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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Jean Ziegler zum 90sten Geburtstag

Als der Ost­block zusam­men­ge­bro­chen war, Ende August 1991, schrieb ein anony­mer Pas­sant mit Pin­sel und wei­ßer Far­be an das Mos­kau­er Marx-Denk­mal: »Pro­le­ta­ri­er aller Län­der, ver­gebt mir.« Kurz dar­auf erschien in Frank­reich, ein Jahr spä­ter auch in Deutsch­land, Jean Zieg­lers Buch: »Marx, wir brau­chen Dich – War­um man die Welt ver­än­dern muss«. Im Vor­wort zur deut­schen Aus­ga­be nimmt Zieg­ler Marx in Schutz: »Der anony­me Pas­sant irrt.« Marx muss sich für Lenin, Sta­lin und die gan­ze rus­si­sche Revo­lu­ti­on eben­so wenig ent­schul­di­gen wie die Evan­ge­li­sten für die spa­ni­sche Inqui­si­ti­on und das, was die Chri­sten beim Auf­bau ihrer Kolo­ni­al­rei­che an Ver­bre­chen begingen.

Den Zusam­men­bruch des kom­mu­ni­sti­schen Welt­reichs vor Augen, sah Zieg­ler die Bestä­ti­gung sei­ner schon seit lan­gem geüb­ten Kri­tik an die­sem Sowjet­sy­stem. Es hat zwar man­ches erreicht und ver­bes­sert, aber die in die­sem System began­ge­nen Ver­bre­chen haben mit Marx und des­sen Vor­stel­lun­gen von einer kom­mu­ni­sti­schen Welt so gut wie nichts zu tun. Er bestrei­tet, dass die kom­mu­ni­sti­sche Par­tei­dik­ta­tur von Marx gerecht­fer­tigt wor­den wäre, dass Hon­ecker, Hoff­mann, Wolf, die anfangs noch kämp­fe­ri­sche Idea­li­sten waren wie die mei­sten ande­ren deut­schen Kom­mu­ni­sten, Poli­tik im Sin­ne des von Marx ver­tre­te­nen Kom­mu­nis­mus gemacht haben. Zieg­ler bezwei­felt sogar, dass sie, auch wenn sie sich immer wie­der auf Marx berie­fen, ihn jemals rich­tig ver­stan­den haben. Marx war aus Zieg­lers Sicht eben kein Lenin, kein Mao, son­dern ein Erbe der Fran­zö­si­schen, der repu­bli­ka­ni­schen Revolution.

Dass Zieg­ler im Augen­blick die­ses welt­hi­sto­ri­schen Ereig­nis­ses es für den Impe­ra­tiv unse­rer Epo­che erklär­te, Marx vor denen zu ver­tei­di­gen, die den Zusam­men­bruch des kom­mu­ni­sti­schen Impe­ri­ums nut­zen, ihn auf den Müll­hau­fen der Geschich­te zu wer­fen, gehört aus mei­ner Sicht zu den zwar kaum beach­te­ten, aber größ­ten Wag­nis­sen eines lin­ken Intel­lek­tu­el­len die­ser Umbruch­zeit. Das war Zivil­cou­ra­ge auf Welt­ni­veau. Jean Zieg­ler setz­te damals aller­dings noch auf die in der Oppo­si­ti­on ver­har­ren­de Sozi­al­de­mo­kra­tie. Er schrieb: »Wür­de sie zu einem luzi­den Mar­xis­mus des Wider­stands, so wie ihn ihr Grün­der August Bebel prak­ti­ziert hat, zurück­fin­den, wür­de sich das Schick­sal unse­res Kon­ti­nents zum Guten wenden.«

Ich muss an die­ser Stel­le nicht dar­an erin­nern, man hat es ja täg­lich vor Augen, was aus der SPD, zunächst unter Bun­des­kanz­ler Ger­hard Schrö­der, jetzt unter Olaf Scholz, gewor­den ist. Zieg­ler hät­te heu­te das Recht zu sagen: Hab ich es nicht gesagt? Die SPD hat ihre gro­ße Chan­ce ver­passt. Ich, der­sel­be Jahr­gang wie Zieg­ler, 12 Jah­re Werk­zeug­ma­cher, Gewerk­schaf­ter der IG-Metall, danach stu­diert bei Ador­no, Car­lo Schmid, Wer­ner Hof­mann, pro­mo­viert bei Abend­roth, habe 45 Jah­re mei­nes Lebens in inner­par­tei­li­cher Oppo­si­ti­on ver­sucht, die­se Abwärts­ent­wick­lung der SPD abzu­wen­den. 2006 habe ich aufgegeben.

