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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Lager oder Straße: Fluchtort Athen

Weni­ge Tage vor dem aktu­el­len Lock­down ist es voll auf dem Pla­teia Vik­to­ri­as (Vik­to­ria­platz) in Athen. Der Weg aus der gleich­na­mi­gen Metro-Sta­ti­on führt mit­ten in den Tru­bel des geschäf­ti­gen Vier­tels: Spie­len­de Kin­der sau­sen um die frei­ste­hen­den Kios­ke, unzäh­li­ge Grüpp­chen Erwach­se­ner und Jugend­li­cher sam­meln sich am Ran­de der qua­dra­tisch ange­ord­ne­ten Maul­beer­bäu­me. Es wird dis­ku­tiert, gelacht und gestrit­ten, wäh­rend sich in den umlie­gen­den Cafés und Restau­rants ver­ein­zelt Gäste bedie­nen las­sen. Gespro­chen wird Ara­bisch, Grie­chisch, Per­sisch und Eng­lisch. Spä­te­stens seit 2015 gilt der Vik­to­ria­platz, nur zwei U-Bahn-Sta­tio­nen vom tou­ri­sti­schen Zen­trum ent­fernt, als Treff­punkt für Migrant*innen, Soli­da­ri­sie­ren­de und Schlep­per. Von dort aus wol­len die mei­sten Geflüch­te­ten nur eins: den Auf­bruch in Rich­tung Norden.

Seit dem EU-Tür­kei-Abkom­men und der Schlie­ßung der Bal­kan­rou­te im März 2016 ist die Wei­ter­rei­se jedoch nahe­zu unmög­lich gewor­den. Auch die Stim­mung im Stadt­teil hat sich mit der Fest­set­zungs­po­li­tik der EU radi­kal geän­dert: Heu­te kam­pie­ren dut­zen­de obdach­lo­se Migrant*innen auf dem Vik­to­ria­platz unter frei­em Him­mel. Spo­ra­di­schen Schutz bie­ten den Fami­li­en ein paar Decken und Schlaf­säcke. Zuletzt ließ die Athe­ner Stadt­ver­wal­tung alle Bän­ke vom Platz ent­fer­nen. Als Sitz­mög­lich­kei­ten die­nen seit­dem nur noch weni­ge Holz­pa­let­ten, die in einer spon­ta­nen Soli­da­ri­täts-Akti­on zusam­men­ge­schraubt und bemalt wur­den. Essen, war­ten, schla­fen, waschen – alles unter den neu­gie­ri­gen Augen vor­bei­zie­hen­der Passant*innen. »Das hier ist kein Film, wir sind kei­ne Schau­spie­ler. Also seid ihr kei­ne Zuschau­er, denn eure Blicke stö­ren uns!«, schreibt die 17-jäh­ri­ge Par­wa­na Ami­ri auf ihrem Blog Refu­gee Voices. Sie selbst lebt mit ihrer Fami­lie seit Mona­ten im Flücht­lings­la­ger Rit­so­na und weiß um die media­le Zur­schau­stel­lung migran­ti­schen Leids.

»Die mei­sten der Fami­li­en auf dem Platz sind in Grie­chen­land offi­zi­ell als Flücht­lin­ge aner­kannt. Sie kom­men von den Inseln. In den Flücht­lings­la­gern rund um Athen gibt es kei­nen Platz mehr für sie«, erklärt Fadel, Mit­te 30, der aus Alep­po stammt und selbst vor ein paar Wochen in Athen ankam. Er habe »Glück gehabt«, weil eine befreun­de­te Akti­vi­stin aus Eng­land ihr Sofa für ihn räum­te. Aller­dings nur auf Zeit: Bald müs­se auch er sich nach einer ande­ren Blei­be umse­hen. In Grie­chen­land regi­strie­ren las­sen wol­le er sich aber auf kei­nen Fall, denn, wie jeder wis­se, exi­stie­re die Asyl­an­er­ken­nung hier nur auf dem Papier: »Ich möch­te arbei­ten und Geld ver­die­nen. Hier sehe ich ja, was mich erwar­tet. Kei­ne Chance.«

