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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Märchenstunde

Jetzt aber mal was Schö­nes. Mär­chen sind was Schö­nes, oder? Also, ich mei­ne die rich­ti­gen Mär­chen, die mit »Es war ein­mal« am Anfang und mit »und wenn sie nicht gestor­ben sind« am Schluss. Die, die man im Her­zen für wahr hält, aber an die man nicht glaubt. Weil jeder Erwach­se­ne weiß, dass es Zau­be­rer und Feen und spre­chen­de Tie­re nicht wirk­lich gibt. Die ande­ren Mär­chen, die erzählt wer­den, damit die Zuhö­ren­den sie glau­ben sol­len, hei­ßen ja auch nicht Mär­chen. Wenn zum Bei­spiel mei­ne Enke­lin mich mit ihren gro­ßen, unschul­di­gen Augen ansieht und sagt: »Omi, eine böse Fee hat die Tas­se kaputt gemacht«, dann weiß ich: Das ist kein Mär­chen, das ist eine phan­ta­sie­vol­le Aus­re­de. Und wenn der Papst oder ein ande­rer Kut­ten­trä­ger mir erzählt, der hei­li­ge Geist habe mit der Jung­frau Maria einen Sohn Got­tes gezeugt, dann ist das auch kein Mär­chen, dann ist das Religion.

Und dann gibt es noch die poli­ti­schen Mär­chen, die Wahl­ver­spre­chen und Sonntagsreden.

Die glaubt sowie­so nie­mand mehr. Oder viel­leicht doch? Wir las­sen uns doch so ger­ne beru­hi­gen. Und sind dann oft bit­ter ent­täuscht! Aber weil wir alle Mär­chen lie­ben, erzäh­le ich Ihnen jetzt selbst ein paar Mär­chen. Also:

Erstes Mär­chen:
Es war ein­mal ein rei­ches Land. Das war so reich und lie­bens­wert, dass vie­le Men­schen aus ande­ren, weni­ger lie­bens­wer­ten Län­dern auch dar­in leben woll­ten. Die groß­her­zi­gen Men­schen die­ses Lan­des hie­ßen die Frem­den will­kom­men. Sie freu­ten sich dar­an, dass ihr Land so beliebt war in der Welt. Sie gaben den Frem­den Arbeit und ein Dach über dem Kopf und fei­er­ten mit ihnen im Bier­gar­ten ihre Will­kom­mens­kul­tur. Und wenn sie nicht gestor­ben sind, dann leben sei noch heu­te fried­lich und freund­lich mit den Frem­den. Wäh­rend sich die häss­li­chen Frem­den­has­ser vol­ler Scham in ihren Kel­lern ver­kro­chen haben. Und für immer schweigen.
 
Zwei­tes Märchen:
Es war ein­mal ein gro­ßes Reich, dem gehör­te die hal­be Welt, und an der ande­ren Hälf­te hat­te es auch noch Antei­le. Es nann­te sich das »Reich der Frei­heit«, denn in die­sem Reich hat­ten alle die Frei­heit, dar­an zu glau­ben, dass sie vom Tel­ler­wä­scher zum Mil­lio­när wer­den könn­ten. Und wer nicht dar­an glaub­te, war eben selbst schuld, wenn er kein Mil­lio­när wur­de. Außer­dem hat­te das »Reich der Frei­heit« alle Frei­hei­ten, ande­re Rei­che zu über­fal­len und sie – zum Bei­spiel – in die Stein­zeit zu bombardieren.

