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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Alle lie­ben Moskwa

Dass er eigent­lich nicht lebe, son­dern ins Leben ver­wickelt, ver­strickt sei, die­ser Gedan­ke beschleicht den ehe­ma­li­gen Maler und Dich­ter Kom­ja­gin, des­sen Name eine einst gän­gi­ge Abkür­zung für »Kom­mu­nis­mus« und eine Anspie­lung auf die Baba Jaga, die Hexe, ent­hält. Einst war er Maler und Dich­ter, jetzt ist er »Außer­mi­li­tä­ri­scher« und brummt als Miliz­hel­fer an Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­len Leu­ten für irgend­wel­che Ver­ge­hen saf­ti­ge Geld­stra­fen auf. Er lebt in ver­kom­me­nen Ver­hält­nis­sen, ist selbst ver­kom­men – und nicht ein­mal die Lie­be kann ihn ret­ten, auch nicht der blü­hen­de Sozia­lis­mus, der nach den jeweils gül­ti­gen Losun­gen des Genos­sen Sta­lin auf­ge­baut wird.

Der Roman »Die glück­li­che Moskwa« von Andrej Pla­to­now (1899-1951) führt in die Sowjet­uni­on der frü­hen drei­ßi­ger Jah­re und den Sta­li­nis­mus, die Haupt­stadt ist mit Bil­dern des Dik­ta­tors dra­piert: »Der lächeln­de, beschei­de­ne Sta­lin bewach­te auf Plät­zen und Stra­ßen alle offe­nen Wege der fri­schen, unbe­kann­ten sozia­li­sti­schen Welt …« – in der man gefäl­ligst glück­lich zu sein hat. Das zu sein, ver­sucht auch die Haupt­fi­gur des Romans, eine eben­falls ins Leben ver­wickel­te Voll­wai­se, der man, da sie gleich­sam eine Toch­ter der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on ist, den Namen Moskwa gab, dazu den volks­tüm­lich­sten Vaters­na­men Russ­lands, Iwa­now­na näm­lich, und als Nach­na­men Tschest­no­wa, her­ge­nom­men von честность = Ehr­lich­keit, честь = Ehre.

In die schö­ne jun­ge Frau sind alle Män­ner ver­liebt – und so liebt sie sich durch die Stadt, deren Namen sie auch trägt. Nicht ein­mal der Ver­lust eines Bei­nes scha­det dem Lieb­reiz Mosk­was, zumal der sozia­li­sti­sche Staat ihr eine bei­na­he voll­kom­men wir­ken­de Pro­the­se anmes­sen lässt.

Moskwa Iwa­now­nas Lebens­weg ist, dar­in ähnelt sie ande­ren Figu­ren Pla­to­nows, eine Wan­de­rung durch die Welt, und zwar bei ste­ter Ver­wun­de­rung über die­sel­be. Indem der Autor Moskwa trotz ihres nicht leich­ten Schick­sals auf der Son­nen­sei­te des Lebens sein lässt, ermög­licht er sich und sei­nen Lesern den Blick auf die Hin­ter­hö­fe und Schat­ten­sei­ten der Stalin’schen Epo­che. Mit immer neu­en Paro­len und Ideen wird die bal­di­ge Ankunft im Kom­mu­nis­mus, der all­ge­mei­nen Glück­se­lig­keit, beschworen.

Auf einem Fest jun­ger Wis­sen­schaft­ler lernt Moskwa vie­le berühm­te Leu­te ken­nen, einen Tech­ni­ker, einen Chir­ur­gen – die sie natür­lich alle gern mögen. Wäh­rend sich im Fest­saal die Tische unter erle­se­nen Spei­sen bie­gen, ster­ben in Russ­land und in der Ukrai­ne Mil­lio­nen Men­schen Hun­gers. Die Ursa­che der Hun­ger­ka­ta­stro­phe war die Zwangs­kol­lek­ti­vie­rung der Land­wirt­schaft, die man als »Klas­sen­kampf gegen die Kula­ken« ver­bräm­te, wäh­rend man die wah­ren Ursa­chen verschwieg.