Zieg­ler gehört zu jenen, die in ihrer Jugend nicht links waren und den­noch ein Herz hat­ten, er gehört auch zu jenen, die, erwach­sen gewor­den und zu Ver­stand gekom­men, ihr Herz behiel­ten und doch immer deut­li­cher nach links rück­ten. Sei­ne gut­bür­ger­li­che Her­kunft aus dem cal­vi­ni­sti­schen Thun leg­te das bil­dungs­bür­ger­li­che Fun­da­ment sei­nes Links­seins, auch sei­nes Gedan­ken­ra­di­ka­lis­mus. Er war in jun­gen Jah­ren schon rebel­lisch und auf­ge­la­den mit einem explo­si­ven Gerech­tig­keits­sinn, aber doch eher kon­ser­va­tiv, noch ange­passt und auch anpas­sungs­wil­lig. So woll­te er zur Armee, wur­de aber aus­ge­mu­stert und soll dar­über bit­ter ent­täuscht gewe­sen sein.

Nach einem aben­teu­er­li­chen Stu­di­um der Juri­ste­rei und Sozio­lo­gie, nach Bern und Genf stu­dier­te er in Paris und New York, mach­te auf dem Rück­weg einem Abste­cher nach Kuba, wo er Che Gue­va­ra ken­nen­lern­te, ging als Assi­stent eines UNO-Son­der­be­richt­erstat­ters zu einem län­ge­ren Auf­ent­halt nach Zai­re, das ehe­ma­li­ge Bel­gisch-Kon­go, wo er ent­setz­li­che Bru­ta­li­tä­ten erleb­te. Spä­ter wur­de er Mit­glied der Schwei­zer Sozi­al­de­mo­kra­tie und war jah­re­lang als ihr Abge­ord­ne­ter im Bun­des­par­la­ment. Man lese nur im Buch sei­nes Genos­sen und Kol­le­gen Hel­mut Hub­a­cher »Tat­ort Bun­des­haus« (Bern 1995) das Kapi­tel über Zieg­ler, und man weiß, dass er ein Mensch war und ist, den die poli­ti­sche Rech­te hass­te, die Lin­ke lieb­te, auch wenn er sie gele­gent­lich über­stra­pa­zier­te, fru­strier­te und schockier­te und sie eines Tages mit der ver­häng­nis­vol­len Auf­he­bung sei­ner par­la­men­ta­ri­schen Immu­ni­tät reagierte.

Zieg­ler irri­tier­te vie­le Mar­xi­sten, als er öffent­lich bekann­te: »Ich bin Kom­mu­nist und glau­be an Gott«. In sei­nem Buch über Marx fin­det man Sät­ze wie die­se: »Was nüt­zen heu­te noch jene Intel­lek­tu­el­le, die ihr Wis­sen und ihre Intel­li­genz einst in den Dienst der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen und sozia­li­sti­schen Bewe­gung gestellt hat­ten? Sie haben ihre ein­sti­gen gei­sti­gen Vor­bil­der – allen vor­an Marx – der­art ver­un­glimpft, dass sie heu­te den eige­nen Ver­lust ihres Anse­hens erfah­ren müs­sen.« Das ist noch immer aktu­ell – es kommt aber noch schlim­mer. »Ihre Fähig­keit, eine Dis­kus­si­on zu ent­fa­chen und fri­sche Anstö­ße für eine neue Bewer­tung der Welt zu geben, ist gleich Null. Dies hat zu einem gewis­sen Welt­schmerz geführt, einer gewis­sen Ver­dros­sen­heit, die durch­aus Ähn­lich­keit hat mit dem Gefühl der Ver­bit­te­rung der seit dem Ende des 18. Jahr­hun­derts end­gül­tig von der Macht aus­ge­schlos­se­nen Aristokratie.«

Mit Blick auf die fran­zö­si­sche Intel­li­genz mein­te er damals, dass die Intel­lek­tu­el­len (unmit­tel­bar nach dem Ende der bipo­la­ren Welt­ord­nung - HS) der Mit­te zustre­ben, das »Ver­blas­sen der Din­ge«, die »Ära der Lee­re« ver­herr­li­chen, ja so tun, als ob die­ser all­ge­mei­ne Zer­fall »die höch­ste Stu­fe der Demo­kra­tie« dar­stel­le. Das traf auch Tei­le der deut­schen Intel­lek­tu­el­len, trifft sie beson­ders heu­te, da doch auch hier die Lin­ke im Nichts, in der Bedeu­tungs­lo­sig­keit zu ver­schwin­den droht. Zieg­ler pro­pa­gier­te dage­gen sein Marx-Ver­ständ­nis, als er schrieb: »Glück­li­cher­wei­se kennt der Mar­xis­mus des Wider­stands mehr als nur einen Schach­zug, und auf den Trüm­mern die­ses poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Ver­falls nimmt er uns in die Pflicht, immer wie­der von neu­em aufzubauen.«

