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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Diogo: Aufarbeitung der »Aufarbeitung«

Begin­nen wir mit dem Ende. Mit­te März teil­te die Pots­da­mer Staats­an­walt­schaft mit, sie tei­le die Auf­fas­sung der DDR-Behör­den, die 1986 den Tod eines Mosam­bi­ka­ners unter­sucht und Fremd­ver­schul­den aus­ge­schlos­sen hat­ten. So sag­te das deren Gerichts­spre­cher natür­lich nicht. Die dpa zitier­te ihn mit den Wor­ten, dass die acht Mona­te wäh­ren­den »inten­si­ven Prü­fun­gen der Todes­er­mitt­lungs­ak­ten« und der »beim Bun­des­be­auf­trag­ten für die Unter­la­gen der Staats­si­cher­heit vor­han­de­nen Doku­men­te« kei­nen Anhalts­punkt für ein Tötungs­de­likt oder Mani­pu­la­tio­nen erge­ben hätten.

So oder so for­mu­liert: Mit die­ser Fest­stel­lung wur­de eine seit Jah­ren pene­trant ver­brei­te­te Behaup­tung als das über­führt, was sie von Anfang an war: eine drei­ste und poli­tisch zweck­dien­li­che Lüge.

Der 23-jäh­ri­ge Mosam­bi­ka­ner Manu­el Dio­go – auf­grund eines im Okto­ber 1981 geschlos­se­nen Regie­rungs­ab­kom­mens zwi­schen der DDR und der Volks­re­pu­blik Mosam­bik zur Aus­bil­dung in der DDR wei­lend wie ins­ge­samt rund zwan­zig­tau­send sei­ner Lands­leu­te – war nach einer Fei­er in Des­sau ange­trun­ken in die Bahn gestie­gen, ver­pass­te sei­nen Bahn­hof, sprang auf frei­er Strecke aus dem Zug, um in sein Wohn­heim zurück­zu­lau­fen, und wur­de von einem ent­ge­gen­kom­men­den Güter­zug erfasst. Dar­aus strick­te Jahr­zehn­te spä­ter ein selbst­er­nann­ter »DDR-Rechts­extre­mis­mus-For­scher« die Legen­de, es habe sich um einen Neo­na­zi-Ver­bre­chen gehan­delt. Mehr noch: Die Sta­si habe die­sen Mord ver­tuscht, weil es in der anti­fa­schi­sti­schen DDR kei­ne Neo­na­zis geben durfte.

Die­se kru­de The­se fiel auf frucht­ba­ren publi­zi­sti­schen Acker. Denn: Im Kanon der Paro­len zur Dele­gi­ti­mie­rung der DDR war und ist beson­ders jene beliebt, dass die DDR kei­nes­falls so anti­fa­schi­stisch war, wie sie von sich behaup­te­te. Das angeb­lich anti­fa­schi­sti­sche Fun­da­ment des unter­gan­ge­nen Lan­des sei nur ein Mythos, heißt es immer wie­der. Wie eben auch sein Anti­se­mi­tis­mus bezeugt sei. Die DDR-Gesell­schaft war weit­aus ras­si­sti­scher und frem­den­feind­li­cher als die in der auf­ge­klär­ten Bun­des­re­pu­blik (und die­se Linie wird gezo­gen bis zur AfD, die doch nicht zufäl­lig im Osten ihre stärk­sten Batail­lo­ne habe. Der brau­ne Osten …).

So nimmt es nicht Wun­der, dass die von Har­ry Waibel in die Welt gesetz­te Behaup­tung vom ver­tusch­ten Nazi-Mord an dem Mosam­bi­ka­ner Dio­go gro­ße Auf­merk­sam­keit fand. Der Eife­rer aus dem Westen – obgleich in der Wis­sen­schaft unbe­kannt – avan­cier­te in den Medi­en zum gefrag­ten Fach­mann und konn­te für jedes Inter­view bald min­de­stens vier­hun­dert Euro ver­lan­gen. Min­de­stens. Schließ­lich brach­te er »Bewei­se« für das ver­meint­li­che Unrecht, das in der Zwei­ten Dik­ta­tur herrsch­te. Waibel woll­te meh­re­re Hun­dert ras­si­sti­sche Über­fäl­le in der DDR mit einem Dut­zend Toten aus­fin­dig gemacht haben. Die­se waren sei­ner­zeit offen­bar aus­nahms­los von den DDR-Deut­schen nicht bemerkt wor­den. Klar, die Sta­si hat­te sie erfolg­reich vertuscht.

