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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Plädoyer für politische Lyrik

Poli­ti­sche Dich­tung war in der alten BRD lan­ge ver­pönt. Die Lyrik, die man an Schu­le und Uni ver­mit­tel­te, war vor allem die klas­si­sche Lyrik Goe­thes und Schil­lers. Die Lyrik des 19. oder frü­hen 20. Jahr­hun­derts war bereits weni­ger stark ver­tre­ten und beweg­te sich fast immer im Bereich des Inner­li­chen oder Eso­te­ri­schen. Die Moder­ne nahm man nur in Kost­pro­ben zu sich, dazu gehör­ten Tex­te von Inge­borg Bach­mann und Paul Celan. Aus­ge­spro­chen poli­ti­sche Lyrik, also etwa die­je­ni­ge aus dem Umkreis des Vor­märz, kam nicht vor. Sie galt, wenn man über­haupt davon hör­te, als min­der­wer­ti­ge Ten­denz­dich­tung. Doch dann erreg­te Mit­te der sech­zi­ger Jah­re ein Gedicht­band Erich Frieds unge­wöhn­li­che Auf­merk­sam­keit: Der Titel »und Viet­nam und« zeig­te schon an, dass es um Poli­tik ging und mehr noch: um Stel­lung­nah­me zu einem aktu­el­len The­ma, zum ame­ri­ka­ni­schen Krieg in Süd­ost­asi­en, der auch von der BRD unter­stützt wur­de. Natür­lich tra­ten sofort die Kri­ti­ker auf den Plan, die eine sol­che The­ma­ti­sie­rung als poe­sie­feind­lich brand­mark­ten oder zumin­dest auf einer poe­ti­schen Ver­klau­su­lie­rung bestan­den. Ande­re dage­gen, wie etwa Peter Rühm­korf, wie­sen auf den unver­wech­sel­ba­ren Gebrauchs­wert sol­cher Dich­tung hin: Sie wir­ke wie ein Dechif­frier­ge­rät. Wo sonst könn­te man in der restrik­ti­ven Öffent­lich­keit auf solch effek­ti­ve Wei­se Din­ge ans Licht brin­gen und die Leser­schaft zum Nach­den­ken ani­mie­ren? Die immer her­me­ti­scher wer­den­de (und immer weni­ger gele­se­ne) »moder­ne« Lyrik kön­ne dies nicht, zumal sie allen­falls einen vagen Non­kon­for­mis­mus vertrete.

Frieds Gedicht signa­li­sier­te den Beginn einer Hoch­zeit der poli­ti­schen Lyrik, eines neu­en Enga­ge­ments. Sie war Aus­druck einer gene­rel­len Poli­ti­sie­rung der Intel­li­genz, die Anfang der sech­zi­ger ein­setz­te und die sich auch im Bereich des Thea­ters, des Kaba­retts oder des poli­ti­schen Lie­des bemerk­bar mach­te. Die poli­ti­sche Lyrik soll­te in die­sen Jah­ren einen erstaun­li­chen For­men­reich­tum ent­wickeln, der von der Bal­la­de bis zum Epi­gramm reicht – man den­ke etwa an Gerd Sem­mer, Lie­se­lot­te Rau­ner, Die­ter Süver­krüp. Franz Josef Degen­hardt, Arn­fried Astel oder unter den Jün­ge­ren an F. C. Deli­us, Fasia Jan­sen oder Uwe Timm. Die Brei­ten­wir­kung sol­cher poli­ti­schen Dich­tung war aller­dings an die Auf­bruchs­stim­mung die­ser Jah­re gebun­den, nur ein­zel­ne Künst­le­rin­nen und Künst­ler hiel­ten an ihren Kon­zep­ten bis in die acht­zi­ger Jah­re fest, danach setz­te wie­der die satt­sam bekann­te Ver­teu­fe­lung jedes lin­ken Enga­ge­ments ein. Doch war­um soll­te man heu­te nicht an die Erfah­run­gen aus den sech­zi­ger Jah­ren anknüp­fen kön­nen? Schließ­lich hat man damals vor­ge­führt, wie ope­ra­tiv eine ans Aktu­el­le anschlie­ßen­de Dich­tung sein kann und wel­cher For­men­reich­tum dabei zur Ver­fü­gung steht. Die poli­ti­schen Pro­ble­me der Gegen­wart sind wahr­lich gra­vie­rend genug. Dank eines weit­ge­hend ein­di­men­sio­na­len Main­streams besteht gera­de­zu die Not­wen­dig­keit zum Blick hin­ter die Ober­flä­che und zur Akti­vie­rung einer all­zu pas­si­ven, in sich zer­split­ter­ten Leserschaft.

