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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Blumen für Rainer Klis

Der Schrift­stel­ler Rai­ner Klis starb 2017 mit 62 Jah­ren im säch­si­schen Hohen­stein-Ernst­thal, wo 175 Jah­re zuvor Karl May gebo­ren wor­den war. Der Älte­re erlang­te Welt­ruhm, der Jün­ge­re schrieb die bes­se­ren Tex­te, sprach­ver­liebt, wort­ge­wandt und fan­ta­sie­be­gabt fürs Schrul­li­ge und Gro­tes­ke. Bei­de inter­es­sier­ten sich für die Welt der India­ner, ein Begriff, den man zu ihrer Zeit noch nicht als ras­si­stisch brandmarkte.

Über sei­ne Rei­sen zu den histo­ri­schen Stät­ten Yel­low­s­tone, Woun­ded Knee, Litt­le Big­horn – Denk­ma­le des tra­gi­schen Ver­tei­di­gungs­kamp­fes der ame­ri­ka­ni­schen Urein­woh­ner gegen die über­mäch­ti­gen wei­ßen Ein­dring­lin­ge – und zu den Nach­fah­ren der gro­ßen Häupt­lin­ge erzählt Klis in den Büchern »Streif­zü­ge durchs India­ner­land« (2000) und »Im Land der Crow« (2002). In den Roma­nen »Der Abend des Ver­tre­ters« (2000), »Nacht der Kava­lie­re« (2003) und »Stein­zeit« (2007) schil­dert er iro­nisch-wit­zig Schick­sa­le von Men­schen, die sich, ein­ge­schnürt zwi­schen der Sehn­sucht nach dem Duft der gro­ßen, wei­ten Welt und den Tücken der Stun­de null, neu fin­den und erpro­ben muss­ten, als der Kapi­ta­lis­mus zurück­kam und den »real exi­stie­ren­den« Sozia­lis­mus in Ost-Deutsch­land vertrieb.

1983 debü­tiert Rai­ner Klis mit »Auf­stand der Leser«. Das Büch­lein ent­hält 85 kur­ze Erzäh­lun­gen. Fried­rich Albrecht, Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und Klis‘ Men­tor am Insti­tut für Lite­ra­tur »Johan­nes R. Becher« in Leip­zig, hat Klis‘ Erst­lings­werk bespro­chen. »Sel­ten«, sagt er, habe er »einen Autor erlebt, der eine üppi­ge Fan­ta­sie in solch eine gera­de­zu mathe­ma­ti­sche Prä­zi­si­on zu fas­sen such­te und mit sol­cher Beharr­lich­keit am Wort arbei­te­te.« Albrecht beschreibt den jun­gen Schrift­stel­ler so: »Sein manch­mal recht aben­teu­er­li­ches Habit, das er ohne jede Koket­te­rie trug: die­se groß­räu­mi­ge, zer­schlis­se­ne brau­ne Leder­jacke mit gleich­ge­ar­te­ter Müt­ze etwa, die­se Brot­beu­tel oder Hir­ten­tä­schel, aus denen er sei­ne Manu­skrip­te – er schrieb weit­zei­lig und mit stei­len akku­ra­ten Buch­sta­ben blaue Schul­zei­chen­hef­te voll – unter Bier­fla­schen und Ziga­ret­ten­schach­teln her­vor­kram­te, dazu sein nickel­be­brill­tes, von üppi­gem Haar­wuchs umwu­cher­tes Gesicht mit den blau­en Kin­der­au­gen. Kind­lich – naiv, arg­los auch sein Gemüt, kind­lich die extre­me Fähig­keit, sich zu freu­en und zu fürch­ten, merk­wür­dig gepaart mit Schär­fe des begriff­li­chen Den­kens und einer manch­mal schon rabu­li­sti­schen Logik.«

Von Anfang an erweist sich Klis als Mei­ster der klei­nen Form, mit Büchern wie »Hin­ter gro­ßen Män­nern« (1986) »Rück­kehr nach Deutsch­land« (1993) und »Mann ohne Pferd« (2004). In der DDR ver­öf­fent­licht Rai­ner Klis Kurz­ge­schich­ten im Maga­zin. Die Inhal­te ori­gi­nell, fes­selnd, gro­tesk: die Spra­che knapp, manch­mal bis zum Extrem ver­dich­tet. Nach der Wen­de schrieb er fein- und hin­ter­sin­nig-humo­ri­ge Sto­rys auch für die Sati­re­zeit­schrift Eulen­spie­gel, das Gan­ze stets wie aus Mar­mor gemei­ßelt, Schnur­ren, deren Fas­zi­na­ti­on sich zu ent­zie­hen, schwer­fällt. Sein Sujet: Außen­sei­ter, Glück­lo­se, Möch­te­gerns, selt­sa­me Käu­ze, Gebeu­tel­te, Betro­ge­ne, Scheiternde.

