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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Homeoffice-Tagebuch (IV)

25.4.: Grân­do­la Vila Morena

Die erste Woche Home­schoo­ling nach den Oster­fe­ri­en ist durch, die Ner­ven lie­gen blank. Mei­ne Toch­ter sitzt am Abend heu­lend neben mir. »Ich will wie­der in die Schu­le. Ich will wie­der in die Schu­le«, wim­mert sie immer wie­der. Sie hat fest­ge­stellt, dass sie ihre Fran­zö­sisch-Auf­ga­ben ver­ges­sen hat, lässt sich durch nichts beru­hi­gen, dass sie die noch nach­tra­gen kann. Es ist auch nur der Anlass. Ihr fehlt das Mit­ein­an­der, das Zusam­men­sein. Zoom und Sky­pe erset­zen eben nicht die Klas­sen­ge­mein­schaft und Eltern im Home­of­fice kei­ne auf­merk­sa­men Lehr­kräf­te und aus­ge­bil­de­ten Pädagogen.

Auf­mun­te­rung kommt aus Por­tu­gal. Pfle­ger, Kran­ken­schwe­stern und Ärz­te des Not­fall­dien­stes in der Kli­nik São José im Her­zen Lis­sa­bons sin­gen das Kampf­lied »Grân­do­la Vila More­na«, eine wun­der­ba­re Bot­schaft der Soli­da­ri­tät, für Frei­heit, Gleich­heit und Brü­der­lich­keit. Doris Pump­hrey von der Ber­li­ner Frie­dens­ko­or­di­na­ti­on macht auf das bewe­gen­de kul­tu­rel­le High­light im ver­ein­ten Wider­stand gegen Coro­na auf­merk­sam (https://kurzlink.de/GrandolaVilaMorena) und erin­nert: »Por­tu­gal, in der Nacht vom 24. auf den 25. April 1974: Das Lied ›Grân­do­la Vila More­na‹ ertönt zwei­mal hin­ter­ein­an­der im katho­li­schen Rund­funk­sen­der Rádio Ren­as­cen­ça. Es ist das ver­ab­re­de­te Signal zum Auf­stand. Auf ihren Pan­zern ver­las­sen Sol­da­ten die Kaser­nen und beset­zen die Schalt­stel­len der Macht. Auf den Stra­ßen Lis­sa­bons wer­den sie jubelnd von der Bevöl­ke­rung begrüßt, die ihre Uni­for­men und Geweh­re mit Nel­ken schmückt. Die ›Nel­ken­re­vo­lu­ti­on‹ been­det in Por­tu­gal die faschi­sti­sche Dik­ta­tur. Die Hym­ne der Nel­ken­re­vo­lu­ti­on ist seit­dem das berühm­te­ste Kampf­lied in Por­tu­gal.« Was mögen die tap­fe­ren Kli­nik­be­schäf­tig­ten dort bloß den­ken, wenn sie von soge­nann­ten Hygie­ne-Demos in Ber­lin hören, bei denen die Coro­na-Pan­de­mie als Fake bezeich­net und staat­li­che Abwehr­maß­nah­men als faschi­stisch eti­ket­tiert werden …

 

28.4.: AKK auf Minderjährigenfang

Die Bun­des­wehr geht mit Covid-19 bei Min­der­jäh­ri­gen auf Rekru­ten­fang. Mein älte­ster Sohn (16) bekommt unge­fragt und unge­be­ten eine Post­kar­te mit Tarn­fleck. »Wir kämp­fen gegen Coro­na«, heißt es da. Auf der Vor­der­sei­te mit einem Namens­schild auf dem Kampf­an­zug ist sein Nach­na­me auf­ge­druckt. Auf der Rück­sei­te wird er zum VIP erklärt, zur »Very Important Per­son«: »Hi«, kum­pelt ihn da die PR-Abtei­lung von Anne­gret Kramp-Kar­ren­bau­er an, »bestimmt hast du die aktu­el­le Situa­ti­on um das Covid-19-Virus inten­siv ver­folgt. Gera­de in die­ser schwie­ri­gen Zeit unter­stützt die Bun­des­wehr mit ihren Frau­en und Män­nern in Uni­form und in Zivil die deut­sche Bevöl­ke­rung mit allen Kräf­ten. Mach dir selbst ein Bild von den viel­fäl­ti­gen Auf­ga­ben in den Streit­kräf­ten – zum Bei­spiel im frei­wil­li­gen Wehr­dienst …« Ins­ge­samt sol­len 680.000 sol­cher Wer­be­kärt­chen an Jugend­li­che ver­schickt wor­den sein. Die Bun­des­wehr lässt sich die Akti­on Pres­se­be­rich­ten zufol­ge über eine Vier­tel­mil­li­on Euro kosten. Die Adress­da­ten hat sie von den kom­mu­na­len Mel­de­be­hör­den bekom­men. Die über­mit­teln jähr­lich Name, Vor­na­me und Anschrift aller Per­so­nen mit deut­scher Staats­an­ge­hö­rig­keit, die im näch­sten Jahr voll­jäh­rig wer­den, an das Bun­des­amt für das Per­so­nal­ma­nage­ment der Bun­des­wehr, sofern man vor­ab nicht wider­spro­chen hat – wovon frei­lich 99,99 Pro­zent nichts wis­sen dürf­ten (sie­he Bei­trag von Ekke­hard Lentz in Ossietzky 6/​2018). Bei der abend­li­chen Coro­na-Son­der­sen­dung im Ersten fra­gen wir uns, war­um wirbt eigent­lich nicht der Gesund­heits­mi­ni­ster so offen­siv für sinn­vol­le und gesell­schaft­lich wich­ti­ge Aufgaben?

