Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Die lesende Schulzentochter

Ja, was ist eine Schul­zen­toch­ter? So fängt für man­chen die Unlust am Lesen an: Da steht ein unge­wöhn­li­ches Wort, das man nicht kennt, des­sen Bedeu­tung man nicht weiß. Man schreckt zurück – und bringt sich damit viel­leicht auf lan­ge Zeit um ein gro­ßes Glück. Schul­ze, das war frü­her auf dem Land eine Art Orts­vor­ste­her, fast so viel wie ein Bür­ger­mei­ster. Ein hoch­ge­ehr­ter Mann, meist wohlhabend.

Die Urgroß­mutter mei­nes Groß­va­ters, Hen­ri­et­ta Sibyl­la Mar­ga­re­te Chri­stia­ne, war die Toch­ter eines Schul­zen. Sein Hof war der größ­te in der Gegend an der Ruhr; er war sehr ange­se­hen, und das nicht nur, weil er sich sonn­tags Zucker auf sei­nen Bra­ten streu­te; das war all­ge­mein bekannt, und jeder konn­te dar­an sei­nen Reich­tum able­sen. Zucker war teu­er um 1800! Aber mei­ne Ur-Ur-Urgroß­mutter hat­te eine ande­re Lei­den­schaft, sehr viel kost­spie­li­ger als der Ver­zehr von Süßem: Sie las.

Sie hei­ra­te­te auf den zweit­größ­ten Hof der Gegend und bekam vier Kin­der. Und sie las noch immer. Es hieß, sie habe ihren Haus­halt und die Arbeit auf dem Hof ver­nach­läs­sigt. Aber war das viel­leicht üble Nach­re­de, wie sie oft die­je­ni­gen trifft, die sich unge­wöhn­lich verhalten?

Denn eine lesen­de Bau­ers­frau war im Preu­ßen jener Zeit mehr als unge­wöhn­lich. Und viel­leicht hat sie wirk­lich manch­mal das Essen zu spät auf den Tisch gebracht für die Vie­len, die hung­rig ins Haus kamen – Kin­der, Mäg­de, Knech­te. Zu spät, weil das Buch, das sie gera­de las, sie zu weit fort­ge­lockt hat­te, in ein fer­nes, ande­res Dasein, aus dem an den Herd zurück­zu­keh­ren so schwer war.

Aber woher, fra­ge ich mich heu­te, ist ihr die­se sehn­süch­ti­ge Gier nach Gedruck­tem gekom­men? Wie hat sie sich über­haupt ihren Lese­stoff beschafft? Und was such­te sie in den Büchern?

Es muss etwas gewe­sen sein, das sie glück­li­cher mach­te als gutes Geschirr und vol­le Schüs­seln auf dem Tisch, als rei­che Lei­nen­wä­sche in den Tru­hen, als die Gold­mün­zen im Kasten, wenn der Ertrag einer guten Ern­te sich in Edel­me­tall ver­wan­delt hat­te. Etwas, das ihr wert­vol­ler erschien als der Ehren­platz in den Kir­chen­bän­ken – ihr Mann war Kir­chen­äl­te­ster – und köst­li­cher als Zucker im neu­en Getränk Kaf­fee oder gar auf dem Braten.

Es waren die Geschich­ten, die sie las, die ihr den Weg in eine eige­ne Welt öff­ne­ten, eine Welt, die ihr Din­ge und Lebe­we­sen zeig­te, die sie nie gese­hen, von deren Exi­stenz sie nicht ein­mal geahnt hat­te. Aber es war auch die Spra­che, die sie in den Büchern fand, eine Spra­che, die anders und schö­ner war als die Aus­drucks­wei­se der Men­schen in ihrem Alltagsleben.

Heu­te, mehr als 200 Jah­re spä­ter, in einem von Grund auf gewan­del­ten Dasein, das sich in immer rasen­de­rer Schnel­lig­keit wei­ter wan­delt – heu­te ist die­ses Etwas, das glück­lich macht, immer noch da, kost­ba­rer als jeder Besitz und köst­li­cher als alle Deli­ka­tes­sen. Noch immer fin­det es sich in den Büchern.

Es fin­det sich in Büchern, wo die Phan­ta­sie des Autors Leser und Lese­rin ent­führt in eine ande­re Wirk­lich­keit. Da wei­tet sich das Leben der Lesen­den und lässt eine unbe­grenz­te Zahl von Exi­stenz­for­men zu, wie sie kein Mensch in einem ein­zi­gen rea­len Dasein erfah­ren kann. Lesend bereist man exo­ti­sche Wel­ten, eben­so wie Gedan­ken und Her­zen von Men­schen, die unse­re Nach­barn sein könn­ten; man erlebt Begeg­nun­gen mit Urzeit­rie­sen wie auch mit Außer­ir­di­schen, mit Hexen, Zau­be­rern, Bett­lern und Beam­ten, Mil­lio­nä­ren, Künst­lern und Schwei­ne­züch­tern. Alles ist mög­lich in der Viel­falt der Geschich­ten, wie Bücher sie bergen.

