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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Oskar Manigks imaginäres Museum

Das Ver­fah­ren, wie man eine Bild­vor­stel­lung her­vor­ruft, durch uner­war­te­te Asso­zia­tio­nen und zufäl­li­ge Zusam­men­stel­lun­gen, ken­nen wir von den Sur­rea­li­sten. Wenn die Arbeit für Zufalls­ef­fek­te, unvor­her­ge­se­he­ne Kom­bi­na­tio­nen und unbe­ab­sich­tig­te Meta­phern offen­bleibt, wenn sie sich erst im Ver­lauf des Her­stel­lungs­pro­zes­ses »ent­deckt«, nicht aber bewusst geplant und durch­ge­führt wird, dann kann das Unbe­wuss­te in ihr wir­ken. »Als erstes muss ich Unord­nung schaf­fen«, sagt der Zeich­ner und Maler Oskar Manigk, »Destruk­ti­on betrei­ben, denn mei­ne Fan­ta­sie braucht eben die­sen labi­len, kon­fu­sen Zustand, um im Bild­vier­eck Fuß fas­sen und sich aus­brei­ten zu kön­nen«. Und doch will er mit sei­nen Zei­chen- und Figu­ren­bil­dern eine bewuss­te Aus­sa­ge tref­fen. Sie bil­den Tat­be­stän­de und ihre Mehr­deu­tig­keit, Figür­lich­keit, psy­chi­sche Befind­lich­keit als Ereig­nis der Mal­flä­che und in der Tona­li­tät und Stoff­lich­keit kräf­ti­ger, zuwei­len schwer­la­sti­ger Far­be ab. Aus dem explo­si­ven Pin­sel­schlag eines Alle­gro furio­so wächst eine bewusst aus­ge­wo­ge­ne Komposition.

Oskar Manigk, der in Ücke­ritz auf Use­dom und in Ber­lin – im Span­nungs­feld insel­haf­ter Abge­schie­den­heit und pul­sie­ren­der Groß­stadt­at­mo­sphä­re – lebt und arbei­tet, hat sich stets sei­ne Unab­hän­gig­keit bewahrt. Sei­ne erste gro­ße Aus­stel­lung erhielt er erst 1993 anläss­lich der Ver­lei­hung des Cas­par-David-Fried­rich-Prei­ses des Lan­des Meck­len­burg-Vor­pom­mern im Staat­li­chen Muse­um Schwe­rin. Er ist kein Grup­pen­künst­ler und von kei­ner Bewe­gung her erfass­bar. Nun hat der das 90. Lebens­jahr antre­ten­de Künst­ler den Egmont-Schä­fer-Preis für Zeich­nung erhal­ten, der alle zwei Jah­re vom Ver­ein Ber­li­ner Kabi­nett durch eine unab­hän­gi­ge und stän­dig wech­seln­de Jury ver­lie­hen wird. Zugleich fin­det in der »Gale­rie Par­terre« in Ber­lin-Pan­kow eine Aus­stel­lung sei­ner Zeich­nun­gen (Gra­phit, Krei­de, Filz­stift) und Arbei­ten auf Papier (Acryl und Misch­tech­nik) statt, die vor­wie­gend gra­fi­sche Akzen­te set­zen. Die Viel­falt der Lini­en und Wege, der Deh­nun­gen und Zusam­men­zie­hun­gen reizt die Fan­ta­sie. Manigk schreibt Ste­no­gram­me der Bewe­gung. Die Tur­bu­lenz sei­ner klei­nen und gro­ßen Wel­ten ist ein Bewe­gungs­er­leb­nis. Aus Form­si­gna­len ent­ste­hen Bewe­gungs­ab­läu­fe, wer­den Gestalt­zei­chen, die Figür­li­ches asso­zi­ie­ren las­sen und sich mit­un­ter zu Erleb­nis­be­rich­ten for­men. Manch­mal wie­der­ho­len sich die Figu­ren in sei­nem Sze­na­ri­um echo­ar­tig in par­al­le­len, aber ihre Form immer wie­der neu defor­mie­ren­den Erschei­nun­gen. Dann wie­der neh­men die aus fast absichts­los gesetz­ten Stri­chen und For­men ent­ste­hen­den Bild­zei­chen einen traum­ar­tig-schwe­ben­den Cha­rak­ter an, sie tau­chen wie hal­lu­zi­na­to­risch auf, ver­hül­len und ver­än­dern sich. Vie­le Gestalt­zei­chen schau­en den Betrach­ter unmit­tel­bar an, wie Hil­fe suchend, han­deln so aus dem Bild her­aus, wäh­rend sie gleich­zei­tig an einer Hand­lung im Bild betei­ligt sind. Mit­un­ter glei­chen die Blät­ter Bil­der­rät­seln, dann wie­der sind sie von geo­me­tri­scher Stren­ge und magi­scher Abstrak­ti­on. Die Erfah­run­gen von Sur­rea­lis­mus und Dada­is­mus set­zen sich im Bild­raum deut­lich von jeder kon­struk­ti­ven Nüch­tern­heit ab. Titel wie »Bedeu­tungs­schwe­re«, »DAS kann so blei­ben«, »Unver­gleich­li­ches«, »Das Geheim­nis des Gleich­muts«, »Die Kraft des Inhalts­lo­sen«, »DAS ist in Ord­nung« kön­nen auf die Sprün­ge hel­fen, aber in ihrer gro­tes­ken Ver­frem­dung auch in die Irre füh­ren. Sind sie aber nicht gera­de dadurch ein Spie­gel­bild unse­rer Umwelt? Nicht immer ist es das unge­zwun­gen Spie­le­ri­sche, das die Aus­sa­ge legi­ti­miert. Es ent­steht aber ein Denk­pro­zess, der ihn in der Linie das Gleich­nis zum Leben, zum Schick­sal und des­sen Ver­flech­tun­gen sehen lässt.