 

30.4.: Total­aus­fall für Konzerte

Ticket­ma­ster macht per E-Mail auf die Absa­ge des Musik­fests Lol­la­pa­loo­za Ber­lin 2020 auf­merk­sam. Die Groß­ver­an­stal­tung soll­te Anfang Sep­tem­ber im und um das Olym­pia­sta­di­on statt­fin­den. Die Kin­der hat­ten sich rie­sig auf die Drau­ßen­kon­zer­te mit ihren Stars gefreut. Mei­ne Begei­ste­rung für die pop­kul­tu­rel­le Kom­merz­ver­an­stal­tung hat­te sich von Anfang an in Gren­zen gehal­ten, auch mit Blick auf die stol­zen Ein­tritts­prei­se. Die Ticket­ko­sten sol­len erstat­tet wer­den. Von Nach­fra­gen dies­be­züg­lich bit­tet man abzusehen …

Ob Kom­merz- oder Sub­kul­tur, bun­des­weit fal­len tau­sen­de Kon­zer­te ins Was­ser, Festi­vals wie die »Fusi­on« in Meck­len­burg-Vor­pom­mern, auf das mein Älte­ster woll­te, aber auch klei­ne Auf­füh­run­gen wie die der Schul­band mei­ner Toch­ter beim Som­mer­fest, das selbst­re­dend nicht statt­fin­den wird. In der Klas­sik­spar­te rech­nen nam­haf­te Ver­an­stal­ter mit min­de­stens zwei Jah­ren, bis sich das Gen­re vom Lock­down erholt hat, wenn über­haupt, zie­hen die Auf­füh­run­gen in der Regel doch eher älte­res Publi­kum an, das zur Covid-19-Risi­ko­grup­pe gehört und ent­spre­chend ver­un­si­chert ist.

 

4.5.: Revo­lu­tio­nä­rer Komponist

Im Musik­un­ter­richt mei­ner Toch­ter ist pas­send zum 250. Geburts­tag Beet­ho­ven ange­sagt. Sin­ni­ger­wei­se ver­weist die Leh­re­rin auf eine inter­ak­ti­ve Begeg­nung mit dem Kom­po­ni­sten, die das Beet­ho­ven-Haus in Bonn für Kin­der und Jugend­li­che im Alter von zehn bis 13 ent­wickelt hat (https://hallo.beethoven.de). Ver­schie­de­ne The­men­fel­der erschlie­ßen die Lebens­welt des Noten­bau­ers. Zur fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on heißt es da kind­ge­recht: »1789 gibt es in Frank­reich einen Umsturz: Das Volk ist unzu­frie­den, ent­mach­tet den König und über­nimmt die Herr­schaft. Frei­heit, Gleich­heit und Brü­der­lich­keit sol­len von jetzt an für alle gel­ten. Glei­che Rech­te für jeden – das ist völ­lig neu. Die­se Ideen beflü­geln vie­le, auch außer­halb Frank­reichs.« Auch Beet­ho­ven. Ein unter­halt­sa­mer Mul­ti­ple-Choice-Test run­det die Sei­te ab. Mei­ne Toch­ter ist begei­stert bei der Sache. Ich selbst beloh­ne mich mit »Beet­ho­ven. 100 Sei­ten« von Ste­fan Sie­gert. Das schma­le Büch­lein, erschie­nen bei Reclam, ver­eint die Schaf­fens- und Lebens­li­ni­en des Künst­lers. Er ist ein Kind der Revo­lu­ti­on, das mit sei­ner Musik ganz neue Wege ein­ge­schla­gen hat. »Was immer der mit einem Mini­mum an Bil­dung ins gei­sti­ge Leben gestar­te­te Beet­ho­ven von Kant, dem Phi­lo­so­phen der Auf­klä­rung, gele­sen und ver­stan­den hat: Radi­kal wie weni­ge sei­ner Zeit­ge­nos­sen beginnt er, des­sen Kern­ge­dan­ken zu leben: Der Mensch ist kein ›Geschöpf‹ mehr, son­dern Pro­me­theus‘ Kind, der kri­tisch sich selbst bewuss­te und reflek­tie­ren­de ›Schöp­fer‹ sei­nes Lebens. ›Der bestirn­te Him­mel über uns‹, schreibt der älte­re Beet­ho­ven in eines sei­ner Kon­ver­sa­ti­ons­hef­te, ›und das Sit­ten­ge­setz in uns, Kant!!!‹« Beet­ho­ven ist ein revo­lu­tio­nä­rer Kom­po­nist in einer vom Epo­chen­wech­sel erschüt­ter­ten Zeit, so Sie­gert. »Alles Her­ge­brach­te im Hegel’schen Dop­pel­sinn auf­zu­he­ben im noch Unbe­kann­ten, auch das ist für Beet­ho­ven Frei­heit im Sinn der drei in der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on for­mu­lier­ten Zie­le einer soli­da­ri­schen Mensch­heit. Beet­ho­ven erlebt ihre Unein­lös­bar­keit in der poli­ti­schen Rea­li­tät sei­ner Zeit, er wird die Idee in der Musik ver­wirk­li­chen.« Ein tol­les, flot­tes wie prä­gnan­tes Buch, das hof­fent­lich vie­le Leser fin­det. Ich wün­sche ihm den Ein­satz im fächer­über­grei­fen­den Schul­un­ter­richt, ganz analog.