Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Erinnerungen in Zeiten der Flucht

Es wird viel und häu­fig und sehr kon­tro­vers über Migran­ten und Geflüch­te­te gere­det – aber viel zu wenig reden wir mit ihnen. Viel zu sel­ten lesen wir Authen­ti­sches über ihre Schick­sa­le in ihren Her­kunfts­län­dern und auf der Flucht, über ihre Situa­ti­on und Nöte hier­zu­lan­de, über ihre Hoff­nun­gen und Lebensziele.

In dem sozio­kul­tu­rel­len Pro­jekt »Bre­mer Kul­tur ohne Gren­zen« (Kon­zept: Cri­sti­na Col­lao), auf das sich Alva­ro Solars Buch »Gren­zen­lo­se Hoff­nung. Erin­ne­run­gen in Zei­ten der Flucht« stützt, wird mit den Mit­teln des bio­gra­fi­schen Thea­ters die­sem Man­ko ent­ge­gen­ge­wirkt: Hier kön­nen sich die Teil­neh­men­den ein wenig öff­nen, hier kommt Ver­dräng­tes zag­haft ans Licht, hier kom­men die Betrof­fe­nen aus unter­schied­li­chen Län­dern end­lich selbst zu Wort. Ein mit­un­ter recht schwie­ri­ger Pro­zess, in dem man­che sich ver­lie­ren und wie­der­fin­den, in dem ande­re sich von Äng­sten befrei­en, stär­ken und eman­zi­pie­ren und ihren ehe­dem unter­drück­ten Phan­ta­sien frei­en Lauf lassen.

Das Buch ist aus dem bio­gra­fi­schen Thea­ter­pro­jekt des Ensem­bles »Thea­ter Aber Anders­rum« (Bre­men) her­vor­ge­gan­gen. Die Grün­der des Ensem­bles, Cri­sti­na Col­lao und Alva­ro Solar, began­nen bereits im Jahr 2015, bio­gra­fi­sche Thea­ter-Work­shops zu ver­an­stal­ten – zunächst in Chi­le, in der Stadt Val­pa­raí­so, wo sie zum The­ma »Die noch zu rea­li­sie­ren­de Rei­se« einen Work­shop für jun­ge Schau­spie­le­rin­nen und Schau­spie­ler aus Chi­le, Peru und Frank­reich durchführten.

Aus­ge­hend von die­ser Erfah­rung und davon inspi­riert beschlos­sen sie, eine sozio-kul­tu­rell-künst­le­ri­sche Ant­wort auf die glo­ba­le »Migra­ti­ons­kri­se« zu geben, wie sie ab 2015 die poli­ti­sche Debat­te domi­nier­te, die Bevöl­ke­rung hier­zu­lan­de und in ganz Euro­pa beschäf­tig­te und die Gemü­ter erhitz­te. Zurück in der Bun­des­re­pu­blik began­nen sie in Bre­men, kosten­lo­se bio­gra­fi­sche Thea­ter-Work­shops anzu­bie­ten, dar­in unmit­tel­bar mit Geflüch­te­ten und Migran­ten zusam­men­zu­ar­bei­ten und Erkun­dun­gen mit der Metho­de des bio­gra­fi­schen Thea­ters durchzuführen.

An den Work­shops nah­men Jugend­li­che und Erwach­se­ne von 16 bis 80 Jah­ren teil, Frau­en und Män­ner aus Syri­en, Afgha­ni­stan, Eri­trea, der Tür­kei, Gha­na, Ägyp­ten, Alba­ni­en, Ser­bi­en, Kame­run, Irak, Iran und so wei­ter, aber auch jun­ge Erwach­se­ne aus Deutsch­land oder hier mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund gebo­re­ne Men­schen. Nach mehr als zwan­zig sol­cher Zusam­men­künf­te wer­den nun die auf­schluss­rei­chen, oft erschüt­tern­den und span­nen­den Ergeb­nis­se aus die­sen Work­shops erst­mals ver­öf­fent­licht. Alva­ro Solar und Cri­sti­na Col­lao beschrei­ben Arbeits­wei­se und Metho­de des bio­gra­fi­schen Thea­ters so: »Die in die­sem Buch prä­sen­tier­ten Geschich­ten sind mit­hil­fe von Thea­ter­übun­gen ent­stan­den, die die Erin­ne­run­gen sti­mu­lie­ren und die durch inti­me Betrach­tung der eige­nen Per­sön­lich­keit den Weg eröff­nen, ohne Angst Epi­so­den aus dem eige­nen Leben erzäh­len zu kön­nen. Yoga, Kör­per­trai­ning und Thea­ter­übun­gen wer­den wäh­rend des Work­shops mit Rhyth­mus­übun­gen kom­bi­niert, um psy­chi­sche Blocka­den zu lösen, Äng­ste zu über­win­den und Ver­dräng­tes wie­der­zu­ent­decken, die Vor­stel­lungs­kraft zu ent­wickeln und das Gedächt­nis zu wecken.«

Am Ende der Work­shops, die jeweils zwölf Tage dau­ern, ist jeder und jede in der Lage, sich so weit zu öff­nen, um eine kur­ze per­sön­li­che Geschich­te zu erzäh­len, die aus sei­ner bezie­hungs­wei­se ihrer eige­nen Lebens­er­fah­rung resul­tiert. Die Teil­neh­men­den erzähl­ten die­se Geschich­ten am letz­ten Tag des Work­shops in einer öffent­li­chen »Werk­schau« – ent­we­der auf Deutsch oder in ihrer Mut­ter­spra­che mit par­al­le­ler Übersetzung.

