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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Arbeitszeitverkürzung! Eine Utopie?

»Sams­tags gehört Vati mir« – lang ist’s her, dass in Deutsch­land um eine flä­chen­decken­de Arbeits­zeit­ver­kür­zung gerun­gen wur­de. 48 Stun­den Arbeits­zeit in einer 6-Tage-Woche war in den fünf­zi­ger Jah­ren die Regel in der BRD, nach und nach wur­den, aus­ge­hend von der Metall­bran­che, in den 60er Jah­ren kür­ze­re Arbeits­zei­ten und schließ­lich die 5-Tage-Woche ein­ge­führt. auch wenn anfangs Indu­strie­ver­tre­ter wie Hein­rich Nord­hoff, der Gene­ral­di­rek­tor der VW-Wer­ke, mahn­te: »Sicher wäre ein frei­er Sams­tag für vie­le ein schö­nes Geschenk, aber für vie­le auch ein Fluch. Die mei­sten Men­schen leben ohne­hin auf der Flucht vor sich selbst. Ihnen wäre ein feh­len­der Arbeits­tag kein Segen, son­dern die Lee­re wür­de noch vergrößert.«

In den 1980er Jah­ren schon kam der Wunsch nach einer 32-Stun­den-Woche auf, aber das blieb ein Traum. Der Trend ging lan­ge eher in die ande­re Rich­tung, zu einer Arbeits­zeit­ver­län­ge­rung unter dem Deck­man­tel der Fle­xi­bi­li­sie­rung, zu einer immer wei­ter gehen­den Arbeits­ver­dich­tung, deren Fol­ge ein zuneh­men­der Burn-out auf Sei­ten der arbei­ten­den Bevöl­ke­rung ist.

Heu­te kämpft die IG Metall in der Stahl­bran­che um eine regu­lä­re Wochen­ar­beits­zeit von 32 Stun­den, aber es ist die viel­ge­schmäh­te klei­ne Gewerk­schaft Deut­scher Loko­mo­tiv­füh­rer (GDL) um ihren Vor­sit­zen­den Claus Wesel­sky, die am 13. Dezem­ber 2023 einen Erfolg ver­kün­de­te, der viel­leicht bun­des­weit Aus­wir­kun­gen haben wird.

»GDL und NETINERA (u. a. erixx, metro­nom und ODEG, BW) haben sich auf die Absen­kung der Arbeits­zeit (auf eine 35-Stun­den-Woche, die 2028 erreicht wird, BW), ange­mes­se­ne Ent­gelt­er­hö­hun­gen und wei­te­re Ver­bes­se­run­gen geei­nigt. Die Tarif- und Sozi­al­part­ner sind der festen Über­zeu­gung, mit die­ser nach­hal­ti­gen Ver­bes­se­rung der Arbeits­be­din­gun­gen künf­tig mehr Eisen­bah­nerin­nen und Eisen­bah­ner gewin­nen zu kön­nen. Ein nicht unwe­sent­li­ches Argu­ment in einer Bran­che, in der oft­mals Züge wegen des Fach­kräf­te­man­gels ausfallen.«

2028 soll die 35-Stun­den-Woche für die Eisen­bah­ner erreicht sein. 2028 war auch das Jahr, auf das sich John May­nard Keynes in einem Vor­trag im Jahr 1928 bezog. Er sprach über die wirt­schaft­li­chen Mög­lich­kei­ten der Enkel-Gene­ra­ti­on und führ­te unter ande­rem aus: »In weni­gen Jah­ren − damit mei­ne ich, noch zu unse­ren Leb­zei­ten − wer­den wir in der Lage sein, alle Tätig­kei­ten in der Land­wirt­schaft, im Berg­bau und im Pro­du­zie­ren­den Gewer­be mit einem Vier­tel der mensch­li­chen Anstren­gun­gen durch­zu­füh­ren, an die wir gewöhnt waren.«

Er sag­te vor­aus, »dass der Lebens­stan­dard in den fort­schritt­li­chen Län­dern in hun­dert Jah­ren (also 2028) vier- bis acht­mal so hoch sein wird wie heu­te«, und rech­ne­te durch­aus mit der Mög­lich­keit eines noch rasche­ren Fort­schritts. Er sprach davon, dass durch die­sen Fort­schritt eine 15-Stun­den-Arbeits­wo­che die Regel sein wer­de und die Men­schen sich über wirt­schaft­li­che Not­wen­dig­kei­ten kei­ne Gedan­ken mehr zu machen brauch­ten. Ein Zeit­al­ter der Fül­le wäre erreicht.

Auch er sprach – wie Nord­hoff – von einer damit ver­bun­de­nen Sinn­kri­se: »Zum ersten Mal seit sei­ner Erschaf­fung wird der Mensch damit vor sei­ne wirk­li­che Auf­ga­be gestellt sein, wie sei­ne Frei­heit von drücken­den wirt­schaft­li­chen Sor­gen zu ver­wen­den ist.« Doch er pro­phe­zei­te, dass man »zu den zuver­läs­sig­sten Grund­sät­zen der alt­her­ge­brach­ten Wer­te zurück­keh­ren wer­de: dass Geiz ein Laster ist und die Lie­be zum Geld abscheulich«.

