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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Recht auf Sterben, Recht auf Leben

Der Deut­sche Bun­des­tag hat ver­sucht, vor der Som­mer­pau­se ein neu­es Straf­ge­setz über die Ster­be­hil­fe zu ver­ab­schie­den. Gleich zwei inter­frak­tio­nel­le Gesetz­ent­wür­fe wur­den ein­ge­bracht, kei­ner fand eine Mehr­heit. Und das ist gut so.

Bis 2015 gab es gar kein Gesetz, das den soge­nann­ten assi­stier­ten Sui­zid im Straf­recht regel­te, dann sah der Gesetz­ge­ber Hand­lungs­be­darf und schuf mit dem Para­gra­fen 217 (»Geschäfts­mä­ßi­ge För­de­rung der Selbst­tö­tung«) ein Gesetz, das assi­stier­te Ster­be­hil­fe unter Stra­fe stell­te, wenn sie von Orga­ni­sa­tio­nen oder Ärz­ten wie­der­holt ermög­licht wur­de: »Wer in der Absicht, die Selbst­tö­tung eines ande­ren zu för­dern, die­sem hier­zu geschäfts­mä­ßig die Gele­gen­heit gewährt, ver­schafft oder ver­mit­telt, wird mit Frei­heits­stra­fe bis zu drei Jah­ren oder mit Geld­stra­fe bestraft.«

Das Gesetz rich­te­te sich gegen Ster­be­hil­fe­or­ga­ni­sa­tio­nen wie Digni­tas, die Deut­sche Gesell­schaft für huma­nes Ster­ben, die Ster­be­hil­fe Deutsch­land, den Schwei­zer Ver­ein Ster­be­hil­fe und nicht zuletzt den deut­schen Arzt Uwe-Chri­sti­an Arnold (1944-2019), die – nach aus­führ­li­cher Bera­tung und Dia­gno­stik – Men­schen, die beschlos­sen hat­ten zu gehen, einen Weg ohne wür­de­lo­ses Kre­pie­ren man­gels erreich­ba­rer Mit­tel zu berei­ten such­ten. Fünf Jah­re spä­ter kipp­te das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt den Para­gra­fen 217, den man­che für eine Art Lex Arnold hiel­ten. Uwe-Chri­sti­an Arnold, der damals als »Deutsch­lands bekann­te­ster Ster­be­hel­fer« galt und 2014 gemein­sam mit Micha­el Schmidt-Salo­mon im Rowohlt Ver­lag das Buch Letz­te Hil­fe. Ein Plä­doy­er für das selbst­be­stimm­te Ster­ben ver­öf­fent­licht hat­te, war einer der Beschwer­de­füh­rer. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt gab dem Gesetz­ge­ber auf, dass ein neu­es Gesetz den frei­en und auto­no­men Wil­len der Men­schen zu beach­ten habe, die ihr Leben been­den wol­len. Seit­dem gibt es den § 217 nicht mehr, er ist nichtig.

»Geschäfts­mä­ßig«, das klang noch nie gut fürs Publi­kum, irgend­wie nach Pro­fi­teu­ren des Todes und nicht nach pro­fes­sio­nel­ler Betreu­ung. Juri­sten mei­nen damit aber nur die Wie­der­ho­lung, die Pro­fes­sio­na­li­sie­rung, nicht die »erwerbs­mä­ßi­ge« Ster­be­hil­fe als Geschäfts­mo­dell. Trotz­dem wur­de auch in der Debat­te am 6. Juli wie­der mit die­sem Vor­ur­teil gespielt. Die Für­spre­cher der kon­kur­rie­ren­den Ent­wür­fe – ein »kon­ser­va­ti­ver« der Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten um Lars Castel­luc­ci (SPD) /​ Ans­gar Heve­ling (CDU) und ein »libe­ra­ler« der Grup­pe um Kat­rin Hel­ling-Plahr (FDP) /​ Rena­te Kün­ast (Grü­ne) – ein­te der Impuls, dass es nur die Par­la­men­ta­ri­er sind, die die Regeln dafür set­zen kön­nen, unter wel­chen Bedin­gun­gen ein Mensch den Frei­tod wäh­len darf, aus wel­chen Grün­den immer. Eine Neu­re­ge­lung sei nötig, so Frau Kün­ast, »weil Ster­be­hil­fe statt­fin­det«. Nur so gebe es Rechtssicherheit.

