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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Eine ungewöhnliche Frau

Der Trau­er­zug am 11. Febru­ar 1926 in Mos­kau muss gewal­tig gewe­sen sein. Neben Matro­sen, Stu­den­ten und Schü­lern befan­den sich Pro­mi­nen­te aus Krei­sen der Poli­tik und Lite­ra­tur dar­un­ter. So lie­ßen es sich sowohl Alex­an­dra Kol­lon­tai, Trotz­ki, Isaak Babel, Boris Paster­nak als auch Karl Radek oder Gene­ral Tuchat­schew­ski nicht neh­men, der Toten ein letz­tes Geleit zu geben. So jung – 30 Jah­re alt – und so schön war sie gewe­sen! Ver­we­gen und klug. (Und natür­lich war auch der Geheim­dienst zur Stelle.)

Laris­sa Reiss­ner (1895-1926), ein­mal die »Iko­ne der Revo­lu­ti­on« genannt, war an Typhus gestor­ben, raus­ge­ris­sen aus einem auf­re­gen­den Leben. Ihre Eltern waren Aka­de­mi­ker und Bol­sche­wi­ki, die nach 1896 eini­ge Jah­re im deut­schen Exil ver­bracht hat­ten. Laris­sa unter­stütz­te als Mäd­chen und jun­ge Frau die Bol­sche­wi­ki mit Zei­tungs­ar­beit und kämpf­te auch direkt als Sol­da­tin und Kund­schaf­te­rin, war die erste Kom­mis­sa­rin (Vor­bild für Wisch­newskis »Opti­mi­sti­sche Tra­gö­die«), folg­te ihrem Mann, einem ehe­ma­li­gen Kom­man­deur der Wol­ga­flot­te, in die afgha­ni­sche Bot­schaft und schrieb Erzäh­lun­gen und Repor­ta­gen, die Auf­se­hen erreg­ten. Enge Ver­bin­dun­gen hat­te sie nach Deutsch­land, und sie erfüll­te man­chen geheim­dienst­li­chen Auf­trag. Ein beson­de­res Aben­teu­er waren wohl die Tref­fen mit Oskar von Nie­der­may­er, des­sen Plan einer geo­po­li­ti­schen Revo­lu­ti­on sie in Afgha­ni­stan gefun­den hat­te und der nichts weni­ger bedeu­te­te als die Ver­än­de­rung der gan­zen Welt. Was für eine Visi­on für eine glü­hen­de Bolschewikin!

Das Leben und Wir­ken Laris­sa Reiss­ners ist fast ver­ges­sen. Als Autorin einer Repor­ta­ge über den Ham­bur­ger Auf­stand von 1923 wird sie hin und wie­der erwähnt, als Gelieb­te von Karl Radek kommt sie in Tex­ten über ihn vor. Es ist also ein gro­ßes Ver­dienst Stef­fen Kopetz­kys, sie »zurück« zu holen. Die Fak­ten ihres Lebens erfährt man zwar aus sei­nem Roman, aber die Mach­art des Buches leuch­tet mir nicht ein.

Im Roman dis­ku­tie­ren die Schrift­stel­ler­kol­le­gen über den zukünf­ti­gen neu­en rus­si­schen Roman, und Kopetz­ky lässt Paster­nak dazu sagen: »Der moder­ne rus­si­sche Roman muss ohne Vor­bild sein. Etwas Neu­es. So noch nie Geschrie­be­nes. Etwas, auf das man sich nicht vor­be­rei­ten kann. Ein aus den unter­schied­lich­sten Bestand­tei­len zusam­men­ge­setz­tes Ein­zel­stück, das jede Regel bricht, aber kei­ne Regel begrün­det.« Fast scheint es, dass Kopetz­ky eben das pro­biert – ein aus den unter­schied­lich­sten Bestand­tei­len zusam­men­ge­setz­tes Ein­zel­stück, das kein Gan­zes wird. Neben Berich­ten ver­schie­den­ster Leu­te, die mal auf die Reiss­ner getrof­fen waren, Pro­to­kol­le, Dreh­buch­aus­schnit­te, dann minu­tiö­se Beschrei­bun­gen von Ver­an­stal­tun­gen und Tref­fen. Da mischen sich ein Stück­chen Zeit­ge­schich­te mit Kri­mi-Anmu­tun­gen, da wer­den Gedich­te zitiert; es ist unklar, was der Kern des Gan­zen und was neben­säch­lich ist. Es ist ein Kon­glo­me­rat von vie­lem, aus dem man sich die Fak­ten über Laris­sa Reiss­ner zusam­men­su­chen muss. Scha­de, sie hät­te Bes­se­res verdient! 

Stef­fen Kopetz­ky: Damen­op­fer. Roman. Rowohlt- Ber­lin, 443 S., 26 €.