Durch die Finanz­kri­se und die Spar­dik­ta­te der Troi­ka sind Armut und Woh­nungs­lo­sig­keit unter Griech*innen bereits 2011 dra­ma­tisch gestie­gen. Um das Pro­blem der Obdach­lo­sig­keit anzu­ge­hen, fehlt es jedoch nicht nur an poli­ti­scher Initia­ti­ve, son­dern auch an aktu­el­len Stu­di­en und ver­läss­li­chen Zah­len. Ver­ein­zel­te Umfra­gen lie­fern nur unge­fäh­re Aus­sa­gen über Alter, Geschlecht und Beruf woh­nungs­lo­ser Men­schen. Ledig­lich das Natio­nal Cen­ter for Social Soli­da­ri­ty (EKKA) hat im März 2019 eine Stu­die zur Wohn­si­tua­ti­on unbe­glei­te­ter, min­der­jäh­ri­ger Geflüch­te­ter ver­öf­fent­licht: Von 3.774 regi­strier­ten Kin­dern und Jugend­li­chen leb­ten min­de­stens 605 auf der Straße.

Seit dem Wahl­sieg der rechts­kon­ser­va­ti­ven Nea Dimo­kra­tia im Juli 2019 haben sich Wohn- und Lebens­si­tua­ti­on für Migrant*innen in Athen zusätz­lich ver­schlech­tert. Syste­ma­tisch räumt die Poli­zei auto­nom besetz­te Häu­ser, die Migrant*innen, Anarchist*innen und lin­ke Aktivist*innen seit 2015 als gemein­sa­me Wohn­räu­me nut­zen. Von ehe­mals dut­zen­den Haus­be­set­zun­gen im Athe­ner Stadt­teil Exar­chia exi­stiert heu­te nur noch eine, Nota­ra 26, die durch Migrant*innen und Soli­da­ri­sie­ren­de am Leben gehal­ten wird. Aller­dings sei die Räu­mung nur eine Fra­ge der Zeit, erklärt Say­ed, der selbst in einem der Kol­lek­ti­ve tätig war. Er ist als Kind mit sei­nen Eltern aus Afgha­ni­stan geflo­hen und lebt mitt­ler­wei­le seit rund 20 Jah­ren in der grie­chi­schen Haupt­stadt. »Die Regie­ren­den war­ten nur auf den rich­ti­gen Moment. Sobald ihnen die Geschich­te poli­tisch nützt, wird auch das letz­te Haus zwangsgeräumt.«

Die Zer­stö­rung der Wohn­räu­me drängt Migrant*innen ins Lager oder auf die Stra­ße. Die Poli­zei trans­por­tiert obdach­lo­se Geflüch­te­te zwar regel­mä­ßig in die über­füll­ten Flücht­lings­la­ger des Athe­ner Umlands – Eleo­nas, Ska­ra­ma­gas, Elef­si­na –, den mei­sten steht die Unter­brin­gung und Ver­pfle­gung dort jedoch nicht mehr zu. Denn trotz hor­ren­der Finanz­sprit­zen, mit denen sich die EU von der eige­nen Ver­ant­wor­tung frei­zu­kau­fen ver­sucht (in Form einer Emer­gen­cy Assi­stance wur­den Grie­chen­land durch die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on seit 2015 rund 816,4 Mil­lio­nen Euro zuge­bil­ligt), setzt die Nea Dimo­kra­tia auf finan­zi­el­le Kür­zun­gen: Seit einer Geset­zes­än­de­rung vom März 2020 endet der Anspruch auf Unter­brin­gung und Ver­sor­gung durch das EU-geför­der­te Pro­gramm ESTIA nur 30 Tage nach Aus­stel­lung eines posi­ti­ven Asyl­be­scheids – zuvor waren es erst sechs, dann drei Mona­te. Das Anschluss­pro­gramm HELIOS ermög­licht zwar eine Bezu­schus­sung der Miet­ko­sten, in der Pra­xis ist die Bean­tra­gung aller­dings nur für die wenig­sten mög­lich: Um finan­zi­el­le Mit­tel zu erhal­ten, müs­sen ein Bank­kon­to und ein grie­chi­scher Miet­ver­trag vor­lie­gen – unge­ach­tet des mas­si­ven Ras­sis­mus auf dem Woh­nungs­markt. In Grie­chen­land kann aber weder ein Bank­kon­to eröff­net noch ein Miet­ver­trag unter­zeich­net wer­den, solan­ge kei­ne Steu­er­num­mer vor­liegt. Eine Steu­er­num­mer wie­der­um wird nur bei festem Wohn­sitz erteilt, nicht jedoch an Obdach­lo­se. Sol­che büro­kra­ti­schen Hin­der­nis­se füh­ren dazu, dass im Juli 2020 von 13.251 Lei­stungs­be­rech­tig­ten weni­ger als ein Drit­tel – gera­de mal 3.623 Per­so­nen – einen Miet­zu­schuss erhielten.

