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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR«

So lau­tet der Titel einer aktu­el­len Aus­stel­lung im Jüdi­schen Muse­um Ber­lin. Im Aus­stel­lungs­ka­ta­log schrei­ben die Kura­to­rin­nen ein­lei­tend, dass sie nicht beab­sich­tig­ten »einen voll­stän­di­gen Über­blick über die jüdi­schen Erfah­run­gen in Ost­deutsch­land zu geben«, son­dern ein »unvoll­stän­di­ges Mosa­ik, als Auf­takt zu einem Gespräch«.

Ich bezweif­le, wie auch ande­re Insi­der (etwa Ellen Händ­ler, Ber­li­ner Zei­tung, 30.09.2023), dass die Aus­stel­lungs­kon­zep­ti­on die­ses Ziel ein­löst. Vor allem gelingt es nicht, Wesent­li­ches über Tra­di­tio­nen, Moti­ve, über das All­tags­le­ben von jüdi­schen Über­le­ben­den und ihrer Fami­li­en in der DDR wenig­stens in Umris­sen zu erfas­sen und kri­tisch zu wür­di­gen. Im Gegen­teil, ob aus Unkennt­nis oder auf­grund ideo­lo­gisch beding­ter Vor­ur­tei­le wird der oft wenig kennt­nis­rei­che Besu­cher dar­über im Unkla­ren gelas­sen, wel­che erstaun­li­che Bedeu­tung jüdi­sche Über­le­ben­de für die DDR-Geschich­te wirk­lich hat­ten. Zudem wer­den vie­le tra­dier­te Geschichts­klit­te­run­gen wie­der­holt, wie sie das eher abwer­tend-nega­ti­ve, offi­ziö­se DDR-Bild nach 1990 prä­gen, wonach Juden in der DDR ent­we­der loy­al ange­passt, stumm oder gar anti­se­mi­tisch ver­folgt und unter­drückt wur­den und des­halb viel­fach in den Westen gin­gen, um sich davon angeb­lich zu befrei­en. Dabei blei­ben die wesent­li­chen Lebens­lei­stun­gen der mehr­heit­lich dage­blie­be­nen jüdi­schen Fami­li­en aus der DDR weit­ge­hend unter dem Radar der Ausstellung.

Nach­hal­tig in Erin­ne­rung geblie­ben ist mir nur ein ein­zi­ger Raum, wo an einer unvoll­stän­di­gen Tafel eini­ge Spiel­fil­me, die in der DDR gedreht wur­den, auf­ge­li­stet sind, die vor­wie­gend durch jüdi­sche Künst­ler ent­stan­den und sich direkt oder indi­rekt mit dem Völ­ker­mord an den Juden befass­ten, obwohl in der DDR weit über 1000 Doku­men­tar­fil­me und Spiel­fil­me zur Aus­ein­an­der­set­zung mit der NS-Zeit gedreht wur­den. Auf einer Lein­wand kön­nen immer­hin Aus­schnit­te aus weni­gen DEFA-Spiel­fil­men gese­hen wer­den. Kurio­ser­wei­se hängt in die­sem Raum auch noch ein lächer­lich klei­nes Wand­re­gal mit eini­gen alten Büchern aus der DDR an der Wand, die zu jüdi­schen The­men dort ver­legt wur­den; tat­säch­lich bil­de­ten die künst­le­ri­schen, publi­zi­sti­schen und wis­sen­schaft­li­chen Arbei­ten von über­le­ben­den Juden das kul­tu­rel­le Fun­da­ment der gesam­ten Ver­lags- und Kunst­ge­schich­te der DDR (sie­he die Biblio­gra­fie von Rena­te Kirch­ner in: Det­lef Joseph »Die Juden und die DDR«, Ber­lin 2009). Schließ­lich blieb mir noch ein beein­drucken­des Gemäl­de von Bar­ba­ra Honig­mann in einem ande­ren Raum von Tho­mas Brasch in Erin­ne­rung sowie berüh­ren­de Gedich­te von ihm im Kata­log, die die Zer­ris­sen­heit sei­ner DDR-Erfah­run­gen aus­drück­ten. In die rich­ti­ge Rich­tung wies zum Schluss für mich nur ein Bei­trag im Kata­log von Pro­fes­so­rin Miri­am Rürup unter dem Titel: »Plä­doy­er für eine deutsch-deutsch-jüdi­sche Geschich­te«. Aber die­sem rich­ti­gen Anlie­gen wur­de in der Aus­stel­lung offen­bar bewusst ausgewichen.