Natür­lich habe es einen »insti­tu­tio­nel­len und struk­tu­rel­len Ras­sis­mus« in der DDR gege­ben, wie von Poli­ti­kern, Exper­ten und ver­meint­li­chen Zeit­zeu­gen wie­der­holt bekräf­tigt wur­de. Und Waibel, der Spe­zia­list, lie­fer­te ihnen dafür die Bewei­se. Jene, die sich in der Sache aus­kann­ten – etwa der ost­deut­sche Kolo­ni­al­hi­sto­ri­ker Ulrich van der Heyden –, wider­spra­chen vehe­ment, aber fol­gen­los die­ser Unwahr­heit: Es gab kein Gesetz – kei­ne poli­ti­sche Rede oder Erklä­rung, kein Buch, kein Film, kein Gerichts­ur­teil in der DDR –, das frem­den­feind­lich kon­no­tiert gewe­sen sei und den Vor­wurf des Ras­sis­mus bedient hät­te. Wenn es ras­si­sti­sche Äuße­run­gen Ein­zel­ner gab, folg­ten Kon­se­quen­zen auf dem Fuße: Das reich­te von Abmah­nun­gen bis hin zu Straf­pro­zes­sen. Natür­lich exi­stier­ten ras­si­sti­sche Res­sen­ti­ments auch bei Ost­deut­schen, räum­te auch Ulrich van der Heyden ein. Aber eben kein All­tags­ras­sis­mus, der im poli­ti­schen System begrün­det gewe­sen wäre.

Eben dies aller­dings behaup­te­ten die »Auf­ar­bei­ter«. Wort­füh­rer wie Waibel wur­den in der Süd­deut­schen Zei­tung, in der Zeit, im Stern, auf NDR und RBB – also den soge­nann­ten Qua­li­täts­me­di­en – gern zitiert. Rowohlt edier­te Max Annas »Mord­un­ter­su­chungs­kom­mis­si­on« (Die Zeit am 14. August 2019: »Max Annas hat die­ses Buch Manu­el Dio­go gewid­met, einem Ver­trags­ar­bei­ter aus Mosam­bik, der 1986 bei Bad Bel­zig auf ähn­li­che Wei­se getö­tet wur­de und des­sen Fall bis heu­te unge­löst ist.«). Die­ser Schlüs­sel­ro­man wur­de von zwei deut­schen Lite­ra­tur­ju­rys aus­ge­zeich­net, von der Kri­tik laut gelobt und in der Ver­lags­wer­bung voll­mun­dig als der »erste gro­ße Kri­mi­nal­ro­man aus der DDR« geprie­sen – als wür­de es die inzwi­schen nach Hun­der­ten zäh­len­den ein­schlä­gi­gen Kri­mis, die in ost­deut­schen Ver­la­gen erschie­nen waren, nicht geben.

Der MDR, das reich­wei­ten­stärk­ste Drit­te Pro­gramm der ARD, stell­te sich ganz in den Dienst der »Auf­klä­rung« die­ses DDR-Ver­bre­chens und setz­te mit Lai­en­dar­stel­lern die Mord­tat in beweg­te blu­ti­ge Bil­der um. Der Film (»Schuld ohne Süh­ne: War­um ras­si­sti­sche Täter in der DDR davon­ka­men«, 2017) fand in der media­len Echo-Kam­mer selbst­re­dend gro­ßen Zuspruch, er lief in der Fol­ge auch auf 3sat und ande­ren öffent­lich-recht­li­chen TV-Kanä­len. Ulrich van der Heydens Wider­spruch ende­te mit der Auf­for­de­rung zur Abga­be einer straf­be­wehr­ten Unterlassungserklärung.