Es gab aber noch ein ande­res gro­ßes Reich, das wur­de das »Reich des Bösen« genannt. Denn was immer das Reich des Bösen tat, war böse. Das mach­te aber nichts, denn das Gute braucht schließ­lich das Böse, um zu bewei­sen, dass es das Gute ist. Aber als das Reich der Frei­heit das Reich des Bösen immer wei­ter ein­gren­zen woll­te, über­schritt das Reich des Bösen sei­ne Gren­ze und ver­letz­te das Reich der Frei­heit in sei­ner All­macht und Skru­pel­lo­sig­keit. Und alle ande­ren Län­der empör­ten sich, dass das Reich des Bösen zu tun wag­te, was das Reich der Frei­heit bis dahin immer selbst getan hat­te. Nie­mand woll­te ver­däch­tigt wer­den, zum Reich des Bösen zu gehö­ren. Das Reich der Frei­heit fand wei­te­re Ver­bün­de­te – und wenn sie nicht gestor­ben sind, dann kämp­fen sie bis zum Unter­gang aller Reiche.

Drit­tes Märchen:
Es war ein­mal ein gro­ßer Wohl­tä­ter. Und alles, was er tat, war zum Woh­le sei­ner Mit­men­schen. So wur­de der Wohl­tä­ter uner­mess­lich reich. Durch sei­ne Wohl­ta­ten! Er hat­te für Mil­lio­nen von Men­schen ein Fen­ster in die Welt der Com­pu­ter kon­stru­iert und es für Mil­li­ar­den Dol­lar an sie ver­kauft. Und weil dies in Ame­ri­ka geschah, nann­te der Wohl­tä­ter die­se Fen­ster Win­dows, und er hat­te eine gro­ße Freu­de dar­an. Und die Men­schen hat­ten auch eine gro­ße Freu­de dar­an. Nun tauch­ten aber böse Fein­de auf. Die nann­te man Viren. Sie dran­gen in die Fen­ster ein, zer­stör­ten die Com­pu­ter – und die Men­schen waren sau­er. Da erklär­te der Wohl­tä­ter die Viren zu sei­nen per­sön­li­chen Fein­den und bezahl­te vie­le Wis­sen­schaft­ler, damit sie Viren­schutz­pro­gram­me erfan­den. Und die Men­schen in der gan­zen Welt kauf­ten die Viren­schutz­pro­gram­me für Mil­li­ar­den Dol­lar und instal­lier­ten sie auf ihrem Com­pu­ter und spä­ter auch bei sich selbst. Das nann­te man »imp­fen«. Und wenn sie nicht gestor­ben sind, dann imp­fen sie jedes hal­be Jahr und machen den Wohl­tä­ter immer uner­mess­li­cher reich.

Vier­tes Märchen:
Es war ein­mal ein klei­nes Land. Dar­in gehör­te alles allen: Der Boden, die Häu­ser, die Fabri­ken. Nie­mand hat­te ein Pri­vat­ei­gen­tum. Wer kein Pri­vat­ei­gen­tum hat, der ist aber auch kein Räu­ber. Denn »pri­vat« kommt aus dem Latei­ni­schen und heißt u. a. geraubt. Pri­vat-Eigen­tum heißt also: Geraub­tes Eigen­tum. Und wo es das gibt, da herr­schen die Räu­ber. Und wo es kein Pri­vat­ei­gen­tum gibt, da herrscht ein Unrechts­staat. Sagen die Räu­ber. Und wenn die Räu­ber nicht gestor­ben sind, dann leben sie noch heu­te und genie­ßen die Früch­te ihres Raubes.

Letz­tes Märchen:
Es war ein­mal ein Grund­ge­setz. In dem hieß es in Arti­kel 14: »Eigen­tum ver­pflich­tet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Woh­le der All­ge­mein­heit die­nen.« Ja, das war ein­mal for­mu­liert wor­den nach dem Gro­ßen Krieg. Als die Men­schen noch wuss­ten, wohin der Kapi­ta­lis­mus trei­ben kann, wenn er nicht gezü­gelt wird. Heu­te erle­ben wir, wohin er treibt, wenn er nicht gezü­gelt wird. Und wenn das Grund­ge­setz noch nicht gestor­ben ist, dann soll­ten wir es end­lich anwenden!