Der Text erschien in Deutsch­land 1992. Da hat­te ich schon mit die­sem Neu­auf­bau begon­nen und im März 1991 in der dama­li­gen »Atom­stadt« Hanau die Bür­ger- und Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on Busi­ness Crime Con­trol (BCC) gegrün­det. Danach hat­te ich Jean Zieg­ler in Genf besucht, um ihm über die BCC-Grün­dung zu berich­ten und ihn zu bit­ten, unse­re neue lin­ke Auf­klä­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on zu unter­stüt­zen. Auf eine For­mel gebracht, ging und geht es noch heu­te dar­um, für Wirt­schafts­de­mo­kra­tie zu kämp­fen, statt Zeit und Kräf­te für ein wir­kungs­lo­ses Straf­recht gegen Kor­rup­ti­on, Geld­wä­sche und Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät zu ver­schwen­den. Zieg­ler war – ohne sich des­sen bewusst zu sein – ein wich­ti­ger Initia­tor der BCC-Gründung.

Auch Eck­art Spoo setz­te damals auf einen Neu­an­fang. Nach­dem er an unse­rem ersten gro­ßen Kon­gress über Wirt­schafts­ver­bre­chen in Frank­furt am Main teil­ge­nom­men und mich zu einem Vor­trag über die »Geld­macht Deutsch­land« nach Han­no­ver ein­ge­la­den hat­te, wur­den wir enge Freun­de. Mir wur­de klar, dass auch Eck­art zu denen gehör­te, die – ähn­lich wie Zieg­ler – auf die radi­kal­de­mo­kra­ti­schen Anfän­ge der bür­ger­li­chen Revo­lu­tio­nen, zum Bei­spiel auf Frei­herrn von Knig­ge, aber auch auf Carl von Ossietzky setz­te. Es ging zunächst ein­mal nur dar­um, das lin­ke gei­sti­ge Erb­gut vor denen zu ret­ten, deren abgrund­tief unan­stän­di­ges Mar­xis­mus-Bas­hing, eine Über­stei­ge­rung des bis zum Mau­er­fall all­täg­li­chen christ­li­chen Anti­kom­mu­nis­mus‹, zu jener fata­len Ent­wick­lung den Treib­stoff lie­fer­te, die inzwi­schen sogar von den Anti­kom­mu­ni­sten selbst als Bedro­hung emp­fun­den und – wenn auch noch halb­her­zig – bekämpft wird.

Spoo und sein Freun­des­kreis zeig­ten sich damals sehr besorgt dar­über, dass das ver­ei­nig­te Deutsch­land – ob es wol­le oder nicht – in abseh­ba­rer Zeit wie­der eine Welt­macht wer­de. Die Vor­trä­ge die­ser Ver­an­stal­tungs­rei­he sind heu­te aktu­el­ler als damals. Sie erschie­nen unter der Über­schrift: »Welt­macht Deutsch­land?« (1996 im Donat Ver­lag). Ein Jahr nach Erschei­nen die­ses von Diet­rich Heimann, Eck­art Spoo und ande­ren her­aus­ge­ge­be­nen Büch­leins, grün­de­te Eck­art die Zeit­schrift Ossietzky.

Ich darf hier also in Dank­bar­keit fest­hal­ten, dass Jean Zieg­ler an der Grün­dung von Busi­ness Crime Con­trol unmit­tel­bar, ver­mit­telt über mich auch ideell an der Grün­dung des Ossietzky mit­ge­wirkt hat. Dafür und für sei­ne herz­li­che Freund­schaft möch­te ich Jean ganz herz­lich dan­ken und ihm wün­schen, dass die inzwi­schen – nicht nur in Deutsch­land, son­dern welt­weit – in eine schwe­re Kri­se gera­ten­de Lin­ke sich stär­ker mit Zieg­lers »Mar­xis­mus des Wider­stands« befasst und so stark wird, dass sie wenig­sten die schlimm­sten Kon­se­quen­zen der heu­ti­gen Glo­bal­ka­pi­tal­po­li­tik ver­hin­dern kann.

