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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der posthume Demokrat

Vor 55 Jah­ren, am 1. Juli 1968, starb Fritz Bau­er. Wie kein ande­rer Jurist in der Bun­des­re­pu­blik hat er als hes­si­scher Gene­ral­staats­an­walt nach dem Krieg die NS-Ver­bre­chen ver­folgt. Dafür wur­de er von vie­len bekämpft und geschmäht – vor allem von der CDU. Ende des letz­ten Jah­res hat Hes­sens Mini­ster­prä­si­dent Boris Rhein (CDU) ihn post­hum mit der Wil­helm-Leu­sch­ner-Medail­le geehrt. Fritz Bau­er konn­te sich dage­gen nicht mehr wehren.

Die Aus­zeich­nung ist nach Wil­helm Leu­sch­ner (1890-1944) benannt, dem frü­he­ren hes­si­schen Innen­mi­ni­ster. Er zählt zu den bekann­te­sten Per­sön­lich­kei­ten des deut­schen Wider­stan­des gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus. Schon in den 1930er-Jah­ren trug Leu­sch­ner maß­geb­lich dazu bei, den Wider­stand zu orga­ni­sie­ren. Im Anschluss an das geschei­ter­te Atten­tat auf Hit­ler am 20. Juli 1944 wur­de Leu­sch­ner zum Tode ver­ur­teilt und am 29. Sep­tem­ber 1944 in Ber­lin-Plöt­zen­see hin­ge­rich­tet. Zum sei­nem 20. Todes­tag, am 29. Sep­tem­ber 1964, ver­lieh der dama­li­ge hes­si­sche Mini­ster­prä­si­dent Georg August Zinn (SPD) erst­mals die nach Wil­helm Leu­sch­ner benann­te Medail­le. Seit­her wird Jahr für Jahr eine Per­sön­lich­keit aus­ge­zeich­net, »die sich aus dem Geist Wil­helm Leu­sch­ners her­vor­ra­gen­de Ver­dien­ste um die demo­kra­ti­sche Gesell­schaft und ihre Ein­rich­tun­gen erwor­ben hat«.

Wer einen Blick auf die lan­ge Geehr­ten-Liste wirft, fin­det ehren­wer­te Namen aus allen gesell­schaft­li­chen Berei­chen, frei­lich auch eini­ge, deren demo­kra­ti­sche Ver­dien­ste nicht unum­strit­ten sind. Bei­spiels­wei­se Roland Koch, ehe­mals CDU-Mini­ster­prä­si­dent in Hes­sen, der einst mit einer schä­bi­gen Kam­pa­gne gegen jun­ge Aus­län­der Stim­mung im Wahl­kampf mach­te, was ihm zwar wenig nutz­te, doch vie­len als popu­li­sti­sches Schur­ken­stück im Gedächt­nis blieb. Und war Koch nicht auch Vor­sit­zen­der einer christ­de­mo­kra­ti­schen Schwar­ze-Kas­sen-Par­tei, die Mil­lio­nen­zu­wen­dun­gen – die in Wirk­lich­keit aus schwar­zen Aus­lands­kon­ten der CDU stamm­ten – als »Ver­mächt­nis­se von Juden aus Euro­pa« umeti­ket­tie­ren woll­te? Als die drei­ste Legen­de im Spen­den-Sumpf ver­sank, insze­nier­te sich der CDU-Mann als »bru­talst­mög­li­cher Auf­klä­rer«. Eine demo­kra­tie-ver­ach­ten­de Pos­se. Zur Cau­sa Koch hät­te Fritz Bau­er ganz bestimmt eine Mei­nung gehabt.

