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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Humboldt und Gaza

Dies­mal wur­den kei­ne Bücher ver­brannt in den ersten Tagen des Mai. Aber es gab iro­ni­sche Par­al­le­len, eini­ge davon nur all­zu erschreckend!

Es war der 10. Mai in Deutsch­lands schreck­li­chem Jahr 1933, Hit­ler war kaum drei Mona­te an der Macht, als Stu­den­ten und Mit­ar­bei­ter die Uni­ver­si­täts­bi­blio­the­ken von ver­bo­te­nen Büchern leer­ten und sie, schät­zungs­wei­se 20.000 Bücher von über hun­dert Autoren, in die Flam­men eines rie­si­gen Feu­ers war­fen. Die mei­sten Autoren waren deutsch – jüdisch, athe­istisch, libe­ral, links, Ber­tolt Brecht, Anna Seg­hers, Sig­mund Freud und Magnus Hirsch­feld, aber auch eini­ge aus­län­di­sche Wer­ke wur­den in die Flam­men gewor­fen – Maxim Gor­ki, Ernest Heming­way, Jack Lon­don, John Dos Passos.

Ein­und­neun­zig Jah­re spä­ter, an die­sem 3. Mai, auf dem berühm­ten Ber­li­ner Bou­le­vard Unter den Lin­den und im Innen­hof der Uni­ver­si­tät, aus der damals die Bücher her­aus­ge­zerrt wor­den waren, wur­den eini­ge der heu­ti­gen Stu­den­ten, die mutig und ent­schlos­sen waren, das genaue Gegen­teil der Nazis von 1933, gewalt­sam in bereit­ste­hen­de Poli­zei­au­tos ver­frach­tet. Die Stu­den­ten von 1933 befür­wor­te­ten den Mord und berei­te­ten sich auf den Völ­ker­mord vor, der danach folg­te. Die Stu­den­ten des Jah­res 2024 pro­te­stie­ren gegen Mord und Völkermord.

Der Regie­ren­de Bür­ger­mei­ster, die Behör­den behaup­te­ten, es sei­en ver­bo­te­ne Hamas-Paro­len geru­fen wor­den, und haben damit das bru­ta­le Anle­gen von Hand­schel­len und die Ver­haf­tun­gen gerecht­fer­tigt. Es ist mög­lich, dass eini­ge ara­bi­sche Teil­neh­mer, die von den Nach­rich­ten und Bil­dern aus Gaza emo­tio­nal bewegt sind, die­se Gefüh­le ver­all­ge­mei­nert haben. Wer weiß das schon? Und ist das wichtig?

Die­se Grup­pe war nicht anti­se­mi­tisch; sie umfass­te auch jüdi­sche Stu­den­ten, eini­ge von ihnen israe­li­sche Exi­lan­ten. Der Geist die­ser ersten drei­hun­dert Demon­stran­ten rich­te­te sich, wie bei ähn­li­chen Sze­nen an ande­ren Hoch­schu­len und Uni­ver­si­tä­ten in Deutsch­land und ande­ren Län­dern – und so mutig über­all in den USA – gegen die Zer­stö­rung von Häu­sern, Moscheen, Kir­chen, Biblio­the­ken, Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten in Gaza, die schlim­mer ist als jede ande­re seit 1945, und gegen die Tötung von mehr als 35.000 Men­schen, die mei­sten von ihnen Frau­en und Kin­der, und die phy­si­sche und psy­chi­sche Ver­stüm­me­lung von so vie­len mehr.

Aber die­se Demon­stra­tio­nen, deren Zahl nun rapi­de ansteigt, sind mehr als das. Für vie­le sind sie auch Aus­druck des Pro­tests gegen die gesam­te Situa­ti­on, die sich in Deutsch­land, und nicht nur in Deutsch­land, abspielt. Hass liegt in der Luft, jahr­hun­der­te­al­te Über­le­gen­heits­ge­füh­le gegen­über »min­der­wer­ti­gen« Men­schen, wach­sen­der Druck, immer zer­stö­re­ri­sche­re Waf­fen zu bau­en und sich auf ihren Ein­satz vor­zu­be­rei­ten – natür­lich immer »in berech­tig­ter Selbst­ver­tei­di­gung«, ob in Gaza, in Litau­en, Est­land oder für Blocka­den gegen Men­schen an den Gren­zen in Texas, Ari­zo­na oder ent­lang der Mit­tel­meer­kü­ste. Und mit die­sem Hass wuchs auch der Druck zur Kon­for­mi­tät. Bloß nicht auf­mucken – oder sonst!

