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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Individualismus als Falle

Es ist sicher­lich ein gro­ßer Fort­schritt, dass in der Moder­ne Wert und Pra­xis der Indi­vi­dua­li­tät, d. h. der Ein­zig­ar­tig­keit mensch­li­cher Per­sön­lich­kei­ten und ihre diver­sen Lebens­wei­sen, erheb­lich zuge­nom­men haben. Dafür sind die heu­ti­gen, oft mul­ti­eth­ni­schen und mul­ti­na­tio­na­len Sozia­li­sa­ti­ons­ge­schich­ten vie­ler Men­schen ver­ant­wort­lich sowie die viel­fäl­ti­gen Bil­dungs­we­ge und Arbeits­bio­gra­fien im wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schen Zeit­al­ter, min­de­stens in den ent­wickel­ten Indu­strie­staa­ten. Das ist ein Schatz an Sub­jek­ti­vi­tät, der das Poten­zi­al hat, eigen­stän­di­ges Den­ken und Han­deln zu stär­ken und der Unter­tä­nig­keit, dem Kada­ver­ge­hor­sam vori­ger Jahr­hun­der­te, in viel­fäl­ti­ger Bezie­hung entgegenzuwirken.

Die Kehr­sei­te die­ser Ent­wick­lun­gen ist aller­dings eine zuneh­men­de Abkaps­lung vie­ler Men­schen, die sich pri­vat und gesell­schaft­lich häu­fig in ato­mi­sier­ten »Bla­sen« bewe­gen. Eine erschrecken­de Ent­frem­dung zwi­schen den Men­schen hat sich vor allem in den anony­men Mega­städ­ten breit gemacht. Das beruht haupt­säch­lich auf der Funk­ti­ons­wei­se der bür­ger­lich-kapi­ta­li­sti­schen Gesell­schaft, wo ein jeder zuse­hen muss, wie er im Kon­kur­renz­kampf sei­ne eige­ne Exi­stenz sichert, oft in erbit­ter­ten Kon­flik­ten, jeder gegen jeden »Mit­be­wer­ber«, was durch die soge­nann­ten »Arbeit­ge­ber« auch noch stän­dig beför­dert wird. Der Mensch als Ware auf dem Arbeits­markt lässt grü­ßen! Was in der frü­hen Arbei­ter­be­we­gung durch die kol­lek­tiv arbei­ten­den Hand­werks­be­trie­be und in den gro­ßen Fabri­ken, in der die mei­sten Lohn­ab­hän­gi­gen tätig waren, noch zu einem stär­ke­ren Mit­ein­an­der geführt haben mag, ist durch die heu­ti­ge, oft digi­ta­le Dienst­lei­tungs- und Kon­sum­ge­sell­schaft, schon gar mit »Home­of­fice«, viel­fach ver­lo­ren gegan­gen. Das för­dert Ich­be­zo­gen­heit, Ego­is­mus, sogar Autis­mus und vor allem eine gefähr­li­che Ent­po­li­ti­sie­rung. Denn die­se hier nur ange­deu­te­ten Ent­frem­dun­gen haben ver­hee­ren­de Kon­se­quen­zen für den Zustand und die Wei­ter­ent­wick­lung der poli­ti­schen Kultur.

Wer sich dem ent­ge­gen­stellt und ent­schließt, in zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen, gar in poli­ti­schen Par­tei­en mit­zu­ar­bei­ten, mit dem Anlie­gen, sich stär­ker für das Gemein­wohl ein­zu­set­zen, läuft oft weit­ge­hend ins Lee­re, ist häu­fig ohn­mäch­tig auf die eige­ne indi­vi­du­el­le »Bla­se« zurück­ge­wor­fen. Er oder sie ist blockiert, um sich als Zoon poli­ti­kon zu betä­ti­gen, als »sozia­les und poli­ti­sches Lebe­we­sen«, wie es schon Ari­sto­te­les für die grie­chi­sche Polis geni­al defi­nier­te. Aber auch damals galt das alles bekannt­lich nicht für Skla­ven und Frauen.

Was tun, um etwa in der soge­nann­ten reprä­sen­ta­ti­ven Demo­kra­tie, die bereits im 19. Jahr­hun­dert zurecht als »Herr­schaft der Weni­gen« und nicht als »Herr­schaft der Besten« defi­niert wur­de, den­noch eine Rol­le als Zoon poli­ti­kon zu spie­len und Teil­ha­ber einer wirk­li­chen Volks­herr­schaft zu wer­den? Es herrscht hier ein sub­stan­zi­el­ler Man­gel, eine exi­sten­zi­el­le Leer­stel­le: Eine Lebens­pra­xis der Ohn­macht macht uns Tag und Nacht klein und lässt uns inhu­man, oft mit Selbst- und Fremd­hass kom­bi­niert, »pri­va­ti­sie­ren« und ver­spie­ßern. Jeder lebt und stirbt letzt­lich für sich allein, die geprie­se­ne Indi­vi­dua­li­tät wird zur exi­sten­zi­el­len Falle.