Das ist doch sehr die Fra­ge. Die Abge­ord­ne­ten blie­ben gefan­gen in den Argu­men­ten, die schon seit Jahr­zehn­ten vor­ge­tra­gen wer­den: dass im Kern von »Exper­ten« dar­über geur­teilt wer­den soll, ob der Wil­le zum Tod von Schmerz­pa­ti­en­ten oder Depres­si­ons­kran­ken wirk­lich frei ist oder Ein­flü­ste­run­gen unter­liegt (»Ich möch­te den ande­ren nicht län­ger zur Last fal­len.«). Der Mensch sei ver­führ­bar. Und in hilf­lo­ser Ver­fas­sung leicht unter Druck zu set­zen. Für vie­le Medi­zi­ner und Anhän­ger der Kir­chen ist per se krank, wer an Sui­zid denkt und also unmo­ra­lisch oder unmün­dig, ein Fall für die Psych­ia­trie. Wei­ter hieß es, dass ohne Rege­lung die Zahl der Sui­zi­de immer wei­ter stei­gen wür­de, was schwer zu bele­gen ist und eben­so schwer zu bewer­ten. Schließ­lich auch, dass Men­schen, die den assi­stier­ten Sui­zid wol­len, über medi­zi­ni­sche Hil­fen und mög­li­che Alter­na­ti­ven mit den zuge­hö­ri­gen Kon­se­quen­zen Bescheid wis­sen soll­ten – und Ja! Das ist ein Punkt.

Aber braucht es dafür einen Para­gra­fen im Straf­ge­setz­buch? Es gab eine star­ke Prä­senz von Ärz­ten, Juri­sten und Chri­sten in der Debat­te. Der Jurist und prak­ti­zie­ren­de Katho­lik Ans­gar Heve­ling brach­te die klas­si­sche eta­ti­sti­sche Hal­tung auf den Punkt. Der »Schutz durch das Straf­recht« vor sozia­lem und öko­no­mi­schem Druck brau­che kla­re Rege­lun­gen zur »Fest­stel­lung der Selbst­be­stim­mung«. Und es dür­fe nicht zuge­las­sen wer­den, dass das Wert­voll­ste, das Leben, der Markt­lo­gik aus­ge­setzt wer­de. Das Grund­ge­setz sei »eine Ver­fas­sung des Lebens und nicht des Sterbens«.

Abge­se­hen davon, dass »eine Ver­fas­sung des Ster­bens« ein­fach ein blü­hen­der Unsinn ist, mar­kie­ren sol­che Sät­ze (und Heve­ling steht hier als Bei­spiel) den voll­zo­ge­nen Über­gang vom für­sorg­li­chen zum vor­mund­schaft­li­chen Staat. Das Grund­ge­setz stellt eine ganz ande­re Ethik an die Spit­ze: Die Wür­de des Men­schen ist unan­tast­bar. Die­se Ethik bezieht die Men­schen­wür­de und die Selbst­be­stim­mung dar­über auch auf den Tod. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat des­halb nicht nur ein Grund­recht auf selbst­be­stimm­tes Ster­ben fest­ge­stellt, son­dern auch das Recht, Drit­te dazu um Hil­fe zu bitten.

Heve­ling ist nur ein Bei­spiel dafür, wie die Debat­ten um die Ster­be­hil­fe in Deutsch­land schon immer lau­fen. Es geht angeb­lich um Ethik, der Kapi­ta­lis­mus (ein Wort, das in der Debat­te nicht fiel) möge bit­te drau­ßen blei­ben. Nai­ves Wunsch­den­ken, das schon den Para­gra­fen 217 mög­lich mach­te und völ­lig aus­blen­det, wie in einer älter wer­den­den Gesell­schaft gera­de die Unter­wer­fung von Alten­zen­tren, von Kran­ken­häu­sern und der Pfle­ge all­ge­mein unter die Herr­schaft der Markt­lo­gik die Angst vor einem wür­de­lo­sen, ein­sa­men Lebens­en­de und dadurch vor einem fremd­be­stimm­ten Tod hat wach­sen lassen.

In Deutsch­land been­den Jahr für Jahr zwi­schen 9.000 und 10.000 Men­schen ihr Leben durch Sui­zid; ins­ge­samt hat die Zahl in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten abge­nom­men. 75 Pro­zent davon sind Män­ner. Fast die Hälf­te aller Men­schen erhän­gen, stran­gu­lie­ren, ersticken sich. Acht Pro­zent stür­zen sich in die Tie­fe, sie­ben Pro­zent ver­gif­ten sich mit Medi­ka­men­ten oder Dro­gen, fünf Pro­zent mit (Auto-)Gasen. Wei­te­re sechs Pro­zent neh­men das Auto oder wer­fen sich vor einen Zug, um die 800 Men­schen pro Jahr.