Aber bei Pla­to­now bricht die Wirk­lich­keit sich Bahn: Einer der Prot­ago­ni­sten des Romans muss mit­an­se­hen, wie ein fast ver­hun­ger­ter Lebens­mit­tel­dieb bei­na­he tot­ge­schla­gen wird. Und die tra­gi­sche Wirk­lich­keit der Zeit, die Gegen­warts­ka­pi­tel des Romans spie­len sich etwa 1932 bis 1934 ab, bro­delt unter der glat­ten Ober­flä­che. Auf dem Hin­ter­hof bet­telt ein Gei­ger, ein Kind erkrankt lebens­ge­fähr­lich und stirbt, Moskwa befiehlt dem nichts­nut­zi­gen Kom­ja­gin zu ster­ben, weil er ihre hero­isch-vater­län­di­schen Visio­nen zynisch kom­men­tiert. Sie droht ihm, ihn mit ihrem Holz­bein zu zer­tram­peln, wenn er nicht kre­pie­re. Er sol­le kei­ne Zeit vom Staat steh­len und wenig­stens hel­den­haft sterben.

Der Wider­sinn erreicht noch nicht sei­nen Höhe­punkt mit Kom­ja­g­ins Ein­wil­li­gung und sei­nen Wor­ten: »Leben geht nicht. Bring mor­gen das Büch­lein mit den Straf­zet­teln ins Miliz­re­vier – für dich fal­len an die fünf Rubel Pro­zen­te ab, da kannst du dich nach mir ernäh­ren.« Denn gegen Mor­gen nimmt Moskwa den auf dem Fuß­bo­den kalt gewor­de­nen, in eine fast erwür­gen­de Decke gehüll­ten Mann wie­der in ihr Bett auf, obwohl sie ihn vor­her als »Leich­nam« beschimpft hat.

Was sich liest wie eine Lie­bes­pos­se und mit grim­mi­ger Hei­ter­keit geschrie­ben ist, das ent­hüllt auch den gro­tes­ken, gro­ben und sprach­los machen­den Hin­ter­grund des Lebens in einer sich mensch­lich gebär­den­den Dik­ta­tur, die das Leben sogar tech­nisch plan­bar machen will. Von 1931 bis 1934 galt Sta­lins Losung: »Die Tech­nik ent­schei­det alles.«

Einer der Män­ner, die Moskwa anbe­ten, ein Tech­ni­ker, nimmt zuletzt einen ande­ren Namen an und lebt bei einer ande­ren Frau: »Nach ein paar Tagen kam abends der Haus­mei­ster und for­der­te Matrjo­na Filip­pow­na auf, den neu­en Bewoh­ner anzu­mel­den, ent­we­der sol­le sie ihn weg­ja­gen oder hei­ra­ten, ganz wie sie wol­le, aber so zu leben, erlau­be ihr nie­mand. Der Haus­mei­ster gehör­te zu den ehe­mals Ent­ku­la­ki­sier­ten und hielt sich dar­um mit aller Genau­ig­keit an das Gesetz: Er hat­te selbst die staat­li­che Kraft erfah­ren und erlitten.«

Eine Geschich­te, Frag­ment geblie­ben wie vie­le gro­ße Tex­te der Welt­li­te­ra­tur, schil­dert eine Zeit, die gut neun­zig Jah­re zurück­liegt. Kann sie uns das Land erklä­ren, das nun durch sei­ne Obe­ren wie­der in Ver­ruf gera­ten ist? Ja, das kann sie, und wie alle bedeu­ten­den Tex­te Pla­to­nows, »Die Bau­gru­be« etwa, oder »Tsche­wen­gur«, zeigt die Schil­de­rung des wil­den und zärt­li­chen Lebens der Moskwa Tschest­no­wa, dass der Wahn­sinn der Staats­füh­rer, sie mögen Sta­lin oder anders hei­ßen, ein Land wie Russ­land an den Rand des Ruins trei­ben kann. Aber das, was Russ­land aus­macht, sei­ne Men­schen, sei­ne Spra­che, sei­ne Lite­ra­tur, sind nicht zu ruinieren.