Was mir in die­ser Gesell­schaft, dem angeb­li­chen »Wer­te­we­sten«, schmerz­haft fehlt, ist der sozia­le Zusam­men­halt: die Kon­sens bil­den­de, über­zeu­gen­de gesell­schaft­li­che Visi­on einer post-kapi­ta­li­sti­schen Gesell­schaft, mit fol­gen­den zukunfts­wei­sen­den Essen­ti­als: dass Auf­rü­stung und Krie­ge kei­ne Wege zum Frie­den eröff­nen, son­dern das genaue Gegen­teil davon bewir­ken; dass sozia­le Spal­tung die Haupt­ur­sa­che dafür ist, wenn uni­ver­sel­le Men­schen­rech­te nicht ver­wirk­licht wer­den kön­nen; das Wirt­schafts­wachs­tum, um sei­ner selbst wil­len, zwar Pro­fit für wohl­ha­ben­de Min­der­hei­ten und even­tu­ell noch für Mit­tel­schich­ten abwirft, aber unse­re natür­li­chen Lebens­grund­la­gen dadurch ver­nich­tet wer­den; dass bes­se­re Bil­dungs­chan­cen für Kin­der und Jugend­li­che aus betuch­ten Fami­li­en sozia­le Spal­tung und Ent­frem­dung lebens­lang zemen­tie­ren; dass Medi­en, in denen sich die herr­schen­de Klas­se strei­tet oder unter­hält, für die Mehr­heit der Men­schen ver­schlos­sen blei­ben; dass poli­ti­sche Par­tei­en, die nur alle vier Jah­re um Wäh­ler­stim­men wer­ben, nicht wirk­lich in der Bevöl­ke­rungs­mehr­heit demo­kra­tisch ver­an­kert sind

Das alles führt auch dazu, dass in den Par­tei­en nicht die Kom­pe­ten­te­sten, son­dern die Kar­rie­ri­sten das Sagen haben. Zudem erzeugt der fra­gi­le Sozi­al­staat eine wei­te­re sozia­le Unsi­cher­heit. Wer mit der Finan­zie­rung der Woh­nung, der eige­nen Kin­dern, der Gesund­heits­für­sor­ge, der Ren­te usw. nicht hin­kommt, der kann sich schon gar nicht als sozia­les und poli­ti­sches Wesen ein­brin­gen, son­dern erstickt in pri­va­ten Exi­stenz­sor­gen. Die­se Ohn­macht führt dazu, dass Men­schen sich von der Poli­tik abwen­den, oder sich gar den rech­ten Rat­ten­fän­gern zuwen­den, die ihnen ver­lo­ge­ne und dem­ago­gi­sche Heils­ver­spre­chun­gen machen.

Der jet­zi­ge Gesell­schafts­zu­stand erzeugt so nur eine mehr oder weni­ger feind­se­li­ge Ego­ma­nen-Gesell­schaft. Da hel­fen auch nicht ein paar Demon­stra­tio­nen auf den Stra­ßen gegen rechts, wenn der Kampf gegen die außen- und innen­po­li­ti­schen Ursa­chen der gras­sie­ren­den Ent­frem­dun­gen zwi­schen Regie­ren­den und Regier­ten nicht im Mit­tel­punkt der poli­ti­schen For­de­run­gen steht und zu grund­le­gen­den Gesell­schafts­ver­än­de­run­gen führt. Wir benö­ti­gen drin­gend ein neu­es kol­lek­ti­ves Gesell­schafts­be­wusst­sein, ent­spre­chend der UN-Char­ta, das auf der Durch­set­zung 1. der Gebo­te des Men­schen­rechts auf Abrü­stung und Frie­den, 2. aller sozia­len Men­schen­rech­te, 3. der Umwelt­men­schen­rech­te und 4. der poli­ti­schen Men­schen­rech­te basiert, in der wir wirk­lich, als sozia­le und poli­ti­sche Wesen, huma­ni­sie­rend am Gemein­wohl mit­wir­ken können.

Vom Autor ist in die­sen Tagen erschie­nen: Bar­ba­rei oder Sozia­lis­mus? Eine poli­ti­sche Navi­ga­ti­on, Ver­gan­gen­heits­ver­lag, Ber­lin 2024, 90 S., 10 €.