Doch es sind nicht die Geschich­ten allein, die das Glück ver­mit­teln, es ist die Spra­che, die uns in das Gesche­hen hin­ein­zieht mit einer jedem Autor auf sei­ne Wei­se eige­nen Span­nung zwi­schen den Wor­ten, inner­halb der Sät­ze und von Satz zu Satz.

Viel­leicht wird man sich lesend der Ver­küm­me­rung bewusst, die unse­re Spra­che in vie­len Lebens­be­rei­chen kenn­zeich­net. Gram­ma­ti­ka­li­sche Feh­ler, Schrump­fen des Wort­schat­zes, sinn­wid­rig gebrauch­te Aus­drücke fin­den sich heu­te nicht nur in der münd­li­chen Umgangs­spra­che, son­dern eben­so in Tages­zei­tun­gen oder Hör­funk­nach­rich­ten, die als ernst­zu­neh­men­de Orga­ne von öffent­li­cher Mei­nungs­bil­dung gel­ten wollen.

Das größ­te Elend in die­ser Hin­sicht ist in der Viel­zahl von TV-Seri­en zu erle­ben, mit der die Sen­der ihre Zuschau­er über­schwem­men. Da herrscht eine ver­küm­mer­te Rest­spra­che, von deren plat­ten Flos­keln und Rede­wen­dun­gen die Fern­seh­ge­rä­te über­quel­len wie im Mär­chen das Töpf­chen mit dem süßen Brei. Die­ser auf ein Min­dest­maß an Aus­drücken redu­zier­te Sprach­brei ist nicht süß – und ist doch längst in Köp­fe und Mün­der der Zuschau­er gedrun­gen und dort hei­misch gewor­den: »Wir müs­sen reden. – Wie war dein Tag? – Schei­ße. – Echt trau­rig. – Was geht? – Lass uns reden. – Ok? – Ok.– Passt super. – Fick dich. – Wir müs­sen reden.« Längst wird die­ser Brei als All­tags­spra­che aus Mil­lio­nen Mün­dern gerülpst und lan­det im pri­va­ten wie im öffent­li­chen Raum – über­all, wie Erbro­che­nes am Stra­ßen­rand. Und das ist er auch – Kot­ze mit ein paar kaum noch kennt­li­chen Sprach­brocken drin. »Wir müs­sen reden.« Aber reden, mit­ein­an­der reden, so dass der Eine auf den Ande­ren hört, das kann man mit die­ser Sprach­kot­ze nicht mehr.

Aus­ein­an­der­set­zun­gen wer­den heu­te in einer immer mehr aus pri­mi­ti­ven Bruch­stücken bestehen­den Rest­spra­che geführt, mit der kei­ne Mög­lich­keit zu ver­ständ­li­chem Aus­druck von Gefüh­len und Gedan­ken geblie­ben, mit der kei­ne Nuan­cie­rung mehr mög­lich ist. Sol­che wach­sen­de Unfä­hig­keit zu zivi­li­sier­ter oder gar kul­ti­vier­ter Form der Dis­kus­si­on endet in Sprach­lo­sig­keit, mün­det in Schwei­gen oder Geschrei – und schließ­lich in Feind­se­lig­keit, in Hass und Gewalt.

Im gesam­ten deut­schen Sprach­raum dis­ku­tie­ren wir über Gen­dern und Nicht­gen­dern, ver­bie­ten ein­an­der Wor­te, die angeb­lich nicht mehr sag­bar sind, ohne zu mer­ken, wie uns die Spra­che im Mun­de ver­dorrt. Denn über den gro­ßen Hobel spricht nie­mand, die­sen Hobel, der unse­re Spra­che in wei­ten Berei­chen – und bei­lei­be nicht nur in Fern­seh­se­ri­en! – gera­de­zu her­un­ter­schmir­gelt auf ein fla­ches Brett ohne Schön­heit, ohne Aus­drucks­kraft, ohne die Macht, die Spra­che eigent­lich hat und haben sollte.

In Büchern ist sie oft noch zu fin­den, die­se Sprach­kraft, die den Leser in die aus­ge­fal­len­sten und merk­wür­dig­sten Geschich­ten hin­ein­zie­hen kann. Immer vor­aus­ge­setzt, Autor oder Autorin bie­dern sich nicht bei einem ver­meint­lich bei der Leser­schaft vor­herr­schen­den Geschmack an, dem nur noch das »Wir müs­sen reden«-Niveau ver­ständ­lich ist.