Da es fast üblich gewor­den ist, dort nur das Teuf­li­sche und Böse zu suchen und zu fin­den, kann es nütz­lich sein, Bücher von Andrej Pla­to­now zu lesen, die zei­gen, war­um die­ses Land so ist, wie es ist.

Und es macht trotz des Inhalts, der einen manch­mal erbe­ben lässt, Freu­de, das Buch in Hän­den zu hal­ten. Der Suhr­kamp Ver­lag hat es wun­der­schön gestal­tet. Der gehalt­vol­le Anhang hilft, Pla­to­now und die erzähl­te Zeit bes­ser zu begrei­fen und auf heu­te anzuwenden.

Andrej Pla­to­now, Die glück­li­che Moskwa, Roman. Aus dem Rus­si­schen von Rena­te Resch­ke und Lola Debü­ser. Suhr­kamp Ver­lag 2019, 221 S., 24 €.

***

 Im Dienst eines psy­cho­ti­schen Tyrannen

»Roman aus einem längst ver­gan­ge­nen Leben« steht über dem Frag­ment »Der make­do­ni­sche Offi­zier« von Andrej Pla­to­now. Wes­sen Leben ist längst ver­gan­gen? Das der Haupt­fi­gur Firs? Das der Skla­vin Ophria, die er liebt? Oder das des irr­sin­ni­gen Dik­ta­tors Osni? Pla­to­now wuss­te gewiss recht gut, dass es mit dem erhoff­ten Ende von Des­po­ten so eine Sache ist. Das Endes des Königs Osni, man darf auch Sta­lin lesen, hat er jeden­falls nicht erlebt.

Die­ser Text ist eine der schärf­sten Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit dem Sta­li­nis­mus, die zu Leb­zei­ten des Dik­ta­tors geschrie­ben wur­den – erschei­nen konn­te er nicht. Der sowje­ti­sche Geheim­dienst NKWD trug 1935 in sei­ne Akten ein: »Der Schrift­stel­ler ANDREJ PLATONOW schreibt den nicht zur Ver­öf­fent­li­chung bestimm­ten Roman ›Ein Offi­zier Alex­an­ders von Make­do­ni­en‹ …« Dass der Roman nicht zu ver­öf­fent­li­chen sei, ist weni­ger ein Ver­dikt der Geheim­dienst­ler als die Ein­sicht des Autors, der wuss­te, dass jeder Text über Des­po­tis­mus eine Ana­lo­gie zur Sowjet­uni­on aus­lö­sen muss­te. Erst Mit­te der neun­zi­ger Jah­re erschien das Werk in Russland.

Obwohl die Geschich­te sich vor vie­len Jah­ren (zu Leb­zei­ten Alex­an­ders des Gro­ßen) und in schein­bar weit­ab lie­gen­den Gegen­den (im erfun­de­nen mit­tel­asia­ti­schen Land Kute­ma­lia) zuträgt, spie­gelt sie die Gegen­wart Pla­to­nows in den 1930er Jah­ren wider. Die Haupt­fi­gur Firs, ein make­do­ni­scher Offi­zier, lebt im gehei­men Auf­trag Alex­an­ders des Gro­ßen in Kute­ma­lia. Wie in Dik­ta­tu­ren üblich, wird auch der Aus­län­der eine Art Gefan­ge­ner und in die Dien­ste des Staa­tes ein­ge­spannt, er ist näm­lich »Hydrau­li­ker«, ein »Was­ser­ge­lehr­ter«. (Pla­to­now hat­te als Inge­nieur eben­falls mit Was­ser­tech­nik zu tun.) Er lernt die Skla­vin Ophria ken­nen, der man ihr Frau­sein ver­wehrt, indem man sie mit Bän­dern auf per­fi­de Wei­se ver­schnürt. Dabei ist nicht ein­mal Keusch­heit das Ziel, son­dern sie soll drin­gend benö­tig­te Sei­den­rau­pen »aus­tra­gen«. Dies dürf­te eine Anspie­lung auf von Sta­lin ange­ord­ne­te, über­aus zwei­fel­haf­te wis­sen­schaft­li­che Expe­ri­men­te sein. Ophria und Firs über­win­den ihre Angst in einer Lie­bes­nacht. Mit einer um einen Stab gewickel­ten Bot­schaft an Alex­an­der (der Inhalt betrifft die mög­li­che Erobe­rung Kute­ma­li­as) schickt Firs die Gelieb­te fort, in der Hoff­nung, dass sie über­le­ben werde.

