Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

DDR-Bashing als Selbstbetrug

Die Histo­ri­ke­rin Kat­ja Hoyer erhält für ihr Buch über »ihre« DDR viel Aner­ken­nung, ern­tet aber auch hef­ti­ge Kri­tik. Am 11. Mai schrieb der Histo­ri­ker und ehe­ma­li­ge DDR-Bür­ger Ilko-Sascha Kowal­c­zuk, kein »unbe­schrie­be­nes Blatt« als Mit­glied der Regie­rungs­kom­mis­si­on »30 Jah­re Revo­lu­ti­on und Deut­sche Ein­heit«, im Frei­tag eine Rezen­si­on, gefolgt von meh­re­ren Bei­trä­gen zum The­ma, unter ande­rem ein Inter­view mit der Autorin. An der Debat­te fällt auf, dass posi­ti­ve Wor­te über die DDR immer noch ver­ba­le Amok­läu­fe aus­lö­sen – oft als aka­de­mi­sche Vari­an­te des Wen­de­hals-Syn­droms, das man­chen DDR-Bür­ge­rIn­nen nach der Über­nah­me des öst­li­chen Teils Deutsch­lands durch den west­li­chen zu wei­cher Lan­dung ver­half. Ihren ver­bis­se­nen Ein­las­sun­gen gemäß war die­se Ost­zo­nen-Dik­ta­tur eine Qua­si-Höl­le für die Men­schen, die dort leben muss­ten, und die von Hel­mut Kohl 1989 ver­spro­che­nen blü­hen­den Land­schaf­ten ein Segen für sie – auch wenn sie nie geblüht haben. Eini­gen Unver­bes­ser­li­chen wie Frau Hoyer müs­sen des­halb die Levi­ten gele­sen werden.

Oder war es viel­leicht doch ein wenig anders? Ja, lau­tet mei­ne Ant­wort, zwar nicht als »DDR-Exper­te«, aber als Kind jenes Staa­tes, über den Kowal­c­zuk schreibt: »Die Autorin hät­te ja mal auf die Idee kom­men kön­nen, zu fra­gen, was zum Bei­spiel poli­ti­sche Pro­pa­gan­da in den Schu­len, den Medi­en, an der Uni­ver­si­tät, bei der Armee, wo auch immer – Mil­lio­nen waren davon tag­täg­lich betrof­fen – men­tal, kul­tu­rell, intel­lek­tu­ell anrich­te­ten.«. Ihm ent­geht, dass sie mit ihrem Buch die­se Fra­ge gestellt und Ant­wor­ten gege­ben hat, die mei­ner ähneln: Eine glück­li­che Kind­heit in jenem ande­ren Deutsch­land, auch bei und mit den Jun­gen Pio­nie­ren, hat mich zu einem Men­schen geformt, der im demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus, trotz sei­ner miss­lun­ge­nen »rea­len« Vari­an­te, eine der weni­gen Hoff­nun­gen für die Mensch­heit sieht, bis zum heu­ti­gen Tag: Die Pro­pa­gan­da, die ich in der Schu­le erlebt habe, hat mich davon über­zeugt, dass »men­tal, kul­tu­rell, intel­lek­tu­ell« der Sinn des Lebens – ich bin jetzt 80 Jah­re alt – dar­in besteht, für eine sozi­al gerech­te und fried­li­che Gesell­schaft zu kämp­fen, das Wohl­erge­hen der Mit­men­schen nicht weni­ger wich­tig zu neh­men, als das eige­ne. Leh­re­rIn­nen, die für den Auf­bau des Sozia­lis­mus mit so viel Enthu­si­as­mus leb­ten, dass ihre Schü­le­rIn­nen gera­de­zu ange­steckt wur­den, haben mei­ne ersten Schul­jah­re und in gewis­ser Wei­se mein gan­zes Leben geprägt.

