schaf­fen neue Schnitt­stel­len. Neue Think-Tanks wur­den gegrün­det, wie das Euro­pean Coun­cil on For­eign Rela­ti­ons (2007); dort teilt man sich die »Erfor­schung« wach­sen­der geo­stra­te­gi­scher Auf­ga­ben mit tra­di­tio­nel­len Bera­tungs-Insti­tu­ten der Regie­ren­den, so etwa mit der Stif­tung Wis­sen­schaft und Poli­tik. Ein Ergeb­nis: Con­stan­ze Stel­zen­mül­ler erar­bei­te­te (2013) für den Ger­man Mar­shall Fund ein weg­wei­sen­des Papier für die spä­te­re Zei­ten­wen­de: Deutsch­land sol­le als »Neue Macht – Neue Ver­ant­wor­tung« über­neh­men. Die feder­füh­ren­den Autoren Con­stan­ze Stel­zen­mül­ler und Andre­as Kaim ver­lang­ten von Deutsch­land die Über­nah­me von mehr Ver­ant­wor­tung im Umgang mit »Stö­rern der inter­na­tio­na­len Ord­nung« und plä­dier­ten für eine stär­ke­re sicher­heits­po­li­ti­sche Hand­lungs­be­reit­schaft Deutsch­lands und der EU: »Euro­pa und Deutsch­land müs­sen daher For­ma­te für Nato-Ope­ra­tio­nen ent­wickeln, bei denen sie weni­ger auf US-Hil­fe ange­wie­sen sind. Das ver­langt mehr mili­tä­ri­schen Ein­satz und mehr poli­ti­sche Füh­rung. Vor allem muss Euro­pa mehr Sicher­heits­vor­sor­ge in der eige­nen Nach­bar­schaft betrei­ben; das ist Euro­pas urei­ge­ne Ver­ant­wor­tung. Deutsch­land muss dazu einen sei­nem Gewicht ange­mes­se­nen Bei­trag lei­sten.« Der »ver­ant­wor­tungs­be­wuss­te« Bun­des­prä­si­dent a. D. Joa­chim Gauck stell­te das impe­ria­le Kon­zept auf der 50. Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz Ende Janu­ar 2014 vor und mahnt seit­dem uner­bitt­lich um mehr Abschreckung, Auf­rü­stung und Waf­fen­brü­der­schaft sowie um die füh­ren­de Rol­le Deutsch­lands im Nato-Bündnis.

Lese­hin­weis: Hel­mut Donat/​Reinhold Lüt­ge­mei­er-Davin (Hrsg.): Geschich­te und Frie­den in Deutsch­land 1870-2020. Eine Wür­di­gung des Wer­kes von Wolf­ram Wet­te, Bre­men 2024.