Keynes ist für die­se Vor­her­sa­gen kri­ti­siert wor­den, u. a. mit dem Argu­ment, dass die Län­ge der Arbeits­zeit nicht mit der Pro­duk­ti­vi­tät zusam­men­hän­ge, son­dern mit der Höhe des Ein­kom­mens, sprich: erst wenn der Lohn hoch genug sei, käme der Wunsch nach kür­ze­rer Arbeits­zeit auf. Das mag unter den gege­be­nen Bedin­gun­gen stim­men, wo der Lohn der arbei­ten­den Bevöl­ke­rung oft­mals nicht aus­reicht ohne zusätz­li­che (Zweit-)Arbeit. Man kann die­ses Argu­ment aller­dings umdre­hen: Es ist wich­tig, dafür zu sor­gen, dass es auch bei kür­ze­rer Arbeits­zeit gerech­te Löh­ne gibt, dass sich nicht eine Min­der­heit an der Arbeit der Mehr­heit berei­chert und die Früch­te der gestie­ge­nen Pro­duk­ti­vi­tät allen gleich­mä­ßig zugutekommen.

Uto­pisch? Ja sicher, aber wir soll­ten durch­aus uto­pi­sche Gedan­ken pfle­gen, um uns klar­zu­ma­chen, wohin eine wün­schens­wer­te gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung füh­ren soll. Schon 1911 hat Char­lot­te Gil­man, eine Vor­kämp­fe­rin der Frau­en­eman­zi­pa­ti­on und weit über ihr Hei­mat­land USA hin­aus für ihre gesell­schafts­kri­ti­schen Bücher bekannt, eine Uto­pie ver­fasst, die dar­auf grün­de­te, dass Armut abge­schafft war – die kapi­ta­li­sti­sche Gesell­schaft war schon damals so reich, dass bei Ver­tei­lung die­ses Reich­tums für alle gesorgt war – und alle Men­schen ledig­lich zwei bis vier Stun­den am Tag für gesell­schaft­lich sinn­vol­le und not­wen­di­ge Arbeit auf­wen­de­ten. Ihr Roman Moving the Moun­tain spiel­te 1940 und hat­te nichts von Sci­ence-Fic­tion an sich, son­dern soll­te die Men­schen anre­gen, dar­über nach­zu­den­ken, wie Frei­heit und Glück zu ver­wirk­li­chen sei­en. Die Pro­duk­ti­vi­tät war auch damals in den USA schon hoch, aller­dings auch der Mili­tär­haus­halt, der eben nicht den Men­schen dien­te. Gil­man behaup­te­te, dass allein die­se Gel­der eine sta­bi­le Grund­la­ge für die Trans­for­ma­ti­on der Gesell­schaft schaf­fen kön­nen, dazu kämen enor­me Ein­spa­run­gen, wenn die Men­schen gesün­der und fried­li­cher leben, gute Bil­dung und Sor­ge-Arbeit höch­ste Prio­ri­tät genie­ßen. Dass Pro­fit­stre­ben in ihrer Uto­pie ver­pönt ist, ver­eint sie mit Keynes (die Lie­be zum Geld ist abscheu­lich) und übri­gens auch mit vie­len Men­schen der heu­te jün­ge­ren Gene­ra­ti­on, die Koope­ra­ti­on und Tei­len höher bewer­ten als die Gier nach Reich­tum. Die freie Zeit, die ein kur­zer Arbeits­tag schafft, ermög­licht es den Men­schen, sich um ihre Gemein­schaf­ten und um die Natur zu küm­mern und als akti­ve Bür­ger wirk­sam zu sein. Das wirkt der genann­ten Sinn­kri­se ent­ge­gen. Die Gesell­schaft sind wir, heißt es bei Gil­man, und mög­lich wird die­ses demo­kra­ti­sche Mit­ein­an­der durch über­schau­ba­re Struk­tu­ren, in der der ein­zel­ne Mensch zählt und nicht in einer anony­men Mas­se ver­schwin­det. Dass Gil­m­ans Uto­pie auch grund­sätz­lich auf der gleich­be­rech­tig­ten Mit­wir­kung der Frau­en beruht – die­ser Gedan­ke brach­te sie erst dazu, sich mit ihrer Uto­pie zu befas­sen – und auf der ganz ande­ren care-basier­ten Sicht­wei­se, die Frau­en auf Gesell­schaft haben, ist ein wei­te­rer Punkt, über den sich nach­zu­den­ken lohnt.

Eine Ver­kür­zung der Arbeits­zeit muss also ein­ge­bet­tet sein in eine umfas­sen­de Trans­for­ma­ti­on der Gesell­schaft – weg von der Kon­sum- hin zu einer soli­da­ri­schen Gesell­schaft des Mit­ein­an­der und des Tei­lens. Natür­lich dient die For­de­rung der GDL dazu, dass krank­ma­chen­de Arbeits­be­din­gun­gen gemil­dert wer­den, und ihre Durch­set­zung wäre ein erster Schritt zu einer gerech­te­ren Gesell­schaft, aber der not­wen­di­ge Umbau einer ins­ge­samt kran­ken Gesell­schaft erfor­dert mehr. Gil­man benennt einen Schlüs­sel­satz: wir den­ken anders, der Mensch besinnt sich auf die Grund­la­gen eines guten Lebens, das nicht vor­nehm­lich über Geld defi­niert wird. Die­sen Bewusst­seins­wan­del müs­sen wir errei­chen, das kann die GDL nicht allein.

Poli­ti­sche Uto­pien wie Gil­m­ans Moving the Moun­tain, die die Sehn­sucht nach einer gerech­ten und soli­da­ri­schen Gesell­schaft näh­ren, kön­nen ein Schritt auf die­sem Weg sein.