Nun machen die in der »Gale­rie Par­terre« gezeig­ten Blät­ter nur einen Teil des Gesamt­wer­kes unse­res Jubi­lars aus, das ohne sei­ne Gemäl­de auf Lein­wand nicht zu den­ken ist. Bezieht man die­se mit ein, ergibt sich doch die Fra­ge, ob man nicht doch bei ihm einer­seits von Sym­bo­lis­mus spre­chen kann, der auf per­sön­lich gefun­de­nen Meta­phern und Sinn­bil­dern, schein­bar bana­len, jetzt aber viel­sa­gen­den Gegen­stän­den auf­baut, und ande­rer­seits von welt­na­her Sinn­lich­keit, die die­sen Sym­bo­lis­mus ans Leben und das kon­kre­te Sosein bin­det? Manigk baut sei­ne figu­ren­rei­chen Sze­nen in einen engen Büh­nen­ka­sten ein und rückt ihn über­nah an das Auge des Betrach­ters. Dadurch erge­ben sich diver­gie­ren­de, von­ein­an­der unab­hän­gi­ge Blick­punk­te und ein­zeln zu sehen­de Bild­ele­men­te, wel­che jedoch durch linea­re Bezü­ge zu einem über­ge­ord­ne­ten Raum­kon­ti­nu­um ver­bun­den wer­den. Die Kreuz- und Quer­ver­bin­dun­gen füh­ren immer wie­der zu den Figu­ren und Köp­fen, deren Farb­kon­tu­ren mit­un­ter wie eine intel­lek­tu­el­le Par­odie eilig gekrit­zel­ter Stra­ßen­graf­fi­ti wirken.