Hin­zu­wei­sen ist auf zwei Bän­de des Lyri­kers Rudolph Bau­er, die zei­gen, wie macht­voll, ja auf­rüt­telnd poli­ti­sche Dich­tung auch heu­te sein kann. Der Titel des ersten lau­tet »Aus gege­be­nem Anlass«, womit bereits auf das poli­tisch Aktu­el­le hin­ge­wie­sen wird. Bau­ers Tex­te sind auf kon­kre­te Anläs­se bezo­gen, die eine poli­ti­sche Ana­ly­se oder Posi­ti­on gera­de­zu pro­vo­zie­ren. Gera­de die lako­ni­sche Ver­dich­tung erweist sich dabei als beson­ders wirksam.

Bau­er knüpft an Wolf­gang Bor­cherts »Mani­fest« an, an des­sen mehr­fach wie­der­hol­ten Appell »Nein« zu sagen, womit er 1947, weni­ge Tage vor sei­nem Tod, auf die Gefahr eines neu­en Mili­ta­ris­mus hin­wies. Bau­er aktua­li­siert. Wo Bor­chert den »Mann an der Maschi­ne und in der Werk­statt« auf­for­dert, kei­ne Stahl­hel­me oder Maschi­nen­ge­weh­re zu pro­du­zie­ren (»Sag NEIN!«), spricht Bau­er, in ver­knap­pen­der, ver­dich­ten­der Vers­form, von moder­ner Waf­fen­tech­nik und Mit­teln, Men­schen durch öko­no­mi­schen Druck gefü­gig zu machen. Wie bei Bor­chert wer­den ver­schie­de­ne gesell­schaft­li­che Grup­pen ange­spro­chen. Etwa wenn es um Mäd­chen und Frau­en geht, die man mit einem beson­ders aus­ge­feil­ten Kon­sum­ter­ror über­zieht, um Fabrik­be­sit­zer, denen der Waf­fen­han­del ein »Bom­ben­ge­schäft« sowie »Orden aus Blech« ver­spricht, um Dich­ter, die bei »Hass­ge­sän­gen« grö­ße­re Auf­merk­sam­keit errei­chen, um Schiffs­ka­pi­tä­ne, Pilo­ten und ande­re. Nur ein kla­res Nein muss die Ant­wort auf die­se »moder­nen« Ver­füh­rungs- und Ver­drän­gungs­ver­su­che sein, die ver­schwei­gen oder über­tün­chen »was ihr bes­ser nie­mals /​ ver­gesst dass das mor­den /​ neu­en ter­ror erzeugt /​ neue angst gebiert /​ neu­es unrecht /​ und neue kriege«.

Ande­re Tex­te stel­len die Wur­zeln des alten und neu­en Mili­ta­ris­mus als Teil einer unse­li­gen Ent­wick­lung her­aus, etwa in der »Hun­nen­re­de des Wil­helm II«, oder den Tex­ten über die nie abrei­ßen­den Lob­re­den auf den Kolo­nia­lis­mus, die Bru­ta­li­tät des KZ-Ter­rors oder die unge­sühn­ten Mas­sa­ker im Zwei­ten Welt­krieg, etwa an Grie­chen oder ita­lie­ni­schen Sol­da­ten. Bau­ers Lyrik vari­iert die The­men und histo­ri­schen Bezü­ge und zeigt dabei einen For­men­reich­tum, der auch Hai­kus, Disti­chen und Apho­ris­men ein­schließt. Neben trau­rig-melan­cho­li­schen Rück­blicken fin­den sich tages­ak­tu­el­le Bezü­ge und frap­pie­ren­de histo­ri­sche Par­al­le­len, die nur noch Sar­kas­mus und Empö­rung nahe­le­gen: So war die ver­mut­lich als patrio­tisch-auf­mun­ternd gel­ten­de Paro­le »Du bist Deutsch­land« ursprüng­lich auf Hit­ler gemünzt. Selbst Mit­tel der kon­kre­ten Poe­sie setzt Bau­er ein, etwa im »Ver­fas­sungs­schutz­slamm« oder im »Vom Schüt­zen­schüt­zen der Ver­fas­sung«, das mit den Zei­len endet: »unver­hoh­len wird auch anemp­foh­len zu /​ ver­stehn /​ war­um ver­fas­sungs­schüt­zer nazis /​ schüt­zend müs­sen schüt­zen gehn«. Gele­gent­lich kommt auch Posi­tiv-Uto­pi­sches zur Spra­che, etwa die Visi­on der Gewalt­lo­sig­keit. Doch der Haupt­te­nor die­ser Tex­te, die oft wie Flug­schrif­ten wir­ken, liegt im Appell an die Ver­wei­ge­rung und an ein dem­entspre­chen­des Han­deln oder Kämp­fen. Im Gedicht »Ver­mächt­nis«, genau in der Mit­te des Ban­des, heißt es: »kämpft für den frie­den /​ gegen den krieg /​ kämpft gegen krieg /​ kämpft gegen das unrecht /​ kämpft«.