Firs wird gleich am Mor­gen zum König Osni befoh­len, er sieht vor dem Palast die Men­schen, die sich vor Begei­ste­rung über ihren Herr­scher auf bru­tal­ste Wei­se bis zum Tode selbst oder gegen­sei­tig quä­len. Osni will im »psych­ia­tri­schen Staat« Kute­ma­lia nun­mehr das Para­dies ein­rich­ten, Firs soll dazu »süßes Was­ser« suchen. Ein­wän­de brüllt der Dik­ta­tor nie­der, wenn er will, gibt es eben süßes Was­ser und nicht Süß­was­ser. Die zur Arbeit ver­lang­ten hun­dert­tau­send Skla­ven geneh­migt der Tyrann – und viel­leicht wird Firs aus ihnen Auf­stän­di­sche machen. Denn er hat kei­ne Waf­fe, um den Dik­ta­tor zu töten, wozu ihn der Wil­le ankommt.

Höchst auf­schluss­reich ist der von Pla­to­now beschrie­be­ne Sprach­ge­brauch im Reich Kute­ma­lia, und man darf Par­al­le­len zur Gegen­wart her­stel­len: »Die Welt ent­springt mei­nem Wunsch, doch kehrt sie nicht in mich zurück. Geh, solan­ge mich nicht die Lust ankommt, dein Leben zu been­den«, so herrscht der psy­cho­pa­thi­sche Herr­scher den Make­do­ni­er an. Unter­ge­be­nen sind nur demuts­vol­le Erwi­de­run­gen gestat­tet, denn die Klug­heit Osnis kann nicht über­trof­fen wer­den, da sei jemand noch so intel­li­gent. Zum Bei­spiel Klu­si, der Lei­ter der »staat­li­chen Weis­heit«. Sein Phi­lo­so­phen­kol­le­gi­um gestal­tet die Neu­ro­sen Osnis in Geset­ze um. Firs begreift, dass Klu­si aus Todes­angst so schreibt, wie er schreibt.

Es ist lobens­wert, dass der Ver­lag im Anhang eine Erin­ne­rung Pla­to­nows an einen Besuch bei Maxim Gor­ki, das eben ist Klu­si (der Name asso­zi­iert ein Ein­ge­sperrt­sein, und auch Gor­ki ist ein Ein­ge­schlos­se­ner), bie­tet. Aber auch das »Ste­no­gramm des Werk­stattabends mit Andrej Pla­to­now im Gesamt­rus­si­schen Ver­band sowje­ti­scher Schrift­stel­ler am 1. Febru­ar 1932«. Immer wie­der bekann­te Pla­to­now an die­sem Abend, wie oft er »Schäd­li­ches« dach­te und schrieb. Das gehört auch zur Wirk­lich­keit einer Dik­ta­tur, und wir soll­ten sol­ches beden­ken, wenn wir schnell und von siche­rer War­te aus Russ­land und Rus­si­sches beurteilen.

Die Pla­to­now-Edi­tio­nen des Suhr­kamp Ver­la­ges set­zen auf her­vor­ra­gen­de Wei­se das fort, was mit den groß­ar­ti­gen Aus­ga­ben des Ber­li­ner Ver­la­ges Volk und Welt in den 1980er Jah­ren begon­nen wur­de, wie etwa »Tsche­wen­gur«, »Die Bau­gru­be« oder »Müll­wind«.

Andrej Pla­to­now, Der make­do­ni­sche Offi­zier. Aus dem Rus­si­schen von Micha­el Leetz, Suhr­kamp Ver­lag 2021, 140 S., 24 €