Fritz Bau­er, ein Sozi­al­de­mo­krat jüdi­scher Her­kunft, gehör­te zu den weni­gen unbe­la­ste­ten Juri­sten, die in der jun­gen Bun­des­re­pu­blik eine Füh­rungs­po­si­ti­on ein­nah­men, und er hass­te nichts so sehr wie die gän­gi­gen Ver­tei­di­gungs- und Ver­harm­lo­sungs­for­meln der Nazi-Ver­gan­gen­heit. Bau­er war der per­so­ni­fi­zier­te Gegen­part der kon­ser­va­ti­ven Ade­nau­er-Juri­sten, die nur wenig Nei­gung zeig­ten, ehe­ma­li­ge NS-Täter zur Ver­ant­wor­tung zu zie­hen, zumal dort bekannt­lich eine beson­ders star­ke per­so­nel­le Kon­ti­nui­tät zur NS-Zeit gege­ben war. Die Bereit­schaft, in NS-Straf­sa­chen zu ermit­teln und zu han­deln, ging nahe­zu gegen null. Damit war Bau­er nicht ein­ver­stan­den. Er erkann­te klar­sich­tig, dass der NS-Staat kein Betriebs­un­fall der Geschich­te war und wies auf die histo­risch gewach­se­nen Struk­tu­ren und Men­ta­li­tä­ten hin, die den NS-Ver­bre­chen so sehr ent­ge­gen­ka­men und die auf­zu­bre­chen mehr erfor­dern wür­de als Gerichts­pro­zes­se. Er setz­te die Auf­he­bung der Ver­jäh­rungs­frist für NS-Mor­de durch; ohne ihn hät­te es 1963 den gro­ßen Aus­schwitz-Pro­zess nicht gegeben.

Damit han­del­te er sich nicht nur den Zorn kon­ser­va­ti­ver Krei­se ein. Bau­er wur­de gemie­den, ver­un­glimpft und bedroht. In der Nach­kriegs­ju­stiz galt er vie­len als Ket­zer. In der hes­si­schen CDU, in der Hard­li­ner wie Alfred Dreg­ger und Man­fred Kan­ther jahr­zehn­te­lang das poli­ti­sche Welt­bild vor­ga­ben, galt Bau­er bei­na­he schon als Staats­feind. Die Schmä­hun­gen stei­ger­ten sich noch, nach­dem es ihm gegen star­ke Wider­stän­de gelun­gen war, die Frank­fur­ter Ausch­witz­pro­zes­se gegen ein­sti­ge Bewa­cher des Ver­nich­tungs­la­gers tat­säch­lich auf den Weg zu bringen.

Die Pro­zes­se erfüll­ten in ihrer Durch­füh­rung und in ihren Ergeb­nis­sen ein tie­fe­res Anlie­gen Bau­ers: »Wenn etwas befoh­len wird, sei es Gesetz oder Befehl, was rechts­wid­rig ist, was also im Wider­spruch steht mit den Zehn Gebo­ten, dann musst Du ›Nein‹ sagen!«

Bau­er zwang die Deut­schen zum Hin­se­hen. Ein Volk, dass sich müh­te, das zu ver­ges­sen, was es ver­schwieg: sei­ne Bereit­schaft zur Teil­nah­me an einem System der Bar­ba­rei. Aus der Poli­tik gab es kei­ne zwin­gen­den Geset­zes­vor­ga­ben. Unter die­sem Ein­druck zeig­te vor allem die Justiz nur wenig Nei­gung, ehe­ma­li­ge NS-Täter zur Ver­ant­wor­tung zu zie­hen. Die Nicht­ver­fol­gung von NS-Ver­bre­chen: eine skan­da­lö­se, jahr­zehn­te­lan­ge Ver­wei­ge­rung von Straf­ver­fol­gung, eine kon­se­quen­te Straf­ver­ei­te­lung im Amt. Bau­er woll­te sich damit nicht abfinden.

Gebo­ren 1903 in Stutt­gart, war Bau­er einer der weni­gen Unbe­la­ste­ten im Justiz­ap­pa­rat der BRD. 1930 wird er mit 26 Jah­ren jüng­ster Amts­rich­ter Deutsch­lands. 1933 kommt er nach der Macht­über­nah­me der Nazis in Haft. 1936 flieht er nach Däne­mark, spä­ter nach Schwe­den. Mit Wil­ly Brandt grün­det er dort eine Exil-Zeit­schrift. 1949 kehrt Bau­er zurück, um ein demo­kra­ti­sches Justiz­we­sen mit­auf­zu­bau­en. Er wird Gene­ral­staats­an­walt in Nie­der­sach­sen, 1956 holt ihn Hes­sens Regie­rungs­chef August Zinn in die­ser Funk­ti­on nach Frank­furt. Hier lässt er von sei­nen Mit­ar­bei­tern über 1000 Zeu­gen ver­neh­men und berei­tet den Ausch­witz-Pro­zess gegen die SS-Wach­mann­schaf­ten vor. Als ober­ster Staats­an­walt in Hes­sen hat er das Ver­fah­ren bun­des­weit an sich gezo­gen – gegen alle Wider­stän­de. Er muss sich mit Rich­tern und Staats­an­wäl­ten aus der Nazi-Zeit her­um­schla­gen, die nach 1945 wei­ter im Staats­dienst blie­ben und oft sei­ne Arbeit sabo­tie­ren. »Wenn ich mein Büro ver­las­se, betre­te ich feind­li­ches Aus­land«, beschrieb er spä­ter ein­mal sei­ne Lage in einem Fernseh-Interview.