Aus eige­ner Erfah­rung kann ich nur bis zum Jah­re 1958 berich­ten. In den Jahr­zehn­ten danach habe ich bei Besu­chen in mei­nem Hei­mat­ort in Meck­len­burg-Vor­pom­mern und auf dem Darß oft mit mei­nen Freun­den und ehe­ma­li­gen Leh­re­rIn­nen dis­ku­tiert und erfah­ren, wie ihre Hoff­nun­gen auf eine sozia­li­sti­sche Gesell­schaft nicht etwa schwan­den, son­dern dif­fe­ren­zier­ter und kri­ti­scher wur­de. Nicht der Sta­si-Ver­tre­ter im Dorf, mit dem Sie sich duz­ten und des­sen Auf­trag ihnen bewusst war, mach­te sie wütend, son­dern Rei­se­be­schrän­kun­gen als Ergeb­nis eines tie­fen Miss­trau­ens der SED-Funk­tio­nä­re, für das ihnen jedes Ver­ständ­nis fehl­te: »War­um trau­en die da oben uns nicht, wir wol­len die Welt ken­nen­ler­nen, ernst genom­men wer­den, der Westen ist für uns kei­ne Alter­na­ti­ve, hier ist unser sozia­li­sti­sches Zuhau­se, hier leben wir und hier wol­len wir unse­re Zukunft aufbauen.«

Der System­wech­sel wur­de zur dra­ma­ti­schen Wen­de in mei­nem Leben: »Sozia­le Käl­te« ist als Gefühl seit­her nie ver­schwun­den, in mir und um mich her­um. Weil ich mich men­tal, kul­tu­rell und intel­lek­tu­ell kom­pro­miss­los gegen Aus­beu­tung und Unter­drückung hier und über­all ein­setz­te, brem­ste ein Berufs­ver­bot mei­ne beruf­li­chen Per­spek­ti­ven als Hoch­schul­leh­rer aus. »Nir­gend­wo ist bei ihr von Ver­bo­ten zu lesen, von Ver­bo­ten, mehr und ande­res wis­sen zu wol­len als das, was die Herr­schen­den vor­ga­ben.« Kowal­c­zuk bleibt im Nebel der Ver­klä­rung des angeb­lich frei­heit­li­chen Westens ver­bor­gen, dass dort Ver­bo­te von Wis­sen und Han­deln, das für die »Herr­schen­den« uner­wünscht war, in Aus­gren­zung, in Exkom­mu­ni­ka­ti­on und in exi­sten­zi­el­len Ruin umschlu­gen, gerecht­fer­tigt mit der angeb­li­chen Siche­rung demo­kra­ti­scher Fun­da­men­te, durch­ge­setzt mit anti-demo­kra­ti­schen Mit­teln. Nicht die Sta­si, son­dern der west­deut­sche Ver­fas­sungs­schutz lie­fer­te den Kul­tus­mi­ni­ste­ri­en die Akte, auf deren Basis sie ent­schie­den, dass ich nicht auf dem Boden der Frei­heit­lich-Demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung ste­he. Nein, kei­ne Dik­ta­tur griff in mein Leben – wie in das Tau­sen­der Ande­rer – ein, son­dern ein obrig­keits­staat­lich stra­fen­des System, des­sen Ver­tre­te­rIn­nen Kri­tik an ihrer Agen­da mit einem fall­beil­ar­ti­gen Radi­ka­len­er­lass aus­zu­mer­zen ver­such­ten – und zeit­gleich mit mora­linge­sät­tig­ter Selbst­ge­rech­tig­keit die Unta­ten von SED und Sta­si anklagten.

Wer der Autorin vor­wirft, »von Ideo­lo­gie ist nichts zu lesen«, begreift nicht, dass ihr Ideo­lo­gie­be­griff mit der ideo­lo­gi­schen Abwick­lung der DDR auf­räumt: mit dem Bild, das vie­len Men­schen im Westen über die im Osten pro­pa­gan­di­stisch oktroy­iert wur­de. Ein nicht nur fal­sches, son­dern ein­di­men­sio­na­les Bewusst­sein, das, weit über den ver­eng­ten Blick auf die DDR hin­aus, längst durch uner­müd­li­che Pro­pa­gan­da für zyni­sche poli­ti­sche Nar­ra­ti­ve zu einer all­ge­gen­wär­ti­gen Lebens­lü­ge gewor­den ist: Men­schen­rech­te als angeb­li­che Hand­lungs­ma­xi­me, die zeit­gleich im Mit­tel­meer ertränkt und an der euro­päi­schen Ost­gren­ze in Sta­chel­draht­zäu­nen zer­fetzt wer­den, Wohl­stand als frag­lo­ser Anspruch, der durch welt­wei­te Aus­beu­tung kolo­nia­li­stisch-ras­si­stisch abge­fe­dert wird, und wirt­schaft­li­ches Wachs­tum, des­sen über­se­he­ne und miss­ach­te­te Opfer im glo­ba­len Süden Lebens­grund­la­gen und Leben verlieren.

