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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Raus aus dem »Museum«

Ja, wo sind uns­re Lie­der, uns­re alten Lie­der«, frag­te der Lie­der­ma­cher Franz Josef Degen­hardt 1968 auf sei­ner LP »Wenn der Sena­tor erzählt«. Und er gab gleich selbst die Ant­wort: »Tot sind uns­re Lie­der, /​ uns­re alten Lie­der. /​ Leh­rer haben sie zer­bis­sen, /​ Kurz­be­ho­ste sie ver­klampft, /​ brau­ne Hor­den tot­ge­schrien, /​ Stie­fel in den Dreck gestampft.«

Ein hal­bes Jahr­hun­dert spä­ter enga­giert sich sein Sohn Kai, der über 20 Jah­re lang sei­nem Vater als Gitar­rist und Arran­geur auf Tour­neen und im Stu­dio zur Sei­te gestan­den hat­te, für die­se »alten Lie­der«. Auf sei­ner Home­page begrün­det er sein Anlie­gen so:

»Die Nazis haben im 20. Jahr­hun­dert die tra­di­tio­nel­le deut­sche Lied­kul­tur der­ar­tig miss­braucht, ver­schüt­tet und geschred­dert, dass sich – anders als in ande­ren Län­dern – nach­fol­gen­de Gene­ra­tio­nen dar­auf nur gebro­chen und mit äußer­ster Vor­sicht bezie­hen kön­nen. Und das gelingt eigent­lich immer nur dann, wenn man mit einer kla­ren anti­fa­schi­sti­schen Hal­tung dar­an geht und immer auch das kon­kret Gesell­schaft­li­che, das Poli­ti­sche also, mit­ein­be­zieht. In genau die­ser Lie­der­ma­cher­tra­di­ti­on sehe ich mich, und ich hal­te den Ansatz gera­de heu­te wie­der für beson­ders wich­tig, da der euro­pa­wei­te Auf­marsch rech­ter Par­tei­en und Bewe­gun­gen den Faschis­mus als äußer­stes Mit­tel zur Ret­tung bür­ger­li­cher Herr­schaft in der Kri­se wie­der als rea­le Opti­on erschei­nen lässt.«

Im Sep­tem­ber erschien im Papy­Ros­sa Ver­lag, Köln, als Band 332 der Neu­en Klei­nen Biblio­thek Kai Degen­hardts Buch »Wes­sen Mor­gen ist der Mor­gen«, in dem er »im Spie­gel des Arbei­ter­lie­des die vie­len Kämp­fe und Nie­der­la­gen, Erfol­ge und Fehl­schlä­ge in der Geschich­te der deut­schen Arbei­ter­be­we­gung auf­blät­tert«, wie es im Klap­pen­text heißt. Mit­te Okto­ber star­te­te er dann in Ham­burg mit einer Ver­an­stal­tung im »Buch­la­den Oster­stra­ße« – »Lesen fängt links an« – sei­ne Tour­nee, die ihn unter dem Titel »Vor­trag mit Arbei­ter­lie­dern« bis zum Jah­res­en­de quer durch die Repu­blik füh­ren wird.

Was aber sind für Degen­hardt die Lie­der der deut­schen Arbei­ter­be­we­gung? Sei­ne Defi­ni­ti­on lau­tet: »Das Arbei­ter­lied ist ein Gesangs­stück, des­sen inhalt­li­che The­ma­tik sich speist aus den Erfah­run­gen der Werk­tä­ti­gen. (…) Kenn­zeich­nen­des Merk­mal ist ein ihm inhä­ren­tes Arbei­ter­klas­sen­be­wusst­sein im Sin­ne einer Moti­va­ti­on zum soli­da­ri­schen Klas­sen­kampf – von der betrieb­li­chen Ein­zel­ak­ti­on bis hin zur sozia­len Revo­lu­ti­on. (…) Die Arbei­ter­be­we­gung selbst ist maß­geb­li­che Trä­ge­rin des Arbei­ter­lieds. (…) Dabei vari­ie­ren Dar­bie­tungs­for­men, Spiel­ar­ten und Rezep­ti­ons­or­te in erheb­li­cher Bandbreite.«

