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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Tibet ist anders

Die Stadt­bäu­me tra­gen Gold: Ihre Stäm­me sind mit glän­zen­der Folie umwickelt. Dabei ist unklar, ob die­ser Schmuck dem Mond­fest oder dem zwei Tage spä­ter fol­gen­den Natio­nal­fei­er­tag am 1. Okto­ber gilt. Viel­leicht bei­den. Von nahe­zu jeder Zin­ne grüßt eine rote Fah­ne mit fünf gel­ben Ster­nen. Die­se Bot­schaft ist ein­deu­tig – Orts­be­zeich­nun­gen und Namen hin­ge­gen sind es nicht. Zumin­dest was die Schreib­wei­sen betrifft. Die tibe­ti­schen und die chi­ne­si­schen Schrift­zei­chen sind für unser­ei­nen unle­ser­lich, sel­ten nur wird eine eng­li­sche Tran­skrip­ti­on mit­ge­lie­fert. Allen­falls aus Bezeich­nun­gen auf blau­en Groß­ta­feln mit Rich­tungs­pfei­len, die über gut aus­ge­bau­ten und mit Leit­plan­ken ver­se­he­nen Pisten schwe­ben, las­sen sich Schlüs­se zie­hen, wo man sich even­tu­ell gera­de befin­den könn­te und wohin die Rei­se geht.

Mein Beglei­ter aus Bei­jing schreibt auf einen Zet­tel Xiang Cheng, im Inter­net fin­den sich spä­ter ein Dut­zend Orte die­ses Namens in ganz Chi­na, aller­dings als ein Wort, also zusam­men­ge­schrie­ben. Und der Tibe­ter, den er auf der Stra­ße anspricht, ver­steht erst die Fra­ge nicht, und dann sagt er etwas, was nur mit viel Fan­ta­sie annä­hernd so klingt wie das, was auf dem Zet­tel steht. Auf alle Fäl­le sind wir im Süd­we­sten der Volks­re­pu­blik, wo die Ber­ge sehr, sehr hoch sind und man­che bereits Schnee­kro­nen tragen.

Die Luft ist ziem­lich dünn in drei- bis vier­tau­send Metern, und auch sonst wirkt nicht nur die Natur ziem­lich archa­isch: Über die Auto­pi­sten und durch die Stadt­stra­ßen zie­hen gelas­sen Yaks und ande­re Rin­der, die stö­ren sich am brau­sen­den Ver­kehr so wenig wie die Auto­fah­rer am Vieh: Bei uns mel­det der Ver­kehrs­funk ganz auf­ge­regt, wenn mal ein Och­se die Stra­ße quert. Hier erregt das nie­man­den. Man nimmt den Fuß vom Gas und umrun­det das gemüt­lich mit­ten auf dem Asphalt ruhen­de Rind.

Die Begeg­nung auf dem Markt des Ortes, des­sen Namen ich also weder lesen, geschwei­ge rich­tig schrei­ben kann, macht ein gene­rel­les Pro­blem deut­lich: Die Spra­chen der vie­len in der Regi­on leben­den Natio­na­li­tä­ten (von den fast sech­zig in ganz Chi­na) sind kaum mit­ein­an­der kom­pa­ti­bel, Man­da­rin, das Chi­ne­sisch der domi­nie­ren­den Han, ist denn das ein­zig ver­bin­den­de Ele­ment – und das schon seit eini­gen Tau­send Jah­ren. Aber die­se Spra­che wird nicht von allen beherrscht, und mit­un­ter, wie ich am irri­tier­ten Blick des Freun­des sehe, in einer kaum ver­ständ­li­chen Art und Wei­se gespro­chen. Umso erstaun­li­cher, dass 1,4 Mil­li­ar­den Men­schen unter die­sen Umstän­den zu der­art kol­lek­ti­ven Lei­stun­gen in Wirt­schaft und Wis­sen­schaft fähig sind. Inzwi­schen scheint Eng­lisch in Chi­na dar­um mehr als eine fakul­ta­ti­ve Übung zu sein.

Die Kreis­stadt, so erfah­ren wir zwi­schen gol­de­nen Baum­stäm­men, flat­tern­den Fah­nen und roten Losun­gen, zählt an die drei­ßig­tau­send Men­schen, von denen die über­gro­ße Mehr­heit Tibe­ter sind. Erzählt uns eine Tibe­te­rin, die sich mit ihrer Toch­ter die Foto­gra­fien anschaut, die im wei­ten Rund auf Staf­fe­lei­en zu besich­ti­gen sind. Sie sind das Resul­tat eines lan­des­wei­ten Wett­be­werbs, mit dem die Schön­heit von Natur und Mensch in die­sen auto­no­men Regio­nen gezeigt wer­den soll­te. Es exi­stie­ren das Auto­no­me Gebiet Tibet sowie zehn Auto­no­me Bezir­ke und zwei Auto­no­me Krei­se in den angren­zen­den vier Pro­vin­zen. Zwei davon, Sechu­an und Yunnan, durch­que­ren wir aktu­ell mit stau­nen­dem Gesicht. Was für eine irre Gegend, was für eine tou­ri­stisch zwar erschlos­se­ne, aber im Aus­land unbe­kann­te Land­schaft! Ich wür­de, hät­te ich die Macht, Men­schen aus dem Westen – allen vor­an Poli­ti­ker und Jour­na­li­sten – dort­hin brin­gen las­sen, damit sie nicht wei­ter­hin wie Blin­de über die Far­be rede­ten oder schrieben.