Tode in Wür­de? Wohl kaum. Die mei­sten die­ser Tode sind elend und unwür­dig. Und bela­stend für das Umfeld. Es ist schwer, zuver­läs­si­ge Zah­len über die Zahl der geschei­ter­ten Sui­zi­de zu bekom­men und damit der Men­schen, die ins­ge­samt nicht mehr leben möch­ten. Exper­ten schät­zen sie deut­lich sechs­stel­lig ein. Eben­so unklar ist die Zahl der assi­stier­ten Sui­zi­de. Die drei deut­schen der genann­ten Orga­ni­sa­tio­nen, in denen man dazu Mit­glied sein muss, spre­chen von ins­ge­samt 350 Men­schen, die sie 2021 in den Tod beglei­tet haben.

Wie vie­le all die­ser Men­schen wür­den die Chan­ce auf einen wür­di­ge­ren Tod ergrei­fen, wenn sie ihnen nicht von Kir­chen, Juri­sten, Ärz­ten und Staat ver­sagt wür­den? Aktiv oder pas­siv? Wie vie­le wür­den es las­sen, wenn sie eine ergeb­nis­of­fe­ne Bera­tung über ande­re Wege aus der Not erhiel­ten? Wenn ihnen die­se Bera­tung tat­säch­lich Alter­na­ti­ven auf­zei­gen könn­te: gute Orte der Pfle­ge, betreu­te Wohn­ge­mein­schaf­ten, Fahr­dien­ste zu Gemein­schafts­ak­tio­nen, genü­gend Geld. Und wenn sie dann frei ent­schei­den könnten?

Mag sein, dass das Inter­es­se an der Debat­te vom hand­werk­li­chen Pfusch bei der Instal­la­ti­on des Gebäu­de­en­er­gie­ge­set­zes über­la­gert wur­de, aber die Fra­gen, um die es hier geht, sind wich­ti­ger. Schon jetzt liegt das Durch­schnitts­al­ter der Men­schen, die in den Frei­tod gehen, knapp unter 60 und das Phä­no­men des Alters­sui­zids gewinnt wei­ter an Bedeu­tung. Die gebur­ten­star­ken Jahr­gän­ge sind nun fast alle in der Ren­te. Sie haben wie alle das Grund­recht auf ein selbst­be­stimm­tes Leben wie auf ein selbst­be­stimm­tes Ster­ben. Der Staat kann nur Ver­stö­ße gegen die­ses Recht unter Stra­fe stel­len, aber nicht sei­ne Wahrnehmung.

Denn Grund­rech­te, die Juri­sten im Bun­des­tag mögen sich erin­nern, sind Rech­te gegen den Staat. Wir soll­ten umden­ken: Fast ein­stim­mig hat der Bun­des­tag am sel­ben Tag von der Regie­rung ein Prä­ven­ti­ons­kon­zept gegen Sui­zi­de gefor­dert. Gemeint sind wohl mehr Bera­tungs­stel­len. Was das nützt, steht auf einem ande­ren Blatt. Prä­ven­ti­on dage­gen, die den Wil­len dafür nicht ein­be­zieht, wird dem Leben nicht gerecht. Ärz­te­or­ga­ni­sa­tio­nen und -kam­mern, die ihre Mit­glie­der denun­zie­ren und ver­fol­gen, wenn sie bera­ten möch­ten, auch nicht. Und Kir­chen, die das Leben zu fei­ern glau­ben, indem sie Ster­ben nur durch Lei­den erlau­ben, erst recht nicht. Bera­tung muss offen sein, ihre Inan­spruch­nah­me frei­wil­lig. Und sie muss hoff­nungs­vol­le Mög­lich­kei­ten anbie­ten kön­nen. Wer ster­ben will, hat viel­leicht nicht mit dem Leben an sich abge­schlos­sen, son­dern erträgt nur die Umstän­de nicht mehr, unter denen er leben muss.

Dass kei­ner ihrer bei­den Gesetz­ent­wür­fe durch­kam, könn­ten die Abge­ord­ne­ten als Zei­chen wer­ten, dass sie hier gar nichts regeln müs­sen – wie­so eigent­lich, das Ver­fas­sungs­ge­richt hat die Arbeit längst getan. So gese­hen, wäre die Debat­te dann ein Erfolg gewe­sen. Und der Bun­des­tag könn­te anfan­gen, etwas genau­er über die »Markt­lo­gik« zu sin­nie­ren, um sich end­lich ernst­haft mit den unmensch­li­chen Zustän­den im Gesund­heits­we­sen, in den Alten- und Pfle­ge­hei­men zu befassen.