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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wissen statt Glauben

Es ist nicht ein­fach mit Gott und der gött­li­chen Wahr­heit. Der reli­giö­se Glau­be ist zwangs­läu­fig an einen Abso­lut­heits­an­spruch gebun­den, der kei­ne Abwei­chun­gen und Kom­pro­mis­se erlaubt, sonst stürzt das gan­ze Glau­bens­kon­strukt in sich zusam­men – und damit die Hoff­nung auf eine Erlö­sung und ein Leben nach dem Tod. Und so unter­las­sen es die enthu­sia­sti­schen Gläu­bi­gen kon­se­quent – mit­un­ter radi­kal und fana­tisch! –, den Got­tes­be­weis zu erbrin­gen. In die­ser War­te­schlei­fe lebt der gläu­bi­ge Mensch.

Schon als Sieb­zehn­jäh­ri­ger war ich zu unge­dul­dig für die­se nebe­li­ge, himm­li­sche War­te­schlei­fe. Den Hort der »Hei­li­gen Kir­che« habe ich – zuvor noch eif­ri­ger Mini­strant – auf schnell­stem Weg ver­las­sen. Zuviel kam da zusam­men: die absur­de Apfel­ge­schich­te aus dem Para­dies, die kru­den Erzäh­lun­gen von Got­tes Leih­mut­ter Maria, vom hei­li­gen Geist und einem dop­pel­ten Schöp­fer, der aus Jesus und sei­nem Vater bestand; aller­lei abstru­se Wun­der­ge­schich­ten, dazu die stän­di­ge Sün­den-Dro­hung samt Erzeu­gung und Nutz­bar­ma­chung des schlech­ten Gewissens.

Zwei schma­le Taschen­bü­cher beglei­te­ten mich bei der Flucht aus »mei­ner« Kir­che: Joa­chims Kahls längst ver­ges­se­nes Bänd­chen Das Elend des Chri­sten­tums und vor allem: Bert­rand Rus­sells Text­samm­lung War­um ich kein Christ bin, bei­de 1968 bei Rowohlt erschie­nen. Rus­sell, bri­ti­scher Phi­lo­soph, Mathe­ma­ti­ker und Lite­ra­tur-Nobel­preis­trä­ger, wider­legt dar­in geist­reich reli­giö­sen Irr­glau­ben, dazu lie­fert er The­sen, die mich damals zum Grü­beln brach­ten. Das Buch wur­de zu mei­ner athe­isti­schen Erweckung.

Für Rus­sell ist die christ­li­che Got­tes­idee mit ihren Moral­ge­bo­ten und Erlö­sungs­ver­spre­chen »eine Leh­re der Grau­sam­keit«, ver­wur­zelt in alt­ori­en­ta­li­scher Des­po­tie und eines frei­en, selbst­be­stimm­ten Men­schen unwür­dig. Am Bei­spiel der katho­li­schen Sexu­al­mo­ral zeigt er uns die Fort­schritts­feind­lich­keit der katho­li­schen Kir­che und ihr Ver­hin­dern von Lebens­glück. Voll­ends mit sei­nem Ratio­na­lis­mus unver­ein­bar ist die Angst als Fun­da­ment der Reli­gi­on: »Angst vor dem Geheim­nis­vol­len, Angst vor Nie­der­la­gen, Angst vor dem Tod. Angst ist die Mut­ter der Grau­sam­keit, daher nimmt es nicht Wun­der, dass Grau­sam­keit und Reli­gi­on stets Hand in Hand gegan­gen sind.«