Die Men­schen dort sind auf­ge­schlos­sen und zugäng­lich, selbst von der gegen­über­lie­gen­den Stra­ßen­sei­te wird der Lang­na­se lachend gewun­ken oder eine Voka­bel her­über­ge­ru­fen, die man im Unter­richt gelernt hat. Die Frau um die Drei­ßig – inzwi­schen habe ich es auf­ge­ge­ben, nach Namen zu fra­gen: ich wür­de sie ohne­hin falsch notie­ren – erzählt, ihre Toch­ter gehe in die drit­te Klas­se, seit der ersten ler­ne sie drei Spra­chen: Man­da­rin, Eng­lisch und Tibe­ta­nisch (oder Tibe­tisch?). Neun von zehn Ein­woh­nern des Auto­no­men Krei­ses sind Tibe­ter. Nicht nur in die­sem Gespräch auf dem Markt wird offen­bar, was in den mei­sten Begeg­nun­gen spür­bar wird: Erstens sind die­se Men­schen aus­nahms­los stolz auf ihre Her­kunft und dass sie in Chi­na leben. (In Tibet selbst sind sie Tibe­ter unter Tibe­tern, außer­halb Tibets erfah­ren sie als Ange­hö­ri­ge einer Min­der­heit eine grö­ße­re Aufmerksamkeit.)

Zwei­tens haben vie­le Tibe­ter höhe­ren Alters die Schu­le schon nach weni­gen Jah­ren ver­las­sen, wie es einst üblich war. Aber ihre Kin­der stu­die­ren heu­te in gro­ßer Zahl. Bil­dung ist wich­tig fürs Vor­an­kom­men und für die Kul­tur, wis­sen sie inzwi­schen alle. Und es gab und gibt hier sehr vie­le Kin­der. Die Ein-Kind-Poli­tik Bei­jings galt für natio­na­le Min­der­hei­ten näm­lich nicht. Inso­fern han­delt es sich also um Unsinn, wenn behaup­tet wird, dass die Han-Chi­ne­sen die Min­der­hei­ten in deren ange­stamm­ten Sied­lungs­ge­bie­te gleich­sam »über­schwemm­ten«, um sie zu unterdrücken.

Die aus­ge­stell­ten Fotos sind hoch­pro­fes­sio­nell und wür­den jedes Hoch­glanz­ma­ga­zin im Westen schmücken. Der Erste Preis ging an ein Foto, dass eine tibe­ti­sche Neu­bau­sied­lung in einem Tal­kes­sel zeigt, über den sich ein Regen­bo­gen wölbt. Die Häu­ser sind schlüs­sel­fer­tig und kosten, wie ich spä­ter erfah­ren wer­de, etwa eine Mil­li­on Yuan, was umge­rech­net etwa 135.000 Euro sind. Das klingt für die hier herr­schen­den Ver­hält­nis­se viel, ist es aber in Wirk­lich­keit nicht. Die Frau, die wir spä­ter auf dem Weg zum 4.292 Meter hohen Berg­pass tref­fen, betreibt einen Kiosk und hat so ein Haus. Sie ver­kauft in ihrem wind­um­to­sten Bret­ter­büd­chen regio­na­le Pro­duk­te wie getrock­ne­tes Fleisch, Öröm und Sar Tos – die But­ter aus Yak­milch – oder Früch­te des Wal­des, dar­un­ter auch den Affen­kopf­pilz, der an Bäu­men wächst und von ihrem Sohn in der Seme­ster­pau­se gesam­melt wird. Mein Freund aus Bei­jing, in sei­ner Frei­zeit ein begna­de­ter Koch, kauft sich davon gleich zwei Beu­tel. Allein gekocht oder gebra­ten, schmecke der Pilz fad, sagt er, aber köst­lich, wenn er in einem Fleisch­sud gegart wer­de, und hält zum Beweis mir so ein wei­ßes Ding unter die Nase, was ich zunächst für eine Schrip­pe gehal­ten hat­te. Der Pilz riecht über­haupt nicht nach Pilz, soll aber gegen alle mög­li­chen Krank­hei­ten hel­fen, selbst gegen Demenz. Mein Freund grinst.