Auch Wohl­fahrts­ver­bän­de war­nen: Rund 11.000 Migrant*innen sind akut von Obdach­lo­sig­keit bedroht, wenn sie im Zuge der erwähn­ten Geset­zes­än­de­rung aus den Lagern und Unter­künf­ten gewor­fen wer­den. Gleich­zei­tig ver­leg­te die grie­chi­sche Regie­rung rund 3.000 Geflüch­te­te auf das Fest­land, nach­dem das Elend­sla­ger Moria auf Les­bos im Sep­tem­ber 2020 in Flam­men auf­ging. »Für mich ist das nur eine Ver­la­ge­rung des Pro­blems: Hier auf den Inseln leben die Leu­te iso­liert im Lager, in Athen auf der Stra­ße«, kom­men­tiert Mar­le­na, Akti­vi­stin aus Deutsch­land, die sich auf Samos enga­giert. »Wir sehen, dass jetzt wie­der mehr Men­schen von den Inseln auf das Fest­land kom­men – ohne Per­spek­ti­ve auf Wohn­raum, finan­zi­el­le Mit­tel oder Arbeit«, erzählt Arash, der 2015 aus dem Iran nach Grie­chen­land kam und selbst unter den Miss­stän­den im Lager und auf der Stra­ße leben muss­te. In Athen ist er Mit­be­grün­der der Initia­ti­ve Our Hou­se, in der sich Migrant*innen orga­ni­sie­ren und obdach­lo­sen Men­schen war­me Mahl­zei­ten zur Ver­fü­gung stel­len. Sie betrei­ben das Café Patogh, wo Bera­tun­gen und Sprach­kur­se ange­bo­ten wer­den. Außer­dem mie­ten sie Woh­nun­gen, um beson­ders gefähr­de­ten Per­so­nen – Schwan­ge­ren, Kin­dern, älte­ren oder kran­ken Men­schen – zumin­dest tem­po­rär eine Blei­be zu bieten.

Sol­che selbst­or­ga­ni­sier­ten Wohn­pro­jek­te sind für vie­le die ein­zi­ge Hoff­nung. Zum Bei­spiel Mazi, eine Initia­ti­ve, die von einer Grup­pe eng­li­scher und grie­chi­scher Aktivist*innen ins Leben geru­fen wur­de. »Wir orga­ni­sie­ren Wohn­raum spe­zi­ell für allein rei­sen­de, jun­ge Män­ner, weil die­se oft von allen Hilfs­pro­gram­men aus­ge­schlos­sen sind«, erklärt Cos­mo, der für die Grup­pe aktiv ist. In den zwei Häu­sern, die ihnen aktu­ell zur Ver­fü­gung ste­hen, leben die Män­ner bis zu zwölf Mona­te. Auch Say­ed, der seit Jah­ren gegen die Ent­rech­tung von Migrant*innen kämpft, enga­giert sich mitt­ler­wei­le in einem Wohn­pro­jekt: »Die Situa­ti­on ist schlimm, rich­tig schlimm«, bestä­tigt er. Gera­de des­halb dür­fe die Zivil­ge­sell­schaft jetzt nicht resi­gnie­ren. »Die Zeit der Haus­be­set­zun­gen ist vor­bei. Wir müs­sen län­ger­fri­sti­ge Stra­te­gien prak­ti­scher Soli­da­ri­tät finden.«

 

Die Initia­ti­ven Our Hou­se und Mazi erhal­ten kei­ne staat­li­chen För­der­mit­tel und finan­zie­ren ihre Pro­jek­te über soli­da­ri­sche Netz­wer­ke und Pri­vat­per­so­nen. Sie freu­en sich über jede Unterstützung.

Our Hou­se: Reza Ham­pay, IBAN: LT39 3250 0793 0517 1194, BIC: REVOLT21

Mazi: AKE Rose-Dew­ey Mazi Housing Pro­ject, IBAN: GB15 BUKB 2041 5013 2106 42