Wel­che Freu­de es bedeu­tet, sich auf ande­ren Sprach­ebe­nen zu bewe­gen als der von Umgangs- oder gar TV-Seri­en­spra­che, ist leicht zu ent­decken, sobald man sich auf das Buch eines ernst­haf­ten Autors ein­lässt. (Damit sind durch­aus auch Humo­ri­sten gemeint.) Sobald man die kah­le Ebe­ne ver­küm­mer­ter Flos­keln, plat­ter Rede­wen­dun­gen und abge­grif­fe­ner All­ge­mein­plät­ze ver­las­sen und sich auf die blü­hen­de Viel­falt einer Autoren­spra­che ein­ge­las­sen hat, erlebt man einen Wan­del, als errei­che man nach dem Durch­wan­dern einer ver­dorr­ten Step­pe unter sen­gen­der Son­ne eine blü­hen­de Wie­se mit einem mur­meln­den Bach am Wald­rand. Der Erfri­schung folgt die Freu­de an Blu­men und Grä­sern, klei­nen Erd­bee­ren am Weg­rand, Käfern und Schmet­ter­lin­gen, an immer mehr, was zu ent­decken ist. Näm­lich Wen­dun­gen und Aus­drücke, die manch­mal wenig gebräuch­lich sein mögen, die aber der beschrie­be­nen Situa­ti­on ange­mes­sen sind wie ein gut sit­zen­der Hand­schuh. Ein Sprach­rhyth­mus, der den Leser berührt und mit­nimmt. Und ja, auch außer­ge­wöhn­li­che Wor­te, merk­wür­di­ge Ideen, erstaun­li­che Bil­der. Alles, was einem Leser, einer Lese­rin in sei­nem, ihrem eige­nen und eben ein­zi­gen Leben nicht begeg­nen kann.

Etwa so:

»Weit drau­ßen auf dem Meer ist das Was­ser ganz blau, wie die Blü­ten­blät­ter der schön­sten Korn­blu­me, und ganz durch­sich­tig, wie das rein­ste Glas, aber es ist sehr tief, tie­fer, als eine Anker­ket­te reicht, vie­le Kirch­tür­me müss­ten über­ein­an­der­ge­setzt wer­den, um vom Grun­de bis über das Was­ser zu rei­chen. Dort unten woh­nen die Meerleute.«
(Hans Chri­sti­an Ander­sen, Die klei­ne Meer­jung­frau, 1837. Deutsch von Thy­ra Dohrenburg)
»Eng umkreist von ihren Geschwi­stern stieg Hes­pe­ra die schön­ge­schweif­te Trep­pe ihres hei­mat­li­chen Hau­ses empor.«
(Annet­te Kolb, Die Schau­kel. 1899)
»Als ich ein ande­res Mal im Gebir­ge der Kor­dil­le­ren auf eine Schar von ster­ben­den Kin­dern stieß, die der Hun­ger und die Angst aus den ver­öde­ten Dör­fern hin­aus in das wüste Pajo­nal getrie­ben hat­te, wein­te ich über das, was der Mensch ist und was er ver­säumt zu sein.«
(Jakob Was­ser­mann, Das Gold von Caxamal­ca, 1923)
»In die­ser Nacht fuhr auf sei­ner Burg zu Prag der Kai­ser des Römi­schen Rei­ches, Rudolf II., mit einem Schrei aus sei­nem Traum.«
(Leo Perutz, Nachts unter der stei­ner­nen Brücke, 1924/​1951)
»Wie Gei­ster flo­hen die Buch­sta­ben von der Kar­te, als hät­ten sie nie­mals dort gestan­den, als wären sie nie­mals durch ein paar Tin­ten­stri­che ver­bun­den gewesen.«
(Chri­stoph Poschen­rie­der, Die Welt ist im Kopf. 2010)
»Herr Wen­de­lin ver­harr­te noch immer in sei­ner Ver­beu­gung und sog den Par­fum­duft ein, der den Damen wie eine Schlep­pe nachflog.«
(Tho­mas Hür­li­mann, Däm­mer­schop­pen, 2016)
Das ist das Glück, das dem Leser eine gut erzähl­te, gut geschrie­be­ne Geschich­te vermittelt.
Wer es kennt, der will nie mehr dar­auf ver­zich­ten. Der kann und will sich sein Leben ohne die­ses Glück nicht mehr vor­stel­len. Wer es nicht kennt, soll­te es ver­su­chen, um kei­ne wun­der­ba­ren Erleb­nis­se zu ver­säu­men. Mir hat Hen­ri­et­ta Sibyl­la Mar­ga­re­te Chri­stia­ne die Sehn­sucht nach den Büchern über vie­le Gene­ra­tio­nen hin­weg ver­erbt, und ich sen­de ihr mei­nen Gruß.
 Lese­tipp: Von Doro­thea Ren­ck­hoff ist gera­de im Kul­tur­ma­schi­nen Ver­lag ihr neu­er Roman »Schat­ten­veil­chen« erschienen.