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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Erkämpft das Menschenrecht!

Zuge­ge­ben, die Über­schrift klingt ver­al­tet und soll­te nach Mei­nung maß­geb­li­cher deut­scher Politiker/​innen nur Demon­strie­ren­den auf dem Roten Platz in Mos­kau, dem Mai­dan in Kiew oder dem Tian­an­men in Peking zuge­ru­fen wer­den. Denn wir »haben« ja die Men­schen­rech­te, fei­ern sie auch ange­mes­sen wür­de­voll, etwa zum 75. Jah­res­tag der Ver­ab­schie­dung der All­ge­mei­nen Erklä­rung der Men­schen­rech­te am 10. Dezem­ber. Rena­ta Alt (FDP), Vor­sit­zen­de des Aus­schus­ses für Men­schen­rech­te und huma­ni­tä­re Hil­fe, sieht ent­spre­chend die höch­ste Prio­ri­tät dar­in, die Men­schen­rechts­la­ge in ande­ren Staa­ten zu ver­bes­sern – »gemein­sam mit Part­ner­län­dern, die unse­re Wer­te tei­len«. Unse­re »wer­te­ge­lei­te­te Außen­po­li­tik« müs­se sich den »bar­ba­ri­schen Kriegs­ver­bre­chen Russ­lands«, der Lage im Iran und dem »grau­sa­men Hamas-Angriff auf Isra­el« widmen.

Die­ser Lage­be­ur­tei­lung gemäß muss Deutsch­land mit sei­ner wer­te­ge­lei­te­ten Poli­tik zusam­men mit den Wer­te­part­nern die Men­schen­rech­te dafür nut­zen, sie unse­ren Fein­den vor­zu­hal­ten oder auf­zu­zwin­gen – not­falls auch mit Gewalt. Schwer erträg­lich, die­se neo­ko­lo­nia­le Welt­sicht. Kon­tra­stie­ren wir sie mit der Weih­nachts­pre­digt von Mun­ther Isaac, dem Pfar­rer der evan­ge­lisch-luthe­ri­schen Kir­che in Beth­le­hem. Er klagt die Füh­rer der soge­nann­ten frei­en Welt an, »grü­nes Licht für die­sen Völ­ker­mord an einer gefan­ge­nen Bevöl­ke­rung (in Gaza) gege­ben« zu haben und schließt: »Ich will nie wie­der hören, dass ihr uns über die Men­schen­rech­te oder über das inter­na­tio­na­le Recht belehrt.«

Anschei­nend gibt es eine grund­sätz­li­che Dis­kre­panz zwi­schen der Selbst­ein­schät­zung (oder -insze­nie­rung) des Wer­te­we­stens und Men­schen, die von sei­ner Poli­tik betrof­fen sind. Selbst im UN-Men­schen­rechts­rat muss­te Deutsch­land im Novem­ber beim The­ma Ver­wirk­li­chung der Men­schen­rech­te Kri­tik ein­stecken. Es bekam die Haus­auf­ga­be (eine For­mu­lie­rung, die deut­sche Politiker/​innen gern gegen ande­re ver­wen­den), den – teil­wei­se insti­tu­tio­nel­len – Ras­sis­mus im Land stär­ker zu bekämp­fen. Bean­stan­det hat der Rat fer­ner das Ver­bot pro-palä­sti­nen­si­scher Demon­stra­tio­nen und die man­geln­de Umset­zung der Kon­ven­ti­on zur Prä­ven­ti­on und Bekämp­fung von Gewalt gegen Frau­en. Zuvor hat­ten bereits Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen eine gan­ze Rei­he von The­men vor­ge­legt, bei denen die Bun­des­re­pu­blik den eige­nen Ansprü­chen zuwi­der­han­delt: bei der Behand­lung von Flücht­lin­gen, der rasant stei­gen­den Armut, dem Schutz der Ver­samm­lungs­frei­heit, bei Poli­zei­ge­walt, Racial Pro­fil­ing und eini­gen ande­ren »Sicherheits«-Maßnahmen.