Mit sei­nen Büchern und neu­en, undog­ma­ti­schen Zugän­gen zum post­kom­mu­ni­stisch-glo­ba­len Finanz­ka­pi­ta­lis­mus, den er als »kan­ni­ba­li­sche Welt­ord­nung« qua­li­fi­ziert, hat Zieg­ler Ansät­ze ent­wickelt, die zei­gen, dass und wie die bis­her immer wie­der Besieg­ten am Ende doch mehr als nur mora­li­sche Sie­ge davon­tra­gen kön­nen. Um zu die­sen Sie­gen bei­zu­tra­gen, müs­sen wir euro­päi­sche Lin­ke uns aller­dings völ­lig neu ori­en­tie­ren. Eine Beschäf­ti­gung mit Zieg­lers metho­di­schem Ansatz, er beschreibt ihn mit einem Aus­druck von Geor­ges Balan­dier als »gene­ra­ti­ve Sozio­lo­gie«, könn­te zur Über­win­dung der ideo­lo­gi­schen Hin­der­nis­se, die bei Rege­ne­ra­ti­ons­ver­su­chen lin­ker Gesell­schafts­ana­ly­se und beim Erar­bei­ten einer neu­en Stu­fe mar­xi­sti­scher Kri­tik der poli­ti­schen Öko­no­mie von gro­ßem Nut­zen sein. Ich selbst habe die­sen Ansatz dazu genutzt, eine Kri­tik der Theo­rie und Pra­xis der kri­mi­nel­len Öko­no­mie – sozu­sa­gen ein Erwei­te­rungs­bau der Kri­tik der poli­ti­schen Öko­no­mie des klas­si­schen Mar­xis­mus – vor allem durch Anre­gun­gen der von Zieg­ler favo­ri­sier­ten gene­ra­ti­ven Sozio­lo­gie entwickelt.

Die­se beson­ders in Frank­reich hei­mi­sche Sozio­lo­gie hat vie­le Vor­zü­ge vor den oft all­zu rou­ti­nier­ten und mecha­ni­sier­ten empi­ri­schen Metho­den der US-For­schung, die in Deutsch­land Main­stream ist. Vor allem aber hat sie den Vor­teil, dass sie den Hass auf den Westen erzeu­gen­den Euro­zen­tris­mus jeder­zeit ver­las­sen kann, dass sie die aus­beu­te­ri­sche Zer­stö­rung der Welt des so genann­ten glo­ba­len Südens durch Land­g­rab­bing, Res­sour­cen­raub und tota­le Über­schul­dung, Armut und Migra­ti­on ver­ur­sa­chen­de Ent­wick­lungs­po­li­tik ohne Scheu­klap­pen in ihre For­schung ein­be­zieht und nie­mals den Ein­druck zu erwecken ver­sucht, völ­lig neu­tral zu sein.

Und noch ein letz­ter Aspekt: Zieg­lers traum­wand­le­ri­scher Tanz über den schma­len Grat der Hoff­nung. Er ist fas­zi­nie­rend, mit­rei­ßend, ansteckend. Ich zitie­re nur einen Satz aus dem letz­ten Kapi­tel sei­nes nach mei­ner Mei­nung als Lebens- und Erfah­rungs­bi­lanz ver­fass­ten Buches: »Ände­re die Welt« (Mün­chen 2015) Das Kapi­tel beginnt mit dem Satz: »Gegen die welt­wei­te Dik­ta­tur des glo­ba­li­sier­ten Finanz­ka­pi­tals, ihrer Satra­pen und Söld­ner, erhebt sich heu­te ein neu­es geschicht­li­ches Sub­jekt: die welt­wei­te Zivil­ge­sell­schaft.« Und wer sich nichts Kon­kre­tes dar­un­ter vor­stel­len kann, lese den Teil IV sei­nes 2002 bei Ber­tels­mann erschie­nen Buches »Die neu­en Herr­scher der Welt und ihre glo­ba­len Wider­sa­cher«. Unter Punkt 3. »Die Fron­ten des Wider­stands« sind die dama­li­gen Wider­sa­cher auf­ge­li­stet. Und es dürf­te eines sei­ner schön­sten Geschen­ke zu sei­nem 90sten Geburts­tag sein, dass sich die­se Wider­sa­cher seit­dem nicht nur stark ver­mehrt, son­dern auch radi­ka­li­siert und sei­nen Ideen ange­nä­hert haben.