Sol­che Ten­den­zen wer­den immer stär­ker und zie­len auf die Erlan­gung der tota­len Macht ab, und das nicht nur bei den offen­sicht­lich rechts­extre­men Grup­pen! Denn vie­le der tat­säch­li­chen, akzep­tier­ten Füh­rer haben Ver­bin­dun­gen zu den mil­li­ar­den­schwe­ren Pro­fi­teu­ren, die scharf sind auf neue Kon­flik­te und mehr Vil­len, Jets und Yachten.

Es ist der neue Geist des Pro­tests gegen die­se Ent­wick­lun­gen, die Suche nach neu­en Ant­wor­ten, der die herr­schen­den Krei­se beun­ru­higt, ja äng­stigt. Des­halb schicken sie die Poli­zei in die Hind’s Hall oder in den Innen­hof der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät. Manch­mal set­zen sie sich durch und kön­nen den Wider­stand bre­chen, manch­mal kön­nen loka­le Sie­ge errun­gen wer­den. Aber es ist die lang erwar­te­te Bewe­gung, die zählt, und ihr Auf­ein­an­der­tref­fen mit eben­so muti­gen Arbei­tern in Auto­mo­bil­wer­ken, bei Walm­art oder Star­bucks, oder in Zen­tral­afri­ka und Zentralamerika.

Die Iro­nie des Gan­zen ist, dass der Schau­platz der Demon­stra­ti­on am Frei­tag (3. Mai) der Innen­hof der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät im Osten Ber­lins war, die die­sen Namen kurz nach der Nie­der­la­ge der Nazis und der Befrei­ung Ber­lins durch die Rote Armee am 8. Mai 1945 erhielt. Auf die heu­ti­gen Kämp­fer blickt die Sta­tue Alex­an­der von Hum­boldts, eines gro­ßen Wis­sen­schaft­lers und Ent­deckers, der sich in den 1820er Jah­ren lei­den­schaft­lich gegen die Skla­ve­rei, die er in Latein­ame­ri­ka und den USA erleb­te, und gegen Unter­drückung über­all ein­setz­te. Ein wür­di­ger Mäzen.

Und im Inne­ren des statt­li­chen Gebäu­des (in dem einst Albert Ein­stein lehr­te), und trotz der vie­len Ver­än­de­run­gen, die der Cha­rak­ter der Uni­ver­si­tät im Lau­fe der Jah­re erfah­ren hat, ist ein Satz in gol­de­nen Let­tern über einer brei­ten zen­tra­len Trep­pe erhal­ten geblie­ben. Er stammt von einem ande­ren berühm­ten Mann, der hier stu­diert hat, und der eben­falls als sehr rele­vant ange­se­hen wer­den könn­te. Der Autor war kein ande­rer als Karl Marx. Die Wor­te lau­te­ten: »Die Phi­lo­so­phen haben die Welt nur ver­schie­den inter­pre­tiert; es kommt aber dar­auf an, sie zu verändern.«

Viel­leicht ist es die Angst vor der Wie­der­be­le­bung eines sol­chen Gei­stes, die den Bür­ger­mei­ster und vie­le Poli­ti­ker so wütend und besorgt gemacht und die Poli­zei auf den Plan geru­fen hat. Hof­fen wir, dass die bes­se­ren Ana­lo­gien Vor­bil­der sind, nicht die beängstigenden!

Vic­tor Gross­man (96), gebo­ren als Ste­phen Wechs­ler am 11. März 1928 in New York City, ist ein US-ame­ri­ka­ni­scher Publi­zist, der in Ber­lin lebt. Sei­ne jüdi­schen Groß­el­tern stamm­ten aus Odes­sa und aus dem Bal­ti­kum. In der McCar­thy-Ära als Kom­mu­nist mit Haft bedroht, floh er über Öster­reich in die DDR, wobei er schwim­mend die Donau durch­quer­te. 1954 bis 1958 stu­dier­te er Jour­na­li­stik an der Fakul­tät für Jour­na­li­stik der Karl-Marx-Uni­ver­si­tät Leip­zig. Wir haben uns aus aktu­el­lem Anlass ent­schlos­sen, die­sen Text abzu­drucken, der auf einer Rei­he US-ame­ri­ka­ni­scher Web­sites im Ori­gi­nal und in der Zei­tung vum Lët­ze­buer­ger Vol­lek publi­ziert wur­de. Inzwi­schen haben fast 100 Lehr­kräf­te von Ber­li­ner Uni­ver­si­tä­ten zusam­men mit mehr als 150 Leh­ren­den ande­rer Uni­ver­si­tä­ten den Ruf nach der Poli­zei und ihren Ein­satz kri­ti­siert. Die Über­set­zung des Tex­tes aus dem Eng­li­schen besorg­te Uli Brock­mey­er.