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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Poesie der Satzfetzen

Der Hilfs­buch­hal­ter Ber­nar­do Soares, gedach­ter Ver­fas­ser von Fer­nan­do Pes­s­o­as »Buch der Unru­he« ist ein eli­tä­rer Typ. Sei­ne Devi­se hät­te gut auch die des dik­ta­to­ri­schen Estado Novo des Prä­si­den­ten Antó­nio Oli­vei­ra Sala­zar sein kön­nen: »Orgul­ho­sa­men­te sós«. (Etwa: »Ein­sam und stolz«).

Zu Beginn des Ein­trags vom 10.4.1930 schreibt er: »Ich spü­re phy­si­schen Ekel vor der ordi­nä­ren Mensch­heit. (…) Und manch­mal über­kommt mich Lust, die­sen Ekel zu ver­tie­fen, so wie man ein Erbre­chen her­vor­ru­fen kann, um den Brech­reiz loszuwerden.«

Brech­reiz her­vor­ru­fen sol­len also die Bruch­stücke von Unter­hal­tun­gen, die er auf­ge­schnappt hat. »Intri­gen, üble Nach­re­de, Ange­be­rei mit dem, was man nicht zu tun gewagt hat, die Zufrie­den­heit jedes arm­se­li­gen, beklei­de­ten Tiers mit dem unbe­wuss­ten Bewusst­sein der eige­nen See­le, die unge­wa­sche­ne Sexua­li­tät, die schreck­li­che Unwis­sen­heit bezüg­lich der eige­nen Unwich­tig­keit.« Dann folgt noch eine selbst­be­stä­ti­gen­de Phra­se, und der Ein­trag ist damit beendet.

Wiki­pe­dia zitiert aus­schließ­lich bewun­dern­de Reak­tio­nen über das post­hum ent­deck­te Werk Pes­s­o­as. Her­aus­ge­ho­ben wer­den soll nur der publi­zi­stisch bekann­te­ste Autor: Den­nis Scheck. Für ihn »ist das Buch der Unru­he von so grund­stür­zen­der Weis­heit, dass man auf­jauch­zen möch­te«. Weil Pes­soa »zwi­schen poli­ti­schen, phi­lo­so­phi­schen und ästhe­ti­schen Hal­tun­gen und Stand­punk­ten« hin und her pen­de­le, hei­ße Pes­soa lesen, »sein Hirn in Ambi­gui­tä­ten trainieren«.

In dem zitier­ten Abschnitt sind die genann­ten Qua­li­tä­ten nicht zu erken­nen; es han­delt sich im Wesent­li­chen um eine Ansamm­lung mis­an­thro­pi­scher Deu­tun­gen. Hier­für ein äußer­lich bana­les Bei­spiel: »Und dann hat sie gesagt …« heißt es da, mit anschlie­ßen­der nega­ti­ver Bewer­tung: »und der Ton­fall deu­tet ihre Intri­ge an«.

Um nicht miss­ver­stan­den zu wer­den: All dies passt in Ber­nar­do Soares‘ Per­sön­lich­keits­pro­fil, das in sei­ner Ein­sei­tig­keit schon auch ein­drucks­voll wirkt. Über die Bewun­de­rung für Pes­s­o­as kon­se­quen­te Dar­stel­lung soll­te aber nicht die Mög­lich­keit ver­nach­läs­sigt wer­den, bana­le Satz­fet­zen wie den zuletzt zitier­ten anders zu deuten.

Die­se Mög­lich­keit wird zur Not­wen­dig­keit, weil die Bio­gra­fie des Dich­ters dunk­le Flecken ent­hält, die ihm auch bewusst­wur­den, nach­dem er im Jah­re 1928 eine poli­tisch so extre­me Bro­schü­re ver­öf­fent­licht hat­te, von der er anschlie­ßend behaup­te­te, dass sie »nicht vor­han­den« sei. Es han­delt sich um »O Inter­reg­no – Defe­sa e Justi­fi­ca­ção da Dita­du­ra Mili­tar em Por­tu­gal« (»Das Inter­re­gnum – Ver­tei­di­gung und Recht­fer­ti­gung der Mili­tär­dik­ta­tur in Portugal«).

Nun ist eine Rol­len­pro­sa nicht mit den Äuße­run­gen des Ver­fas­sers gleich­zu­set­zen. Aber das Datum des Ein­trags – zwei Jah­re nach Erschei­nen des »Inter­reg­no« – lässt erken­nen, dass der poli­ti­sche Fehl­tritt des Ver­fas­sers kein Zufall war.

Zutref­fend bezeich­net der Wiki­pe­dia-Arti­kel ihn als »radi­kal anti­de­mo­kra­ti­schen Den­ker«. Umso pro­ble­ma­ti­scher ist Schecks Begei­ste­rung. Ästhe­tisch mag sie begrün­det sein. Aber es emp­fiehlt sich, die Begei­ste­rung auf die­sen Bereich zu begrenzen.

Doch statt jetzt in einer ideo­lo­gie­kri­ti­schen Betrach­tung zu ver­har­ren, möch­te ich eine Alter­na­ti­ve vor­schla­gen, die die Per­spek­ti­ve des neu­gie­ri­gen, fan­ta­sie­vol­len Mit­men­schen einnimmt.

Ich kom­me auf das von mir als »banal« bezeich­ne­te Bei­spiel zurück: »Und dann hat sie gesagt …«.

Was für eine frucht­ba­re Situa­ti­on! Ich sehe die Gesich­ter der spre­chen­den und der zuhö­ren­den Per­son vor mir, ver­glei­che sie mit­ein­an­der. Sind sie mit­ein­an­der ver­traut? Was mag die Unge­nann­te gesagt haben? Wel­che Fol­gen wird das von ihr Gesag­te nach sich ziehen?

Die Unvoll­stän­dig­keit des Gesag­ten reizt die Fan­ta­sie an. Die Vor­aus­set­zung ist das Inter­es­se an den Mit­men­schen. Für die Ver­ach­tung der Reden­den oder eine Selbst­über­he­bung des Zuhö­ren­den ist da noch kein Platz. War­nung ist aber ange­bracht, wird die Hal­tung des viel bewun­der­ten Dich­ters und sei­ner Figur Ber­nar­do Soares auf den Bereich der Poli­tik übertragen.