Fol­ge­rich­tig rückt Degen­hardt nicht nur das Lied­gut, son­dern auch den histo­ri­schen Kon­text, in dem die Lie­der ent­stan­den sind, die Arbei­ter- und Klas­sen­kämp­fe, in den Mit­tel­punkt sei­nes Buches. Für ihn beginnt die Geschich­te des Arbei­ter­lieds mit dem Schle­si­schen Weber­auf­stand und dem von einem Anony­mus 1844 geschrie­be­nen »Blut­ge­richt«. Schluss­stro­phe: »Oh, euer Geld und euer Gut, /​ das wird der­einst zer­ge­hen /​ wie But­ter in der Son­ne Glut – /​ dann wird’s um euch gesche­hen!« Kai Degen­hardt griff bei der Lesung zur Gitar­re und sang.

20 Jah­re spä­ter, 1863, wird in Leip­zig der All­ge­mei­ne Deut­sche Arbei­ter­ver­ein unter Füh­rung von Fer­di­nand Lass­alle gegrün­det. Degen­hardt into­nier­te dazu das aus die­sem Anlass von dem Dich­ter und März-Revo­lu­tio­när Georg Her­wegh geschrie­be­ne »Bun­des­lied«: »Bet‘ und arbeit‘, ruft die Welt, /​ Bete kurz; denn Zeit ist Geld. /​ An die Türe pocht die Not. /​ Bete kurz, denn Zeit ist Brot.«

Juli 1870, Deutsch-Fran­zö­si­scher Krieg. Der deut­sche Sozi­al­de­mo­krat Max Kegel dich­te­te aus die­sem Anlass: »Ich bin Sol­dat. Doch bin ich es nicht ger­ne, /​ als ich es ward, hat man mich nicht gefragt …«. Wie­der griff Degen­hardt zur Gitarre.

Es folgt »Der Revo­luz­zer« von Erich Müh­sam aus dem Jahr 1907. Die­ses Spott­lied mit sei­ner Kri­tik an der Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei – »War ein­mal ein Revo­luz­zer, /​ im Zivil­stand Lam­pen­put­zer…« – nahm nach sei­ner Ver­to­nung im Jah­re 1929 der Sän­ger Ernst Busch in sein Reper­toire auf und mach­te es berühmt.

Näch­ste histo­ri­sche Sta­ti­on: das Jahr 1923 mit dem Ham­bur­ger Auf­stand und dem anonym ver­fass­ten »In Ham­burg fiel der erste Schuss«. Beim San­ges­vor­trag wur­de deut­lich, dass ein Teil der Zuhö­re­rin­nen und Zuhö­rer, aber auch der Inter­pret, bei der histo­ri­schen Ein­ord­nung des Auf­stands und sei­nes Ver­laufs eher der glo­ri­fi­zie­ren­den Ver­si­on Wil­li Bre­dels zuneigt (»Ham­burg auf den Bar­ri­ka­den«, in: »Unter Tür­men und Masten«), als einer Geschichts­schrei­bung, die die Rol­le der KPD-Zen­tra­le, des Ham­bur­ger KPD-Vor­sit­zen­den Ernst Thäl­mann, der Kom­in­tern und der sowje­ti­schen KP-Füh­rung kri­tisch beurteilt.

Beson­ders offen­sicht­lich wur­de dies beim fol­gen­den »Roten Wed­ding«, dem 1929 von Erich Wei­nert geschrie­be­nen und von Hanns Eis­ler ver­ton­ten Gas­sen­hau­er der gleich­na­mi­gen Agit­prop-Grup­pe. Den Text, der sich auf den »Ber­li­ner Blut­mai« von 1929 bezieht, als Poli­zei in den Ber­li­ner Arbei­ter­vier­teln Wed­ding und Neu­kölln vom 1. bis 3. Mai über 30 Per­so­nen erschoss, gibt es in vie­len Ver­sio­nen, auch Ernst Busch hat ihn spä­ter mehr­mals vari­iert. »Roter Wed­ding grüßt euch, Genos­sen! /​ Hal­tet die Fäu­ste bereit. /​ Hal­tet die roten Rei­hen geschlos­sen, /​ denn unser Tag ist nicht weit. /​ Dro­hend ste­hen die Faschi­sten /​ drü­ben am Hori­zont. /​ Pro­le­ta­ri­er, ihr müsst rüsten. /​ Rot Front! Rot Front!« (zwei­te Strophe).