Rus­sell hat den Text, der ursprüng­lich 1927 als Vor­trag vor der Natio­nal Secu­lar Socie­ty gehal­ten wur­de, erst­mals 1957 zusam­men mit etli­chen ande­ren sei­ner reli­gi­ons­kri­ti­schen Schrif­ten her­aus­ge­bracht. Seit­her ist er in immer neu­en Aus­ga­ben zu einem Klas­si­ker der moder­nen Reli­gi­ons­kri­tik avan­ciert. Nun ist es bei Matthes & Seitz als klei­nes, schma­les Taschen­buch erschie­nen. Rus­sell beschreibt die Geschich­te des Chri­sten­tums als eine Abfol­ge von flä­chen­decken­der kör­per­li­cher und see­li­scher Grau­sam­keit, von Macht­po­li­tik und Unter­drückung. »Es ergibt die selt­sa­me Tat­sa­che, dass die Grau­sam­keit umso grö­ßer und die all­ge­mei­ne Lage umso schlim­mer waren, je stär­ker die Reli­gi­on und je fester der dog­ma­ti­sche Glau­be war.« Dass es bei­na­he ein­hun­dert Jah­re nach Rus­sells Befund kein Ende damit hat, zei­gen die jüng­sten Auf­deckun­gen welt­weit ver­üb­ter Miss­brauchs­ver­bre­chen von Prie­stern an Schutz­be­foh­le­nen. Eine Kon­ti­nui­tät des Grau­ens. Die Rus­sel­l’­sche Kri­tik gip­felt im Vor­wurf, dass »die christ­li­che Reli­gi­on in ihrer kirch­lich orga­ni­sier­ten Form der Haupt­feind des mora­li­schen Fort­schritts in der Welt war und bis heu­te ist«.

Statt­des­sen setzt Auf­klä­rer Rus­sel sei­ne Hoff­nung auf Ratio­na­li­tät und Intel­li­genz, um angst­frei im Dies­seits zu leben. Wer Gott neben sich wünscht, der soll­te dazu bereit sein, den eige­nen Ver­stand aus­zu­knip­sen. Zum Bei­spiel die unge­lö­ste Grund­fra­ge, war­um es so viel Grau­sam­keit und Unge­rech­tig­keit, Bar­ba­rei und Elend auf der Welt gibt, wenn doch alles von einem lie­ben­den und all­mäch­ti­gen Gott geschaf­fen wur­de? Selbst die inten­siv Reli­giö­sen tun sich hier mit einer plau­si­blen Ant­wort schwer. Sie sind gezwun­gen, sich düm­mer zu stel­len, als ihr lie­ber Herr­gott sie geschaf­fen hat.

Wis­sen statt Glau­ben, das ist Rus­sells Cre­do. Statt auf meta­phy­si­schem Wahr­heits-Anspruch setzt er auf ratio­na­le Wirk­lich­keits-Wahr­neh­mung. Die Lek­tü­re des schma­len Bänd­chens ist unbe­dingt lesens­wert. Dazu trägt auch das klu­ge Vor­wort des gera­de ver­stor­be­nen Mar­tin Wal­ser mit dem Titel Die Theo­lo­gie des Man­gels. Ein Ver­such, Bert­rand Rus­sell zu ergän­zen bei, in dem er sich vor dem Autor ver­beugt und ihm den­noch gern wider­spricht. Zwar stimmt er Rus­sell zu, die Angst sei die Basis aller Reli­gi­on, doch will Wal­ser eben­so auf die Begrenzt­heit des Russell’schen ratio­na­li­sti­schen Den­kens über Gott und Reli­gi­on hin­wei­sen. Denn: Kann man die epo­cha­len Kunst- und Musik­wer­ke gewor­de­nen »Reli­gi­ons­denk­mä­ler« der euro­päi­schen Kul­tur­ge­schich­te wirk­lich igno­rie­ren, die ihre Schön­heit doch viel­fach reli­giö­sem Ursprung ver­dan­ken und gera­de bis heu­te dadurch Trost zu spen­den ver­mö­gen? Die Lek­tü­re lie­fert viel­fäl­ti­ges Denk- und Refle­xi­ons­ma­te­ri­al für tief­sin­ni­ge Kon­tro­ver­sen über Gott, Göt­ter und ihr irdi­sches Boden­per­so­nal. Bert­rand Rus­sells Bekennt­nis­text ist ein zeit­lo­ser, aktu­el­ler Text. Nach wie vor leh­ren Reli­gio­nen das Fürch­ten, ste­hen als Quel­le für Into­le­ranz, Gewalt sowie kör­per­li­chen und see­li­schen Miss­brauch einem men­schen­wür­di­gen Zusam­men­le­ben im Wege. Ihr Ein­fluss auf Poli­tik und Gesell­schaft ist stark und mit­un­ter unheilvoll.

Bert­rand Rus­sell: War­um ich kein Christ bin, Matthes & Seitz, Ber­lin 2023, 188 S., 12 €.