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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Walser als Romantiker

In sei­nem Buch »Mar­tin Wal­ser. Der Roman­ti­ker vom Boden­see« unter­nimmt Jochen Hie­ber den Ver­such, das gesam­te Schaf­fen Mar­tin Walsers sozu­sa­gen aus dem Gei­ste der Roman­tik zu erklä­ren. Das ist legi­tim und wirft durch­aus ein neu­es Licht auf den nun hoch­be­tagt ver­stor­be­nen »Groß­schrift­stel­ler«. Dass er es war, viel­leicht der letz­te, den die­ses Land her­vor­ge­bracht hat, unter­liegt wohl kei­nem Zwei­fel, erst recht nicht, wenn man Hie­bers Buch gele­sen hat. Auch die Ver­ket­tung des Walser’schen Schaf­fens mit der Roman­tik wird prä­zi­se, über­zeu­gend und instruk­tiv vor­ge­führt, wenn­gleich der Ver­fas­ser das drit­te Kapi­tel, in dem das »Roman­ti­sche an Wal­ser« luzid dar­ge­legt wird, mit der Ein­räu­mung beginnt: »Wal­ser in die Tra­di­ti­on roman­ti­scher Refle­xi­on und Emp­fin­dung zu stel­len, mag auf den ersten Blick befremd­lich erscheinen.«

In fünf essay­ar­ti­gen Abhand­lun­gen erschließt Jochen Hie­ber das »Roman­ti­sche« an Mar­tin Wal­ser und kommt zu fol­gen­dem Urteil­spruch, den man sich durch­aus auf der Zun­ge zer­ge­hen las­sen kann: »In der Sum­me ist die­ser Roman­ti­ker vom Boden­see ein Halbrom­an­ti­ker aus dem Geist der Auf­klä­rer, ein säku­la­rer Epi­pha­ni­ker, ein spät­i­ro­ni­scher Fich­te-Jün­ger und ein anar­chi­scher Träu­mer auf rea­li­sti­schem Grund.« Ei der Daus, Halbrom­an­ti­ker! Und dies, nach­dem fest­ge­stellt wur­de, und zwar mit Bezug auf Walsers 2018 erschie­ne­nen Roman »Gar alles oder Brie­fe an unbe­kann­te Gelieb­te«, dass mehr Roman­tik gar nicht gehe. Und zwar, weil hier im Sin­ne Nova­lis‘ roman­ti­siert wer­de. Zur Erin­ne­rung: Indem man dem Gemei­nen hohen Sinn, dem Gewöhn­li­chen geheim­nis­vol­les Anse­hen, dem End­li­chen unend­li­chen Schein ver­leiht und Bekann­tes als Unbe­kann­tes aus­gibt. Dies ist gewiss für Walsers Werk, beson­ders das epi­sche, zutreffend.

Es ist ein gro­ßer Vor­zug des Buches, dass Jochen Hie­ber es ermög­licht, sei­nen per­sön­li­chen Bezug zum Autor Mar­tin Wal­ser zu begrei­fen. Das ver­leiht den Pas­sa­gen über die von der Lite­ra­tur­sze­ne und der soge­nann­ten Öffent­lich­keit als »pro­ble­ma­tisch« emp­fun­de­nen oder gar skan­da­li­sier­ten Tex­te (»Tod eines Kri­ti­kers«, Rede zur Frie­dens­preis­ver­lei­hung) eine hohe Über­zeu­gungs­kraft. Auch, weil die Unge­reimt­hei­ten und Wider­sin­nig­kei­ten die­ser Strei­te­rei­en und Debat­ten auf­ge­zeigt wer­den, weil der Autor kla­re Posi­tio­nen bezieht und sie begrün­det. Dazu gehört, was äußerst sym­pa­thisch ist, dass er sei­ne Wal­ser-Vor­lie­ben eben­so benennt wie sei­ne Wal­ser-Ableh­nun­gen, etwa die Mut­ter­söhn­chen-Figur Alfred Dorn in »Ver­tei­di­gung der Kindheit«.