Das nd ver­öf­fent­lich­te, anders als ande­re Medi­en, des Histo­ri­kers Moni­tum im Feuil­le­ton (»Ein Mord, der kei­ner war«, nd vom 23. Okto­ber 2019), nach­dem die Zei­tung eine Woche zuvor Max Annas in einem Inter­view brei­ten Raum für Phan­ta­ste­rei­en gege­ben hat­te. (»Übri­gens hat in der DDR die Gewalt gegen Ver­trags­ar­bei­ter bereits in den 70ern ange­fan­gen. Zum Bei­spiel jag­ten 1975 fürch­ter­lich vie­le Leu­te eine Grup­pe Alge­ri­er durch die Stadt Erfurt. Den Staat hat das wenig inter­es­siert.«) Van der Heyden sprach in sei­nem nd-Bei­trag auch von der »drei­sten MDR-Pro­duk­ti­on, die das Bild vom ›Unrechts­staat‹ DDR ver­fe­sti­gen soll«.

Und wie reagier­te die »sozia­li­sti­sche Tages­zei­tung« auf die­se Bemer­kung? Sie wider­sprach vier Wochen spä­ter mit einem redak­tio­nel­len Bei­trag auf der Sei­te 3, indem sie die Waibel-MDR-Les­art unkri­tisch über­nahm: »Von den Base­ball­schlä­ger­jah­ren. In den 80er Jah­ren kamen DDR-Ver­trags­ar­bei­ter unter rät­sel­haf­ten Umstän­den zu Tode.« In jenem ganz­sei­ti­gen Bei­trag wur­de Waibel (der »jahr­zehn­te­lang in Sta­si-Akten geforscht« hat) auch mit der Aus­sa­ge zitiert, es habe 200 »Pogro­me bezie­hungs­wei­se pogrom­ar­ti­ge Angrif­fe« auf Aus­län­der in der DDR gege­ben – eben unter »rät­sel­haf­ten Umständen«.

Nun, die vor­lie­gen­den DDR-Akten hat­ten kei­nes­wegs Rät­sel hin­ter­las­sen. In jedem ein­zel­nen Fall war sau­ber ermit­telt wor­den, die büro­kra­tisch doku­men­tier­ten Unter­su­chun­gen war­fen kei­ne Fra­gen auf. Das ver­meint­li­che »Rät­sel« war allen­falls das west­deut­sche Vor­ur­teil, dass die DDR-Ermitt­ler unfä­hig gewe­sen sei­en, und fer­ner, dass die Sta­si die Unter­su­chungs­er­geb­nis­se mani­pu­liert habe.

Dass die von Waibel und sei­nem Gefol­ge ver­dreh­te Sache nun­mehr von der Pots­da­mer Staats­an­walt­schaft rich­tig­ge­stellt wur­de, hängt mit min­de­stens drei Fak­ten zusam­men. Zum einen war da die Hart­näckig­keit des Ber­li­ner Histo­ri­kers Ulrich van der Heyden, der jah­re­lang wie Don Qui­jo­te gegen die ver­ei­nig­ten Wind­müh­len­flü­gel der hie­si­gen Medi­en anrann­te. Zum ande­ren gab es im Juni 2020 eine dies­be­züg­li­che Klei­ne Anfra­ge einer Lin­ken-Abge­ord­ne­ten im Bran­den­bur­ger Land­tag, die die Staats­an­walt­schaft auf den Plan rief – bekannt­lich ver­jäh­ren Gewalt­ver­bre­chen nicht. Und schließ­lich, drit­tens, war da die Ber­li­ner Zei­tung, die aus der Pha­lanx der Waibel-Fans aus­scher­te. Das hing kau­sal wohl mit dem Eigen­tü­mer­wech­sel zusam­men, denn als der ost­deut­sche Mil­lio­när Hol­ger Fried­rich die Ber­li­ner Zei­tung im Herbst 2019 über­nahm, gab es als­bald auf­fäl­li­ge Ver­än­de­run­gen: Es erschie­nen bei­spiels­wei­se Inter­views mit Per­so­nen, mit denen drei­ßig Jah­re lang nicht gespro­chen oder nur abfäl­lig über sie berich­tet wor­den war, es kamen The­men in die Zei­tung, bei denen objek­tiv und sou­ve­rän mit der DDR-Ver­gan­gen­heit umge­gan­gen wur­de, die Tona­li­tät änder­te sich. Man mein­te, dass eini­ge Fen­ster der Redak­ti­ons­räu­me geöff­net wor­den waren und der West­mief aus Hoch­mut und Bes­ser­wis­se­rei sich ver­flüch­tigt hat­te. Nicht voll­stän­dig, aber min­de­stens partiell.