Die Kiosk­be­trei­be­rin mit der dunk­len, wet­ter­ge­gerb­ten Haut und dem Dutt am Hin­ter­kopf, sagt selbst­be­wusst, sie sei reich, was kei­nes­wegs unty­pisch für Chi­ne­sen ist. Man fragt, was man ver­dient, und nennt offen die Höhe des eige­nen Ein­kom­mens. Ob ich mehr als zehn­tau­send Yuan im Monat bekä­me? Zehn­tau­send, das höre ich immer wie­der, scheint bei den Chi­ne­sen die Weg­schei­de zwi­schen wohl­ha­bend und reich zu sein. Sie habe etwas 200 Yaks, die tags­über über die Ber­ge zie­hen und gemol­ken wer­den von drei­ein­halb Mit­ar­bei­tern (die natür­lich nicht so hei­ßen, und ver­mut­lich meint sie mit der hal­ben Kraft sich selbst). Aus der sehr fett­hal­ti­gen Milch macht sie auch Käse, der hier Bias­lag heißt. Ob ich mal kosten wolle?

Ich kaue noch immer an dem luft­ge­trock­ne­ten Stück Yak, das sie von einem grö­ße­ren Mus­kel­fa­ser­strang abge­schnit­ten und über dem offe­nen Holz­feu­er für mich erwärmt hat­te. War­um weht die Fah­ne auf ihrem sturm­zer­zau­sten Ver­kaufs­stand, fra­ge ich, um nicht auch noch den – gewiss schmack­haf­ten – Käse kosten zu müs­sen. Weil ich Mit­glied der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei bin, sagt sie erho­be­nen Haup­tes und nickt einem von einem drin­gen­den Bedürf­nis getrie­be­nen Man­ne zu, der ihr etwas zuge­ru­fen hat­te. Jetzt weiß ich, was die grü­nen Pla­stik­pla­nen für eine Funk­ti­on haben, hin­ter der der Auto­fah­rer verschwindet.

Oben auf dem Pass, der Wei­ßes Pferd heißt, ragt eine Säu­le mit über­ein­an­der­ge­setz­ten Zif­fern in den trü­ben Him­mel. Unzäh­li­ge Fähn­chen mit auf­ge­druck­ten Sprü­chen knat­tern im Wind. Wenn ich’s rich­tig notiert habe, nennt man sie Wind­pfer­de des­halb, weil die far­bi­gen Stoff­stücke die Wün­sche und Gebe­te durch die Kraft des nie ver­sie­gen­den Win­des in den Him­mel tra­gen. Der Wind treibt auch die Unmen­ge der in der Gegend instal­lier­ten Wind­rä­der, denn die Chi­ne­sen set­zen zuneh­mend auf erneu­er­ba­re Ener­gien und auch den Tibe­tern sol­che Gerä­te vor die Nase. Far­be wie Abfol­ge der indu­stri­ell gefer­tig­ten Gir­lan­den sind vom tibe­ti­schen Bud­dhis­mus fest­ge­legt: Weiß folgt auf Blau, die ste­hen für Luft und für Him­mel. Dann kommt Rot (Feu­er), Grün (Was­ser) und Gelb für Erde. Im fer­nen Bejing ver­wand­te der Genos­se Xi die Far­ben eben­falls, wes­halb sich ein Zitat nun­mehr auf etli­chen Pla­kat­wän­den und Stra­ßen­bö­gen fin­det. Kla­res Was­ser und grü­ne Ber­ge sei­en Ber­ge von Sil­ber und Gold, womit der Staats- und Par­tei­chef auf den Nut­zen von Umwelt und die Not­wen­dig­keit ihres Schut­zes hin­ge­wie­sen hatte.

Auch fin­den sich auf den Fähn­chen die Abbil­dun­gen von Göt­ter­vö­geln, Dra­chen, Tigern und Schnee­lö­wen, wel­che Weis­heit, Kraft, Glück und Zuver­sicht ver­kör­pern. Rings umher auf dem Pla­teau fin­den sich gesta­pel­te Stein­türm­chen. Aber nicht nur hier sol­len auf die­se Wei­se die guten Gei­ster gewür­digt und die bösen ver­trie­ben wer­den. Wie unter­schei­det man sie? Ich hal­te es mehr für tech­ni­sches Kön­nen, Stein auf Stein zu set­zen, bis es nicht mehr geht. Mika­do sozu­sa­gen, denn man soll nicht ein neu­es Türm­chen errich­ten, besagt die umlau­fen­de bud­dhi­sti­sche Weis­heit, son­dern bereits vor­han­de­ne fort­bau­en. Das hat, mei­ne ich, mehr mit Kunst, denn mit Glau­ben zu tun. Und außer­dem ist es ein­fa­cher, noch einen drauf­zu­set­zen, als von vorn zu beginnen.