Was hät­te in die­ser Aus­stel­lung kon­zep­tio­nell m.E. her­vor­ge­ho­ben wer­den sol­len, und wie hät­ten die Kura­to­rin­nen sich die­ses The­mas »Juden in der DDR« anneh­men müs­sen, um rela­tiv unwis­sen­den Besu­chern ein sub­stan­zi­el­les Bild über die Rol­le jüdi­scher Fami­li­en in der DDR näher zu brin­gen? Dazu hät­ten m.E. fol­gen­de Fra­gen gestellt und mög­lichst dif­fe­ren­zier­te Ant­wor­ten gege­ben wer­den und, anhand von exem­pla­ri­schen Per­sön­lich­keits­por­träts, dem Besu­cher anschau­lich gemacht wer­den müs­sen. Das kann ich in die­ser Kri­tik nur kon­zep­tio­nell andeuten:

  1. War­um schloss sich ein nicht gerin­ger Teil säku­lar gewor­de­ner Juden den Kom­mu­ni­sten, Sozi­al­de­mo­kra­ten und auch lin­ken Zio­ni­sten an?

Ant­wort: Weil die Dis­kri­mi­nie­rung der Juden, die natio­na­li­sti­sche Frem­den­feind­lich­keit über­haupt und die sozia­le Unter­drückung der Lohn­ab­hän­gi­gen seit jeher zwei Sei­ten einer gesell­schaft­li­chen Medail­le waren und sind. Die Über­win­dung der repres­si­ven feu­da­len und bür­ger­li­chen Klas­sen­ge­sell­schaft und Klas­sen­spal­tung wur­de als neu­ar­ti­ge, iden­ti­täts­stif­ten­de Visi­on gegen­wär­ti­ger und zukünf­ti­ger Eman­zi­pa­ti­on bei­der sozia­ler Klas­sen und Schich­ten, der jüdi­schen wie der pro­le­ta­ri­schen, zurecht von Marx erkannt und als neue säku­la­re Welt­an­schau­ung theo­re­tisch begrün­det, um im Hier und Jetzt und nicht erst im »Jen­seits« ein men­schen­wür­di­ges Leben für alle zu ver­wirk­li­chen. Engels schrieb in einem Brief an Isi­dor Ehren­freund 1890: »Wir ver­dan­ken den Juden viel, zu viel. Von Hei­ne und Bör­ne zu schwei­gen, war Marx von stock­jü­di­schem Blut; Lass­alle war Jude. Vie­le unse­rer besten Leu­te sind Juden. (…) Wenn ich wäh­len könn­te, dann lie­ber Jude, als ›Herr von‹.«

  1. Wel­che Rol­le spiel­ten die­se lin­ken Juden bei der Ent­ste­hung und Ent­wick­lung der inter­na­tio­na­len Arbei­ter- und Sozialbewegungen?

Ant­wort: Ohne ihre Bei­trä­ge, ohne ihren bil­dungs­bür­ger­li­chen Hin­ter­grund, wäre die damit ver­bun­de­ne Gesell­schafts­theo­rie nicht ent­stan­den. Ich erin­ne­re etwa an Rosa Luxem­burg, Leo Trotz­ki oder Isaak Deutscher.

  1. Wel­che Rol­le spiel­ten jüdi­sche Über­le­ben­de im Kampf gegen Hitlerdeutschland?

Ant­wort: Sie lie­fer­ten als inte­gra­ler Teil des nicht­jü­di­schen Wider­stan­des für die alli­ier­ten Armeen kriegs­ent­schei­den­de men­ta­le, kon­zep­tio­nel­le und prak­tisch-mili­tä­ri­sche Bei­trä­ge zur Nie­der­wer­fung des NS-Systems, als Wider­stands­kämp­fer in allen Befreiungsarmeen.

