Der Rechthistoriker Christoph Schminck-Gustavus hat ein lesenswertes Buch geschrieben. Das umfangreiche Werk legt zunächst dar, wie das nationalsozialistische Regime durch Rassengesetze, Überwachung des zivilen Lebens, Verfolgung von Widerstandsbildungen seine Machtstrukturen verfestigte. In diesem allgemeinen Rahmen gewinnen die einzelnen Charaktere des Widerstands ein bewegendes Profil: Helmuth J. Graf von Moltke, Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer offenbaren auch nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler (Juli 1944) in den NS-Gefängnissen ihren Mut, und ihre Verantwortung für ihre Mitstreiter und ihre Familien in persönlichen Briefen, die auf geheimen Wegen als »Kassiber« an ihre Angehörigen gelangten. Auch den Foltermethoden, mit denen die Nazis Geständnisse erpressen wollten, hielten sie stand.
Es ist einer der Vorzüge dieses an Vorzügen reichen Werks, dass es den deutschen Widerstand nicht punktuell auf den 20. Juli 1944 verkürzt, sondern seine Entstehung kontrastiv zum NS-Terrorregime aufzeigt – und damit Auskunft gibt über das in zwei extreme Lager seit Jahren gespaltene Deutsche Reich: den Terroristen, Verbrechern und Mördern einerseits und den ethischen Parteigängern des Widerstands andererseits. Gegensätze dieser Art baut das Buch nicht künstlich auf, sondern sie ergeben sich wie von selbst aus dem Gang der Geschehnisse und fesseln den Leser emotional und mental zugleich.
Schminck-Gustavus zeigt eindringlich, dass auf Seiten des Widerstands auch ein Netz von Helfern und Opponenten ausgespannt war und dass bewundernswert mutige Menschen, Geistliche, Ärzte und einfache Wachmänner, hohe Risiken eingegangen sind. Hier wurde eine Ethik vorgelebt, die sich ermutigend von der Duckmäusermoral zahlloser Mitläufer der Nazis abhob und ein Zeichen setzte gegen Gewalt und Korruption im NS-Staat.
Der Autor – er lehrte als Rechtshistoriker an der Universität Bremen – fragt sich, wie in der deutschen Geschichte diese schneidende Polarität von Unmenschlichkeit seitens der NS-Parteigänger und der widerstandskräftigen Menschlichkeit ihrer Gegner entstehen konnte. Er zeigt, dass die Vertreter des Terror-Regimes durch Unterwerfungsbereitschaft einerseits und durch Karrierismus andererseits angetrieben wurden, während die Widerstandskämpfer durch ihre tatkräftige Ethik und ihren konsequenten Humanismus ein friedliches Europa herbeizuführen suchten. Die Gründe für die Haltung der radikalen Vertreter des NS-Systems lassen sich aus ihren Kurzbiografien erschließen. Der Autor zeigt darüber hinaus, dass die verhängnisvolle Unterwerfungsbereitschaft der Nazi-Anhänger einer in der deutschen Geschichte fest verwurzelten antidemokratischen Tradition entsprach.
Im letzten Teil seiner Untersuchung enthüllt der Autor, gestützt auf Münchner Schwurgerichtsakten, klarsichtig das Versagen der deutschen Justiz nach dem Krieg. Einige ehemalige Nazi-Schergen, die während der letzten Kriegsjahre die Todesurteile gegen Widerstandskämpfer wie Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer verhängt oder sie in die Wege geleitet hatten, wurden nicht etwa korrekt zur Rechenschaft gezogen und ihres Unrechts überführt, sie konnten sich vielmehr auf ihren angeblichen »Befehlsnotstand« berufen. Die Tatsache, dass einige der damals verhängnisvoll agierenden Richter nach Kriegsende ihr Amt weiterhin ausüben durften, beweist das Versagen der »Entnazifizierung« in besonders drastischer Weise. Schminck-Gustavus legt die in der Nachkriegs-Justiz herrschende Geschichtsblindheit offen, die eine vermeintliche »Gehorsamspflicht« hinsichtlich der Gesetze eines Terror-Regimes postulierte und diese höher wertete als die auf einen Frieden ausgerichtete Ethik der Widerstandskämpfer. Es zeigt sich, dass die vom Autor geleistete Durchforstung von bislang übersehenen Aktenkonvoluten eine präzisere Kritik der Rechtsprechung als bisher ermöglicht.
Christoph Schminck-Gustavus’ Buch breitet ein Panorama historischer Analysen, gründlicher Aktenstudien, Briefzeugnissen und aufklärender Urteile aus. Zum hohen wissenschaftlichen Niveau des Werks gesellt sich ergänzend seine Eigenschaft als Lesebuch. Die heimlich geführte Korrespondenz zwischen Hans von Dohnanyi und seiner Frau Christine erzählt von der unbeirrbaren Liebe des Paars inmitten einer Welt von Gewalt, die Nachzeichnung der geplanten (jedoch letztlich gescheiterten) Rettungsaktion für Hans von Dohnanyi durch den Arzt Dr. Tietze vibriert vor Spannung, das Wagnis eines Geigenspiels in den Gefängnismauern zum Trost der Inhaftierten, das die Gefängniswärter erlaubt hatten, wird auch künftige Leser erschüttern.
Dietrich Bonhoeffers Mut, dem Tod klaren Bewusstseins standzuhalten, führt uns menschliche Seelenkraft beispielhaft vor Augen. Wir werden Zeuge einer von den Widerstandskämpfern entfalteten Menschlichkeit und ihren Gefährdungen. So enthält dieses historisch-juristische und politische Werk zugleich bewegende Seelendramen und spannungsreiche Geschehensabläufe. In dieser Verbindung dürfte es auch für jüngere Generationen eine anziehungskräftige Lektüre darstellen.
Christoph Schminck-Gustavus: Der Tod auf steilem Berge. Die »Standgerichtsprozesse« gegen Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi und die Freisprechung ihrer Mörder. Bremen: Donat 2020.