Der Zustand der Men­schen­rech­te in Deutsch­land krankt aber nicht nur an der man­geln­den Umset­zung ein­zel­ner Rech­te. Syste­ma­ti­sche Fehl­deu­tun­gen und absichts­vol­le pro­pa­gan­di­sti­sche Tricks ver­hin­dern, dass Men­schen ihre Rech­te wahr­neh­men können:

  1. In der öffent­li­chen Dar­stel­lung domi­nie­ren die poli­ti­schen und bür­ger­li­chen Rech­te, die aber nur einen Teil der Men­schen­rech­te dar­stel­len. Wäh­rend nicht ein­mal die­se voll umge­setzt sind, in man­chen Berei­chen wie der men­schen­ver­ach­ten­den, töd­li­chen Flücht­lings­ab­wehr sogar total miss­ach­tet wer­den, fin­den die wirt­schaft­li­chen, sozia­len und kul­tu­rel­len Men­schen­rech­te meist kei­ne Beach­tung und müs­sen gegen den Staat durch­ge­setzt wer­den. Die UN-Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on – for­mal kein Teil der Men­schen­rech­te, aber von allen Staa­ten bis auf die USA unter­zeich­net – bleibt ein blin­der Fleck der Politik.
  2. Zu Recht wer­den Fol­ter, Dis­kri­mi­nie­rung, Unter­drückung der Pres­se­frei­heit, die Ver­haf­tung poli­ti­scher Geg­ner etc. in auto­ri­tär regier­ten Län­dern ange­pran­gert. Die Kri­tik bleibt aber ein­sei­tig und selek­tiv ange­sichts der bekann­ten Ver­bre­chen im eige­nen Lager: Guan­ta­na­mo, Assan­ge, Palä­sti­na, Ras­sis­mus in den USA. Syste­ma­tisch aus­ge­blen­det blei­ben The­men der Aus­beu­tung von Men­schen, Macht­miss­brauch der Kon­zer­ne, Mani­pu­la­ti­on in Medi­en, unge­rech­te Han­dels­ver­trä­ge, töd­li­che Wirt­schafts­sank­tio­nen gegen unlieb­sa­me Län­der und vie­les mehr. Sie kosten Mil­lio­nen von Men­schen das Leben, schaf­fen Elend und ver­hin­dern die Wahr­neh­mung von Rech­ten, gel­ten aber selbst kei­nes­wegs als Menschenrechtsverletzung.
  3. Sug­ge­riert wird, in den west­li­chen Demo­kra­tien hät­ten alle Men­schen die­sel­ben Rech­te. For­mal stimmt das. Was sind aber die­se wert, wenn sie nicht rea­li­siert wer­den kön­nen, weil die Bedin­gun­gen dafür nicht geschaf­fen wer­den? Was hat ein Kind aus einer armen Fami­lie von sei­nem Recht auf Gesund­heit, Bil­dung und freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, wenn all dies real syste­ma­tisch ver­hin­dert wird? Was hat die Bevöl­ke­rung von Pres­se­frei­heit, wenn die Leit­me­di­en zum Sprach­rohr einer mili­ta­ri­sier­ten Regie­rungs­po­li­tik dege­ne­rie­ren? Wenn kri­ti­sche Äuße­run­gen gegen die »Staats­rä­son« gecan­celt wer­den? Wenn Uran­mu­ni­ti­on und Phos­phor­bom­ben an Wer­te­part­ner gelie­fert und von die­sen auch ein­ge­setzt werden?

Es ist bil­lig und heuch­le­risch, in ande­ren Län­dern die Ver­let­zung der Men­schen­rech­te anzu­pran­gern, solan­ge die beschwo­re­nen gemein­sa­men Wer­te dar­in bestehen, einem Wirt­schafts­sy­stem zu hul­di­gen, das auf Aus­beu­tung von Mensch und Natur auf­baut und syste­ma­ti­sche Ungleich­heit züch­tet; solan­ge »wir« für stra­te­gi­sche Hege­mo­nie Krie­ge füh­ren, um dann Poli­ti­ker wie Hen­ry Kis­sin­ger zu ehren, der nach Schät­zun­gen vier Mil­lio­nen Men­schen auf dem Gewis­sen hat; solan­ge »wir« zehn­tau­sen­de Men­schen im Mit­tel­meer einen qual­vol­len Tod ster­ben las­sen, denen »wir« vor­her die Men­schen­rech­te geraubt und die Über­le­bens­chan­cen genom­men haben.