  1. Wel­che Bei­trä­ge lie­fer­ten jüdi­sche Über­le­ben­de und ihre Fami­li­en zur DDR-Geschichte?

Ant­wort: Sie bil­de­ten den Kern der anti­fa­schi­sti­schen und sozia­li­sti­schen Par­tei­in­tel­li­genz nach 1945 in der DDR. Dazu gehör­ten Poli­ti­ker (z. B. H. Axen, A. Nor­den, A. Abusch, K. Gysi), Juri­sten (z. B. K. Kaul, A. Töplitz, F. Wolf), Gesell­schafts­wis­sen­schaft­ler (z. B. H. Wolf, J. Kuc­zyn­ski, A. Mäu­sel), Päd­ago­gen (D. Wet­ter­hahn), Publi­zi­sten (z. B. G. Eis­ler, G. Leo, M. Kaha­ne), Schrift­stel­ler (z. B. A. Seg­hers, A. Zweig, St. Herm­lin, St. Heym, W. Bier­mann), Thea­ter­schaf­fen­de (z. B. H. Weigel, W. Heinz), Musik­schaf­fen­de (z. B. H. Eis­ler, P. Des­sau, Th. Krahl), Sie waren mit vie­len ande­ren jüdi­schen Über­le­ben­den der 1. und 2. Gene­ra­ti­on oft poli­ti­sche und kul­tu­rel­le Impuls­ge­ber für die eman­zi­pa­to­ri­sche Ent­wick­lung in der DDR.

  1. Wor­in bestan­den die wich­tig­sten Lebens­lei­stun­gen und Haupt­kon­flik­te die­ser jüdi­schen Fami­li­en in der DDR?

Ant­wort: Neben (erstens) der anti­fa­schi­stisch-sozia­li­sti­schen, men­ta­len Neu­ori­en­tie­rung der Ost­deut­schen zur Über­win­dung der NS-Ideo­lo­gie, der Ver­fol­gung von Nazis in Wirt­schaft, Staat und Gesell­schaft und dem mate­ri­el­len und gei­sti­gen Wie­der­auf­bau der DDR sowie (zwei­tens) ohne ihre zähen Bei­trä­ge zur Demo­kra­ti­sie­rung der DDR, bei der Über­win­dung des Sta­li­nis­mus und der Über­win­dung der Mau­ern des »Kal­ten Krie­ges« (z. B. St. Heym, St. Herm­lin, W. Bier­mann, J. Becker usw.) stün­de die Mau­er wohl heu­te noch.

  1. Wor­in besteht u. a. das poli­ti­sche und kul­tu­rel­le Erbe jüdi­scher Fami­li­en, die in der DDR lebten?

Ant­wort: »… der Zukunft zuge­wandt«, wie es in der vom Remi­gran­ten J. R. Becher gedich­te­ten Natio­nal­hym­ne der DDR hieß, waren m. E. fol­gen­de Tendenzen:

Die Gewalt aus­lö­sen­den Klas­sen­spal­tun­gen zwi­schen Besit­zen­den und Besitz­lo­sen, zwi­schen Arbei­tern, Bau­ern und Intel­li­genz sub­stan­zi­ell in Staat und Gesell­schaft zurück­zu­drän­gen; Groß­ka­pi­tal und Groß­grund­be­sit­zer zu ent­eig­nen und füh­ren­de Nazis zu ver­fol­gen; gleich­zei­tig wur­de durch die Boden­re­form Land an besitz­lo­se Bau­ern verteilt.

Anti­fa­schi­sten, und dazu gehör­ten auch gera­de die zurück­kehr­ten jüdi­schen Über­le­ben­den, in Wunsch­be­ru­fe und Schlüs­sel­po­si­tio­nen von Staat und Gesell­schaft zu för­dern; dadurch ent­stand zugleich eine neue lin­ke Intel­li­genz­schicht in der DDR, die hoch­gra­dig sozi­al geför­dert wurde.