Wun­der­bar zu lesen sind die Pas­sa­gen im zwei­ten Kapi­tel über den Beginn sei­ner Beschäf­ti­gung mit Wal­ser als Ergeb­nis eines Schü­ler­jobs. Dem Drei­zehn­jäh­ri­gen war 1964 von einer Buch­händ­le­rin ange­bo­ten wor­den, ein­mal in der Woche in ihrem Geschäft aus­zu­hel­fen. Fast weh­mü­tig wird man, wenn man liest, wie Bücher einst Leben präg­ten, Lebens­läu­fe eröff­ne­ten, weil eben Böll, Dür­ren­matt, Frisch, Grass zu erlan­gen waren, weil der Jun­ge einen Vier­zei­ler von Inge­borg Bach­mann unter ein Poster der Rol­ling Stones kle­ben konn­te. Wenn man 1964 vier­zehn war und wie ich in einem in der DDR gele­ge­nen Inter­nat leb­te, dann waren die Bücher jener Autoren so gut wie uner­reich­bar, und das Kle­ben von Rol­ling-Stones-Pla­ka­ten unter­ließ man bes­ser, wenn einem das ange­streb­te Abitur lieb war.

Ist das heu­te noch wich­tig? Ja! Weil Jochen Hie­ber sehr schön auf­zeigt, wie Walsers »Geschichts­ge­fühl« (her­ge­nom­men von Johann Gott­lieb Fich­te) ihn davor bewahr­te, Deutsch­land als Gan­zes zu ver­ges­sen, zu über­se­hen, dass es eine DDR gab. Die Gren­ze zwi­schen den bei­den Staa­ten in Deutsch­land hielt er für eine Blöd­heit. Der in der DDR als Bei­na­he-Sozia­list geführ­te Franz Xaver Kroetz hin­ge­gen ließ ver­neh­men, dass ihm die­ses Land so fremd wie die Mon­go­lei sei. Hin­ge­gen muss­te sich Wal­ser in der im Auf­bau-Ver­lag Ber­lin und Wei­mar 1975 erschie­ne­nen Aus­ga­be »Fic­tion /​ Die Gallistl’sche Krank­heit« vom mit Marx und im Namen des Kom­mu­nis­mus argu­men­tie­ren­den Nach­wort­au­tor Heinz Pla­vi­us sagen las­sen: »Man­ches, was Wal­ser vor zwei bis drei Jah­ren über die DDR gesagt hat (…), inter­es­siert durch die Ent­wick­lung nach dem VIII. Par­tei­tag ledig­lich noch historisch.«

Es ist gut, dass sich Wal­ser, Roman­tik hin, Roman­tik her, von der­ar­ti­gen Bekun­dun­gen nicht hat beir­ren las­sen, dass ihn die dann doch erreich­te deut­sche Ein­heit beglückt hat. Selt­sam ist, dass Mar­tin Wal­ser den­noch kaum als ein gesamt­deut­scher Autor wahr­ge­nom­men wird, eher als ein »west­deut­scher«. Wobei das auch wie­der nicht stimmt, denn man müss­te dann »süd­west­deut­scher Autor« sagen und wür­de sich lächer­lich machen. Nein, es ist an der Zeit, Wal­ser zu begrei­fen als den Autor, der die Deut­schen treff­lich zeigt: »Du siehst ja wie­der aus wie ein Bou­ti­quen­so­zia­list«, sagt jemand im Roman »Die Gallistl’sche Krank­heit«. Wal­ser hat­te den Mut, zu als unpas­send emp­fun­de­ner Zeit das Unan­ge­neh­me aus­zu­spre­chen; er scheu­te weder die Geschmack­lo­sig­keit noch das har­te Urteil, wenn er Wah­res über sein Land und des­sen Bewoh­ner sagen woll­te. In die­sem Sin­ne ist er ein sel­te­ner deut­scher Autor.

Die­sen Ein­druck bestärkt auch das Buch von Jochen Hie­ber. Wer sich wie­der oder über­haupt ein­mal mit Mar­tin Wal­ser beschäf­ti­gen will, der trifft mit die­sem Buch eine gute Wahl. Sein Ver­fas­ser bleibt immer nah bei Wal­ser, beur­teilt ihn, ver­ur­teilt ihn nicht, er zeigt, wo Leser fün­dig wer­den kön­nen, wo sie viel­leicht vor­sich­tig wer­den soll­ten – und dies geschieht aus genau­er Kennt­nis von Autor und Werk, und zwar mit der gebüh­ren­den Distanz-Sym­pa­thie betrach­tet. Da der Autor, was hier völ­lig legi­tim ist, auch von sich spricht, liest man eine Lite­ra­tur­ge­schich­te, von der Roman­tik aus­ge­hend, eine Histo­rie sei­ner Lebens- und Arbeits­jah­re – und in der Haupt­sa­che eine pro­fun­de Walser-Analyse.

Jochen Hie­ber: Der Roman­ti­ker vom Boden­see, wbg Theiss, 2022, 304 S., 29 €.