Ein vor kur­zem erschie­ne­ner zwei­ter Gedicht­band, »Zur Unzeit, gegeigt«, setzt die Ori­en­tie­rung an aktu­el­len Ent­wick­lun­gen fort. In einem derb-baju­wa­ri­schen »Schnader­hüp­ferl« wird das für 2020 geplan­te Nato-Manö­ver »Defen­der« aufs Korn genom­men, der Refrain jeweils leicht vari­iert und dadurch ein­gän­gig: »kriag deaf net sei’ /​ frie­den muass sei’«. Viel Raum wird histo­ri­schen Ereig­nis­sen gewid­met, dem deut­schen Nar­ra­tiv geschei­ter­ter Krie­ge und Revo­lu­tio­nen, wobei Bau­er den pas­sen­den Gegen­text zu den offi­zi­el­len Fei­ern lie­fert, die sich im ober­fläch­li­chen Geden­ken an die Opfer erschöp­fen und die tat­säch­li­chen Gege­ben­hei­ten ver­drän­gen oder ver­fäl­schen. Der Titel der Samm­lung ver­weist dar­auf, dass wirk­li­ches Geden­ken, wie z. B. der Toten­tanz von Hans Hen­ny Jahn »zur Unzeit« kommt. Beson­ders beein­druckend sind Tex­te, die kennt­lich machen, wie die gän­gi­gen »schmäh­wor­te« (etwa Asy­lant oder Flücht­lings­heer) genutzt wer­den, um Grup­pen aus­zu­gren­zen und not­falls auch phy­sisch, »mit tötungs­droh­nen /​ orbi­ta­len kampf­spio­nen« zu bedro­hen. Krieg und Gewalt sind stets gegen­wär­tig in die­sen Tex­ten, was durch die bei­gege­be­nen Bild­mon­ta­gen noch unter­stri­chen wird. Die dort genutz­ten, sich gegen­sei­tig ver­frem­den­den Fotos zei­gen das Mar­tia­lisch-Bedro­hen­de und Obszö­ne öffent­lich aus­ge­stell­ter Gewalt und das lee­re Lächeln jener Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker, die sie ver­kau­fen, als hand­le es sich um Zahn­pa­sta. Der abschlie­ßen­de Text, ein »Neu­es Mani­fest for future« ist dem Kampf gegen die Kli­ma­kri­se gewid­met. Wie im ersten Band geht der Appell an die Leser­schaft. Nur durch soli­da­ri­sches Han­deln lässt sich der ver­seuch­te, geschun­de­ne Pla­net ret­ten und das »glück der zukunft« erobern. Erneut wir­ken vie­le Tex­te wie Flug­schrif­ten, die kon­kre­te Erfah­run­gen poin­tie­ren und in zitier­fä­hi­gen Sät­zen bün­deln. Poli­ti­sche Lyrik die­ses Kali­bers hat einen unbe­streit­ba­ren Nutz­wert. Man kann ihr nur eine wei­te Ver­brei­tung wünschen.

 

Rudolph Bau­er /​ Tho­mas Met­scher, Aus gege­be­nem Anlass. Gedich­te und Essay, Ham­burg 2018, 194 Seiten

Rudolph Bau­er, Zur Unzeit, gegeigt. Poli­ti­sche Lyrik und Bild­mon­ta­gen, Ham­burg 2020, 160 Seiten