Gleich­be­rech­tig­te Bezie­hun­gen zwi­schen den Völ­kern und eth­ni­schen Min­der­hei­ten her­zu­stel­len, also auch Anti­se­mi­tis­mus und Rechts­ra­di­ka­li­tät viel restrik­ti­ver zu bekämp­fen als in der Bundesrepublik;

Bür­ger­li­che Bil­dungs­pri­vi­le­gi­en zu über­win­den und Kunst und Kul­tur mög­lichst allen Bevöl­ke­rungs­schich­ten zugäng­lich zu machen; d.h. die lite­ra­ri­schen, wis­sen­schaft­li­chen, thea­tra­li­schen, fil­mi­schen, musi­ka­li­schen, bild­künst­le­ri­schen, publi­zi­sti­schen Arbei­ten, sowie KZ-Gedenk­stät­ten in der DDR sind oft ein­ma­li­ge Zeug­nis­se und ein sehr wert­vol­les Erbe gera­de auch jüdisch-deut­scher Nach­kriegs­ge­schich­te, das aller­dings nach 1990 weit­ge­hend ver­drängt wurde.

Öko­no­mi­scher Gleich­be­rech­ti­gung zwi­schen Frau­en und Män­nern; Juden und Nichtjuden.

Arbeits­lo­sig­keit zu über­win­den und per­ma­nen­te, kosten­lo­se Wei­ter­bil­dun­gen für Frau­en und Män­ner anzubieten.

Bezahl­ba­ren Wohn­raum zu schaf­fen und Obdach­lo­sig­keit zu beseitigen.

Der Ver­lust aller die­ser Errun­gen­schaf­ten kommt in der Aus­stel­lung prak­tisch nicht zur Spra­che. Statt­des­sen fin­det sich im Ein­lei­tungs­ar­ti­kel des Aus­stel­lungs­ka­ta­logs erneut fol­gen­des gra­vie­ren­de Fehl­ur­teil von Dr. Annet­te Leo, die das fra­gi­le Bemü­hen der Aus­stel­lung fun­da­men­tal infra­ge stellt, wenn sie spä­ter zwar auf »die guten Lebens- und Arbeits­be­din­gun­gen« von jüdi­schen Über­le­ben­den in der DDR hin­weist, aber den­noch wahr­heits­wid­rig ver­all­ge­mei­nert, dass »die Jüdin­nen und Juden und ande­re Ver­folg­ten­grup­pen« in der DDR »kei­ne Stim­me mehr« hatten.

Ich fra­ge mich, wie kommt etwa der nicht­jü­di­sche DDR-Kari­ka­tu­rist Harald Kretz­schmar zu einem völ­lig gegen­tei­li­gen Urteil? »Juden in der DDR waren in ihrer Akti­vi­tät unüber­hör­bar, unüber­seh­bar, unüber­les­bar« (ND 7./8.1995). Zu einem solch wür­di­gen­den Satz konn­ten sich weder Dr. Annet­te Leo noch die Aus­stel­lungs­ma­che­rin­nen gegen­über den jüdi­schen Fami­li­en in der DDR durchringen.

Wenn ich abschlie­ßend beden­ke, dass kei­ne der Kura­to­rin­nen der Aus­stel­lung eine Sozia­li­sa­ti­ons­ge­schich­te, gar eine jüdi­sche, in der DDR auf­zu­wei­sen hat, wie fast alle Füh­rungs­kräf­te in ganz Ost­deutsch­land, dann drängt sich mir fol­gen­des Urteil von Prof. James Riding, einem füh­ren­den India­ner­for­scher aus den USA über die dor­ti­ge Geschichts­schrei­bung auf: »Die Kolo­ni­sa­to­ren bestim­men die Geschich­te (…). Sie haben die Vor­aus­set­zun­gen dafür: die Druck­ma­schi­nen, die Uni­ver­si­tä­ten, die Regie­rung. Ja, selbst Geschich­te wird von Regie­rung und Poli­tik bestimmt« (J. Riding, Zeit­schrift für Geschich­te, 2, 2019, Kolo­ni­sa­to­ren bestim­men Geschich­te Nord­ame­ri­kas, S.60-63).