Gewiss gibt die Lage der Men­schen­rech­te in vie­len Regio­nen der Welt Anlass zu Kri­tik. Aber Vor­sicht mit über­heb­li­chen Mah­nun­gen oder gar Dro­hun­gen mit impe­ria­lem Geha­be. Wie hät­ten sich die Ver­hält­nis­se im Iran ent­wickelt, hät­ten die Geheim­dien­ste der USA und von Groß­bri­tan­ni­en nicht den demo­kra­tisch gewähl­ten Prä­si­den­ten Mos­sa­degh gestürzt und den Schah instal­liert? Kön­nen wir im Brust­ton der mora­li­schen Über­le­gen­heit Kuba, Vene­zue­la, Viet­nam, Kam­bo­dscha, DR Kon­go oder Niger wegen Men­schen­rechts­ver­stö­ßen ver­ur­tei­len, ohne unse­re eige­ne Urhe­ber­schaft an kri­tik­wür­di­gen Ent­wick­lun­gen zu sehen? Ging es im Krieg gegen Irak, Liby­en oder auf dem Mai­dan um Men­schen­rech­te oder um die Siche­rung impe­ria­ler Inter­es­sen? Kaum ein Land in Afri­ka, Süd­ame­ri­ka, im Nahen Osten oder in Süd­ost­asi­en, wo nicht mör­de­ri­sche Gewalt, unse­re Gewalt, gewü­tet hätte.

Nein, wir sind nicht die Guten. Die Men­schen­rech­te sind eine Basis für eine huma­ne­re Welt – wenn man sie ver­wirk­licht. Deutsch­land und der »Wer­te­we­sten« behan­delt sie aber als Waf­fe, qua­si als Stand­ort­fak­tor im Pro­pa­gan­da­krieg. Ist es ver­wun­der­lich, wenn der glo­ba­le Süden eine ande­re Sicht hat auf die Beherr­scher der Welt, die ihm bru­ta­le, men­schen­ver­ach­ten­de Aus­beu­tung, Skla­ve­rei und Kolo­nia­lis­mus, ras­si­sti­sche Ver­ach­tung und Krie­ge gebracht haben? Wie wür­de die Welt aus­se­hen ohne die Hybris und Gewalt aus den Staa­ten, die sich jetzt als mora­li­sche Instanz für die Welt aufspielen?

María do Mar Castro Vare­la und Niki­ta Dha­wan haben einen Bei­trag für die Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung ver­fasst: »Die Uni­ver­sa­li­tät der Men­schen­rech­te über­den­ken«. Sie wei­sen dar­auf hin, dass zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts 85 Pro­zent der Welt euro­päi­scher Gewalt unter­wor­fen war. Der ver­lo­ge­ne Vor­wand der gewalt­sa­men Unter­wer­fung der Men­schen: Durch­füh­rung einer Zivi­li­sa­ti­ons­mis­si­on. All die Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit sei­tens Euro­pas hin­dern es nicht dar­an, die Län­der anzu­kla­gen, die es »zivi­li­siert« hat – und dort auch mit Gewalt ein­zu­grei­fen: legi­ti­mier­ter Impe­ria­lis­mus. »Vie­le Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen sind auch Resul­ta­te von Struk­tur­an­pas­sungs­pro­gram­men, die von den glei­chen Geld­ge­bern beglei­tet wer­den, die sich für die Men­schen­rech­te ein­set­zen. Dass Staa­ten spe­zi­fi­sche Rech­te miss­ach­ten, (…) ist häu­fig schlicht Fol­ge einer neo­li­be­ra­len Struk­tur­an­pas­sungs­po­li­tik. Die ›Poli­tik des Hel­fens‹ ver­deckt öko­no­mi­sche und geo­po­li­ti­sche Inter­es­sen, wäh­rend die hege­mo­nia­len Men­schen­rechts­dis­kur­se dem Glo­ba­len Nor­den als Recht­fer­ti­gung die­nen, um im Glo­ba­len Süden einzugreifen.«

Die »Zei­ten­wen­de« baut auf mili­tä­ri­sche Gewalt und strebt nach geo­po­li­ti­scher Hege­mo­nie. Zeit für eine Inter­na­tio­na­le, die glo­bal das Men­schen­recht erkämpft.