Vol­ler gän­gi­ger Vor­ur­tei­le gegen die Histo­ri­ke­rin Hoyer und gegen­über der DDR in der Viel­falt ihrer Facet­ten ist Kowal­c­zuk über­zeugt: »Frei­heit als Sehn­suchts­ort kommt bei ihr nicht vor« – eine die­ser Phra­sen, die in sich zusam­men­fal­len, wenn sie sach­lich ange­piekst wer­den: Vie­le DDR-Bür­ge­rIn­nen wuss­ten, Sta­si hin, SED her, dass die kapi­ta­li­sti­sche Frei­heit, zwi­schen zehn Autos oder fünf­zehn Wach­mit­teln wäh­len zu kön­nen, kei­ne Sehn­sucht stillt, son­dern Bedürf­nis­se und Wün­sche Waren­pro­du­zen­ten ledig­lich als Durch­lauf­er­hit­zer für ihren eige­nen pro­fi­ta­blen Nut­zen die­nen. Nein, Hoyer ent­wirft kein Bild eines wider­spruchs­frei­en Lebens – wohl wis­send, dass einem sol­chen Ver­spre­chen nicht zu trau­en ist, wie Mil­lio­nen Men­schen, die von Armut in einer angeb­lich glück­lich machen­den Waren-Welt geplagt sind, bezeu­gen kön­nen. Nein, ein Füll­horn war der All­tag in der DDR sicher­lich nicht, in der der Autorin angeb­lich »kei­ne SED, kei­ne Ideo­lo­gie, kein system­spren­gen­der Wider­spruch« auf­ge­fal­len sind: Er war vol­ler Wider­sprü­che, aber für die mei­sten und mei­stens lebens- und lie­bens­wert – und sie träum­ten eher nicht von der »frei­en Welt« jen­seits des Eiser­nen Vor­hangs, son­dern von klei­nen Ver­bes­se­run­gen bei der All­tags­be­wäl­ti­gung – und vie­le durch­aus vom gro­ßen sozia­li­sti­schen Wurf in die Zukunft.

»Die flä­chen­decken­de SED-Herr­schaft« war sicher­lich oft ner­vig, aber Dia­lek­tik war für vie­le Men­schen in der DDR nicht nur ein theo­re­ti­scher Begriff, son­dern eine prak­ti­sche Metho­de: Druck der Par­tei und Bor­niert­heit vie­ler Funk­tio­nä­re mach­ten erfin­de­risch, sich im All­tag den­noch zufrie­den und genuss­voll ein­zu­rich­ten, war gera­de­zu Volks­sport. Die mei­sten von ihnen waren, da hat Kowal­c­zuk auch mal Recht, »weder System­trä­ger noch nen­nens­wer­te System­geg­ner, son­dern nur eine gro­ße Mas­se eher wil­lig mit­ma­chen­der Men­schen, die sich ein­ge­rich­tet hat­ten« – und die frei von exi­sten­zi­el­len Sor­gen waren, weil ihnen kei­ne Tafel, kei­ne Obdach­lo­sig­keit und kei­ne Alters­ar­mut droh­ten. Es war ein exi­sten­zi­ell gesi­cher­tes Mit­ma­chen, dem erspart blieb, was sich im Westen von Jahr zu Jahr stär­ker bemerk­bar macht: Resi­gna­ti­on eines immer grö­ße­ren Teils der Men­schen, Zunah­me psy­chi­scher Erkran­kun­gen, mate­ri­el­le und kul­tu­rel­le Armut von Mil­lio­nen Kin­dern ohne Lebens-, aber mit Elendsper­spek­ti­ve. Dass Hoyer »an kei­ner Stel­le nach den Fol­gen der Mau­er fragt«, ist durch­aus nicht abwe­gig, denn der Mau­er­bau mag rück­blickend für töricht gehal­ten wer­den, auf die Welt­la­ge 1961 bezo­gen aber durch­aus sei­nen histo­ri­schen Sinn haben. Ganz abge­se­hen davon, dass die aktu­el­len Ereig­nis­se an der Gren­ze zwi­schen Mexi­ko und den USA, in Mel­il­la, in Polen und in Kroa­ti­en, in Grie­chen­land und in Isra­el, es gera­de­zu ver­bie­ten soll­ten, mit dem mora­li­schen Zei­ge­fin­ger auf die DDR und ihre Mau­er zu zei­gen, um sich nicht selbst in bigot­ter Igno­ranz zu verfangen.