Sofort wur­de von der Kon­kur­renz der Ver­le­ger Fried­rich als Sta­si-IM denun­ziert. Doch wer in die­ser Repu­blik ein dickes Kon­to hat, der hat auch ein dickes Fell. Die Zei­tung ging der Dio­go-Sache nach, ins­be­son­de­re Anja Reich, Res­sort­lei­te­rin Dos­sier, recher­chier­te vor­ur­teils­frei und ohne ideo­lo­gi­sche Bril­le. In meh­re­ren Bei­trä­gen, die seit Herbst 2020 erschie­nen, mach­te sie den Vor­gang detail­liert publik. Gemein­sam mit ihrer Kol­le­gin Jen­ni Roth por­trä­tier­te sie am 18. Dezem­ber 2020 auch den Initia­tor der Dio­go-Sta­si-Sto­ry und benann­te schon in der Über­schrift ihr Fazit: »Das Geschäft mit der DDR. Wie der Histo­ri­ker Har­ry Waibel seit 30 Jah­ren Sta­si-Unter­la­gen zieht und Geschich­te umschreibt.« Bezeich­nend ist eine Pas­sa­ge in ihrem Text: »Im Gespräch mit der Ber­li­ner Zei­tung in sei­nem Wohn­zim­mer fragt er plötz­lich eine der Inter­viewe­rin­nen: ›Haben Sie DDR-Hin­ter­grund? Wo kom­men Sie her?‹ – ›Aus Ost-Ber­lin.‹ – ›Aha‹, ruft er tri­um­phie­rend, ›aus der Haupt­stadt der Neo­na­zis.‹« Wenig über­ra­schend, dass Waibel im glei­chen Atem­zug die ost­deut­sche Schrift­stel­le­rin Danie­la Dahn, die in meh­re­ren Büchern den Umgang mit den Ost­deut­schen seit 1990 kri­tisch ana­ly­sier­te, eine »pro­mi­nen­te Leug­ne­rin« nennt.

Die bei­den Autorin­nen frag­ten sich, wes­halb Typen wie Waibel eine der­ar­ti­ge Wir­kung ent­fal­ten kön­nen. Und kamen zu dem durch­aus rich­ti­gen Schluss: »Dass er damit durch­kommt, hat mit einem Jour­na­lis­mus zu tun, der DDR-Geschich­te lie­ber skan­da­li­siert als sie aufzuarbeiten.«

Das ist rich­tig, aber nicht die gan­ze Wahr­heit. Denn war­um tut »der Jour­na­lis­mus« dies? Wes­halb folgt er lie­ber dem Zeit­geist als kri­ti­schen Gei­stern? Hat das was mit Oppor­tu­nis­mus zu tun, mit Anpas­sung oder Exi­stenz­angst? Und: Wird die Fest­stel­lung der Staats­an­walt­schaft Pots­dam etwa dazu füh­ren, dass sich die Waibel-Claque in den Medi­en bei ihrem Publi­kum ent­schul­digt, weil es ihm Lügen als Wahr­heit ver­kauf­te? Es wäre eine Premiere.