»Fri­da und Her­ta II« (2012, Acryl a. Lw.) – was haben sie gemein­sam, die Schrift­stel­le­rin Her­ta Mül­ler und die eman­zi­pier­te mexi­ka­ni­sche Male­rin und cha­ris­ma­ti­sche Rebel­lin Fri­da Kahlo? Ceaușes­cu kann man rechts unten im Bild »Her­ta von fern« (2012, Misch­tech­nik a. Lw.) lesen, das die unheil­vol­len Spu­ren des rumä­ni­schen Dik­ta­tors auf­weist; die Schrift­stel­le­rin streit­be­reit in ihrer Bana­ter Hei­mat­land­schaft. Die bild­haf­te Spra­che der Col­la­gen Her­ta Mül­lers wird hier spie­le­risch umge­setzt. »Spiel­feld« (2014, Misch­tech­nik a. Lw.) gibt die Kon­tu­ren eines Wür­fel­spiels wie­der, in dem Figu­ren Wün­sche und Träu­me, aber auch Lei­den und Schmerz sym­bo­li­sie­ren. »Let’s dance tog­e­ther« heißt es in einer Sprech­bla­se – wenn das Leben doch so ein­fach wäre.

Was hat Manigk zur Gegen­über­stel­lung von »Leni und Amy« (2012, Acryl a. Lw.), der Nazi-Fil­me­ma­che­rin Leni Rie­fen­stahl und der bri­ti­schen Sän­ge­rin und Song­schrei­be­rin Amy Wine­hou­se bewo­gen? Schwe­stern – die eine von gestern, die ande­re von heu­te – kön­nen es doch wohl nicht sein. Ist es das Genie der Selbst­zer­stö­rung, sind es die Come­back-Ver­su­che der Film- wie Pop-Legen­de, das lan­ge Leben der einen, das viel zu kur­ze der ande­ren, die mit 4,16 Pro­mil­le im Blut starb? Mar­ga­re­te Mit­scher­lich hat­te die Tra­gik der Rie­fen­stahl in die Wor­te gefasst: »Es gelang ihr bis heu­te, ohne Ahnung von dem zu blei­ben, wovon sie kei­ne Ahnung haben wollte«.

»Die Kunst ret­tet uns vor dem Wohl­le­ben« (2013, Misch­tech­nik a. Lw.) zeigt ein Mäd­chen mit Gitar­re auf der Stra­ße, die sich von der Kon­sum- und Wohl­stands­ge­sell­schaft ver­ab­schie­det hat. Wohin wird es sie trei­ben? Eine Hom­mage an die Por­tu­gie­sin Misia ist »Senho­ra da Noi­te« (2014, Acryl a. Lw.), so der Titel ihres Albums, in der die Musik des tra­di­tio­nel­len Fado – das ist poe­ti­sche Melan­cho­lie und weh­mü­ti­ger Schmerz – wie­der auf­ge­nom­men wird, mit Tex­ten, die aus­schließ­lich von Frau­en geschrie­ben wur­den. Misia »malt Trä­nen in allen Spra­chen« heißt es – und so hat sie der Maler dar­ge­stellt. Oskar Manigk ver­wei­gert das Mora­li­sie­ren und die agi­ta­to­ri­sche Bot­schaft. Er will Struk­tu­ren der Wirk­lich­keit mit künst­le­ri­schen Mit­teln offen­le­gen, den Denk­pro­zess des Betrach­ters sen­si­bi­li­sie­ren, damit die­ser wahr­nimmt, was man nicht direkt sehen und doch als Pro­blem sicht­bar machen kann. Und so wird auch der nun­mehr Neun­zig­jäh­ri­ge wei­ter­ar­bei­ten an sei­nem ima­gi­nä­ren Muse­um, dem Archiv sei­ner Träu­me und Alp­träu­me, die auch des­halb so ein­präg­sam sind, weil sie Irri­ta­tio­nen ent­hal­ten, die der Betrach­ter auf den ersten Blick nicht auf­lö­sen kann, die erst der Aus­ein­an­der­set­zung bedürfen.

Gale­rie Par­terre, 10405 Ber­lin, Dan­zi­ger Str. 101, Haus 103, Di-So 12-21 Uhr, Do 10-22 Uhr, bis 26. Mai. Kata­log 18 €.