»Gren­zen­lo­se Hoff­nung. Erin­ne­run­gen in Zei­ten der Flucht« ver­sam­melt 55 sol­cher bio­gra­fi­scher Erzäh­lun­gen aus den Erin­ne­run­gen der Work­shop-Teil­neh­men­den. Es doku­men­tiert damit die viel­schich­ti­gen Resul­ta­te des Thea­ter­pro­jekts – dra­ma­tur­gisch bear­bei­tet, umge­setzt und her­aus­ge­ge­ben von dem chi­le­nisch-deut­schen Thea­ter­re­gis­seur und Schau­spie­ler Alva­ro Solar. Die chi­le­ni­sche Künst­le­rin Cri­sti­na Col­lao hat das Buch mit 21 Gra­fi­ken illu­striert und berei­chert, die anläss­lich der bio­gra­fi­schen Erzäh­lun­gen ent­stan­den sind und die­se ergänzen.

Inhalt­lich hält das Buch die häu­fig so durch­ein­an­der­ge­wir­bel­ten und wid­ri­gen Lebens­ge­schich­ten der geflüch­te­ten Prot­ago­ni­sten fest: per­sön­li­che Geschich­ten aus ihren Ursprungs­län­dern, über Kind­heit und Fami­lie, Arbeit und Leben, ihre Flucht­er­leb­nis­se und über all die Schwie­rig­kei­ten, hier­zu­lan­de Fuß zu fas­sen, sich ein­zu­brin­gen und aner­kannt zu wer­den. Aber eben auch, und das steht häu­fig im Vor­der­grund, Erzäh­lun­gen über Sehn­süch­te, Wün­sche und Lebens­zie­le – mit all ihren Wider­sprüch­lich­kei­ten und Zweifeln.

Es lohnt sich, auch zwi­schen den Zei­len zu lesen, um zu erah­nen, wes­halb über gewis­se Prä­gun­gen, Erfah­run­gen und Kon­flik­te nicht oder nur andeu­tungs­wei­se gespro­chen wird. Denn es geht schließ­lich auch um Not und Elend, Krieg und Ter­ror, Flucht­ur­sa­chen und Ver­trei­bung, um Dis­kri­mi­nie­rung, Ras­sis­mus und Aus­gren­zung. Es geht in die­sen wider­sprüch­li­chen Erzäh­lun­gen aus unse­rer zeit­ge­nös­si­schen Ein­wan­de­rungs­ge­sell­schaft eben auch um Leben und Tod, Auf­bruch und Äng­ste, um Ver­lu­ste und Träu­me, um Illu­sio­nen und Hoffnung.

Das Buch und das zugrun­de­lie­gen­de Pro­jekt hät­ten in jeder euro­päi­schen Stadt ent­ste­hen kön­nen, wo heu­te ver­schie­de­ne Kul­tu­ren, Reli­gio­nen, Spra­chen und Bräu­che die­sel­be Erde tei­len. Das Buch steht, so ver­ste­hen es Alva­ro Solar und Cri­sti­na Col­lao, »für Viel­falt, Zusam­men­le­ben und Respekt auf Augen­hö­he«. Sie beschrei­ben ihre Moti­va­ti­on für die­se Arbeit fol­gen­der­ma­ßen: »In einer Zeit der soge­nann­ten Flücht­lings- und Migra­ti­ons­kri­se glau­ben wir, dass es wich­tig ist, per­sön­li­che Geschich­ten und indi­vi­du­el­le Schick­sa­le, die für Mil­lio­nen von Men­schen reprä­sen­ta­tiv sind, einer inter­es­sier­ten und wachen Öffent­lich­keit zur Kennt­nis zu geben. Auf die­se Wei­se kann das Thea­ter als künst­le­ri­sche Form zur Bekämp­fung von Dis­kri­mi­nie­rung und Ras­sis­mus bei­tra­gen, die heut­zu­ta­ge lei­der zur Haupt­ba­sti­on popu­li­sti­scher und natio­na­li­sti­scher Bewe­gun­gen in Euro­pa gewor­den sind.«

In der gren­zen­lo­sen Hoff­nung, dass die­ses auf­klä­re­ri­sche Ansin­nen in Erfül­lung gehen und Anreiz bie­ten möge, ähn­li­che Pro­jek­te zu ent­wickeln und die Öffent­lich­keit an ihren Ergeb­nis­sen und Erkennt­nis­sen teil­ha­ben zu lassen.

 

Der Text erscheint Mit­te Mai als Vor­wort zu Alva­ro Solars Buch »Gren­zen­lo­se Hoff­nung. Erin­ne­run­gen in Zei­ten der Flucht«; Hirn­kost, 204 Sei­ten, 25 €; Bezug über Buch­han­del, per Mail: prverlag@hirnkost.de oder Online-Bestel­lung: https://shop.hirnkost.de.