Klis steht auf der Sei­te sei­ner vom Pech ver­folg­ten Hel­den, auch wenn er sie zuwei­len bis­sig zu glos­sie­ren ver­steht. Er erzählt das Miss­ge­schick die­ser sym­pa­thi­schen Zeit­ge­nos­sen unter­halt­sam und mit einer Komik, die noch dem unglück­lich­sten Moment die Schwe­re nimmt. Als pas­sio­nier­ter Zigar­ren­rau­cher schreibt er das Buch »Rauch-Werk« (2012). Wiglaf Dro­ste nennt es »eine mit Klug­heit, Kennt­nis, Läs­sig­keit und Genuss gesät­tig­te Schrift, eine Fei­er des ein­zi­gen Tabaks der Welt, den zu rau­chen sich lohnt: des kuba­ni­schen«. Nach der Lek­tü­re zün­det sich selbst der Gesund­heits­fan eine Havan­na an.

Dem Mit­tel­deut­schen Ver­lag ist zu dan­ken dafür, dass er die letz­ten Arbei­ten Rai­ner Klis‘ nun post­hum als Buch her­aus­ge­bracht hat. Es ent­hält 33 amü­san­te Sto­rys, ein­ge­teilt in vier Kapi­tel: »Nip­pes für das Knast­re­gal«, »Start­klar für den Hor­ror«, »Wer redet, stirbt«, »Zahn um Zahn«. Im Mit­tel­punkt die Under­dogs: Pech­vö­gel, Arbeits­lo­se, lie­bens­wer­te Ver­lie­rer, denen ihre Nie­der­la­gen nicht die Zuver­sicht neh­men, Geschei­ter­te, die fro­hen Mutes wie­der begin­nen, Unter­le­ge­ne, die den Wid­rig­kei­ten trot­zen, wie Rudi, der auf der Buch­mes­se ver­geb­lich Ver­le­ger sucht und gro­ße Hoff­nun­gen setzt in den bru­ta­len kapi­ta­li­sti­schen Lite­ra­tur­be­trieb, der ihn und vie­le sei­ner Kol­le­gen zu erdrücken droht. Auch in den letz­ten rabia­ten, men­schen­freund­li­chen Geschich­ten sind sie alle ver­sam­melt, die Hel­den aus Klis‘ Büchern: Pfif­fi­ge Hin­ter­wäld­ler, Geschie­de­ne und Ver­las­se­ne, von Ver­wand­ten Ver­sto­ße­ne, Unver­stan­de­ne, die Aner­ken­nung erseh­nen, Gepie­sack­te und von so man­chem Zip­per­lein Geplag­te, Luf­ti­kus­se und Tau­send­sas­sas, Knackis, die Hum­boldt und Kolum­bus lesen, Son­der­lin­ge mit einer Men­ge Flau­sen im Kopf wie Kal­le, der Sto­rys schreibt mit dem Ziel, »dass sich der Leser erschie­ße« (»Blu­men für den Under­dog«). Über­all glück­los Han­deln­de, immer umweht von viel Ziga­ret­ten­qualm, Pfei­fen­ta­bak und Alko­hol­dunst. Und natür­lich Apa­chen, Coman­chen, Sioux, Cree, Che­yenne… Groß­ar­tig, wie Klis die glei­chen Figu­ren und Zuta­ten zu neu­en, fei­nen, ver­gnüg­li­chen Geschich­ten webt.

Klis trau­te Kri­ti­kern nicht, die nur Elo­gen auf Autoren schrei­ben und selbst noch Gutes fin­den, wo es »der geüb­te Leser nach wie­der­hol­ter Lek­tü­re nie­mals ver­mu­tet« hät­te (»Stoff des Jah­res«). Sprach­ver­zückt fügt Klis Wort an Wort, reiht Satz an Satz und formt so sei­ne hei­te­ren und erhei­tern­den Wer­ke. Doch des Lesers Auf­merk­sam­keit ist mit­un­ter stark gefor­dert. Er muss grü­beln, um den Sinn man­cher Sen­tenz, man­ches Puz­zle-Teils oder auch des Gan­zen zu erfas­sen. Nicht alles teilt sich ihm auf Anhieb mit, eini­ges auch nach län­ge­rem Nach­den­ken nicht. Ich gestand dem Autor – wir kann­ten uns gut, waren befreun­det –, man­che Pas­sa­ge sei­ner Tex­te nicht zu ver­ste­hen. Er ant­wor­te­te, ihm gin­ge es auch so.

Auch das letz­te Werk bestä­tigt es: Rai­ner Klis hat eine fun­keln­de Kurz­pro­sa von sel­te­ner Güte und Viel­falt hin­ter­las­sen, klei­ne Mei­ster­wer­ke in Inhalt und Stil: Kurz­ge­schich­te, Humo­res­ke, Sati­re, Gro­tes­ke, Fabel, Para­bel, Por­trät. Sie haben die Lite­ra­tur berei­chert. Und sie ent­hal­ten eine lebens­klu­ge, zeit­los gül­ti­ge, ermu­ti­gen­de Bot­schaft: Was auch immer sein mag, bleib locker und gib nie­mals auf!

Rai­ner Klis, Blu­men für den Under­dog. Rabia­te Geschich­ten, Mit­tel­deut­scher Ver­lag 2024, 156 S., 20 €.