Der damals amtie­ren­de Poli­zei­prä­si­dent von Ber­lin war ein Sozi­al­de­mo­krat. Und als es bei Degen­hardts Gesan­ges­vor­trag um das von die­sem zu ver­ant­wor­ten­de Mas­sa­ker ging – »der herr­schen­den Klas­se blut’ges Gesicht« –, da schien es, als wür­de so man­cher Zuhö­rer auch heu­te noch beim Stich­wort »Sozi­al­de­mo­kra­tie« eher an die­sen Karl Fried­rich Zör­gie­bel oder an Gustav Noske den­ken, der im Janu­ar 1919 den Spar­ta­kus­auf­stand nie­der­schla­gen ließ, als an Wil­ly Brandt und Egon Bahr.

Der Schrift­stel­ler und Schau­spie­ler Hans Drach, des­sen Vater beim Spar­ta­kus-Auf­stand eine bedeu­ten­de Rol­le gespielt hat­te, hat­te sich der sozia­li­sti­schen Bewe­gung in Ber­lin ange­schlos­sen und war vor den Nazis in die Sowjet­uni­on emi­griert. Mit ande­ren Künst­lern grün­de­te er 1935 in Dnje­pro­pe­trowsk – heu­te: Dnipro/​Ukraine – das »Deut­sche Kol­chosthea­ter«. Dort schrieb er »Mein Vater wird gesucht«. Mit ihm beschließt Degen­hardt auf sei­ner CD den Lie­der­zy­klus aus den 90 Jah­ren zwi­schen 1848 und dem Zwei­ten Welt­krieg: »Mein Vater wird gesucht /​ Er kommt nicht mehr nach Haus. /​ Sie het­zen ihn mit Hun­den, viel­leicht ist er gefun­den – /​ und kommt nicht mehr nach Haus.« Er kam nicht mehr nach Haus, eben­so wenig wie Hans Drach, der, wie es in einer Ver­öf­fent­li­chung des Kreis­mu­se­ums Wewels­burg bei Pader­born heißt, wegen angeb­li­cher Spit­zel­tä­tig­kei­ten 1936 in der Sowjet­uni­on ver­haf­tet und im Zuge des Hit­ler-Sta­lin-Pak­tes 1939 an die Gesta­po aus­ge­lie­fert wur­de. Er starb im KZ Nie­der­ha­gen-Wewels­burg im Dezem­ber 1941. Die Todes­um­stän­de sind unklar.

In sei­nem Buch hat Kai Degen­hardt den histo­ri­schen Faden noch wei­ter­ge­spon­nen, mit Kapi­teln über die Arbei­ter­lie­der in der DDR und der Bun­des­re­pu­blik von 1945 bis 1990 und nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung bis heute.

P.S. Im Jahr 2014 wur­de das »Sin­gen der Lie­der der deut­schen Arbei­ter­be­we­gung« in das Bun­des­wei­te Ver­zeich­nis des Imma­te­ri­el­len Kul­tur­er­bes im Sin­ne der UNESCO auf­ge­nom­men. Das Lied­gut sei »Aus­druck von Benach­tei­li­gung und Unter­drückung lohn­ab­hän­gi­ger Beschäf­tig­ter, aber auch von Gegen­wehr, Kamp­fes­wil­len und Zukunfts­ge­wiss­heit«. Kai Degen­hardt will mit sei­nem Buch und sei­nem Gesang die­ses Lied­gut erneut ins Bewusst­sein rücken, raus aus dem »Muse­um« holen.

 Kai Degen­hardt: Wes­sen Mor­gen ist der Mor­gen – Arbei­ter­lied und Arbei­ter­kämp­fe in Deutsch­land, Papy­Ros­sa Ver­lag, Köln 2023, 215 S., 16,90 €. Zu den Ter­mi­nen der Tour­nee sie­he www.kai-degenhardt.de.