Zum per­fek­ten Ver­riss gehört die Vor­hal­tung, dass Hoyer »es auch mit den histo­ri­schen Fak­ten nicht son­der­lich genau« nimmt, denn ihre »Dar­stel­lung des 17. Juni 1953 ist pein­lich. Hier fei­ert die alte SED-The­se fröh­lich Urständ, der Westen habe sich ›ein­ge­mischt‹, der RIAS habe die Ereig­nis­se befeu­ert.« Der Kon­junk­tiv sug­ge­riert, dass die histo­ri­schen Fak­ten der Dar­stel­lung der Autorin wider­spre­chen – und wird selbst zum Fake. Das Aus­maß, in dem »der Westen« sich ein­ge­mischt und RIAS gehetzt und »befeu­ert« hat, ist hin­rei­chend doku­men­tiert. Die­ser emo­tio­nal-ver­eng­ten Linie gegen Hoyer fol­gend liegt es nahe, »empö­rend« zu fin­den, wie sie »die ›SED-Grün­dung‹, die Zwangs­ver­ei­ni­gung von KPD und SPD behan­delt«. Die Pro­to­kol­le der Par­tei­ta­ge soll­te ein­se­hen, wer sich ein Urteil über den Zwang bil­den will, der dort statt­ge­fun­den haben mag, den­noch viel­leicht ein wich­ti­ger Bau­stein für die Grün­dung eines sozia­li­sti­schen Staa­tes war. Drängt sich das Ver­bot der KPD in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land im Jah­re 1956 in die­sem Zusam­men­hang nicht gera­de­zu asso­zia­tiv auf? Denn es legt nahe, dass schon kurz nach der Grün­dung der BRD dort demo­kra­tie­fer­ne Manö­ver gegen die noch jun­ge Demo­kra­tie statt­fan­den: Men­schen und eine Orga­ni­sa­ti­on, deren Mit­glie­der über­wie­gend Anti­fa­schi­sten waren, wur­den aus dem gesell­schaft­li­chen Ver­kehr gezo­gen, wäh­rend Alt-Faschi­sten nicht nur über­leb­ten, son­dern in man­chen gesell­schaft­li­chen Berei­chen dominierten.

»Es war doch gar nicht so übel in der klei­nen, fei­nen DDR« – die­se Kat­ja Hoyer iro­nisch unter­stell­te Schluss­fol­ge­rung ent­hält eine nicht nur nost­al­gi­sche, son­dern eine lehr­rei­che Wahr­heit in dop­pel­tem Sin­ne, die Kowal­c­zuk ver­schlos­sen bleibt, weil er auf der Kla­via­tur sei­ner Vor­ur­tei­le seit 1989 per­fekt zu spie­len gelernt hat: Es war nicht nur »nicht so übel«, son­dern trotz SED und Sta­si war das Leben in der DDR leben­dig, pul­sie­rend, pro­duk­tiv und krea­tiv – und des­halb muss­te mög­lichst jede mate­ri­el­le, jede kul­tu­rel­le, jede wis­sen­schaft­li­che, jede gesell­schaft­lich irgend­wie ein­drück­li­che Facet­te im Zuge der Anne­xi­on durch die BRD platt­ge­macht wer­den. Wen­de­zeit halt, eine fast laut­lo­se Ver­nich­tung, auch eine Art Krieg.