Dass Fritz Bau­er schon früh die Rol­le eines Außen­sei­ters hat, zeich­net sich bereits im Sep­tem­ber 1949 ab, als Bun­des­kanz­ler Ade­nau­er in sei­ner ersten Regie­rungs­er­klä­rung sagt, man soll in Deutsch­land »Ver­gan­ge­nes ver­gan­gen sein las­sen« und damit auch eine Amne­stie für NS-Täter meint. Ade­nau­ers Poli­tik hat­te den Auf­bau demo­kra­ti­scher Insti­tu­ti­on und eine Demo­kra­ti­sie­rung der Gesell­schaft durch still­schwei­gen­de Inte­gra­ti­on der ehe­ma­li­gen Anhän­ger, Mit­läu­fer und auch der Täter des Natio­nal­so­zia­lis­mus zum Ziel. Nicht nur im kon­ser­va­ti­ven Juri­sten-Milieu galt der hes­si­sche Gene­ral­staats­an­walt als Stö­ren­fried, als eine umstrit­te­ne, ja ver­hass­te Figur. Vor allem die CDU bringt sich gegen ihn in Stellung.

Im Okto­ber 1960 hält Fritz Bau­er im Rah­men einer vom Lan­des­ju­gend­ring Rhein­land-Pfalz ver­an­stal­te­ten Tagung einen Vor­trag über die »Wur­zeln faschi­sti­schen und natio­nal­so­zia­li­sti­schen Han­delns«, in dem er sich mit den sozia­len Ursa­chen des Natio­nal­so­zia­lis­mus beschäf­tigt. Bau­er geht der Fra­ge nach, wie es mög­lich gewor­den war, dass Men­schen ande­re Men­schen aus­grenz­ten, ver­folg­ten und ermor­de­ten. Ein Vor­schlag des rhein­land-pfäl­zi­schen Lan­des­ju­gend­rings, den Text Gym­na­si­en und Berufs­schu­len als Bro­schü­re zur Ver­fü­gung zu stel­len, wird vom Kul­tus­mi­ni­ste­ri­um des Bun­des­lan­des abge­lehnt. Kul­tus­mi­ni­ster Edu­ard Orth (CDU) ver­tei­digt sei­ne Ent­schei­dung mit der Begrün­dung, Bau­ers Text pro­du­zie­re »Fehl­ur­tei­le« über die deut­sche Geschich­te. Die Ableh­nung wird 1962 auch von einem jun­gen ehr­gei­zi­gen CDU-Abge­ord­ne­ten begrüßt, der moniert, der zeit­li­che Abstand vom Natio­nal­so­zia­lis­mus sei zu gering, um sich dar­über ein abschlie­ßen­des Urteil bil­den zu kön­nen. Sein Name: Hel­mut Kohl.

Im hes­si­schen Land­tag for­dern Abge­ord­ne­te der CDU im April 1963 gar Bau­ers Ablö­sung als Gene­rals­staats­an­walt, weil er im Aus­land schlecht über Deutsch­land rede. Eini­ge machen ihm sogar sei­nen Sta­tus als NS-Ver­folg­ter und Emi­grant zum Vor­wurf, weil er dadurch »befan­gen und unsach­lich« sei.

Mit­te der 1960er Jah­re trübt sich Bau­ers Stim­mung immer mehr ein. Wegen sei­ner jüdi­schen Her­kunft und sei­ner Kri­tik an den alten Nazi-Seil­schaf­ten erhält er Schmäh­brie­fe und Mord­dro­hun­gen. An zwei sei­ner Freun­de schreibt er: »Die Straf­an­zei­gen hageln, alles ist gegen mich ver­schwo­ren.« Bau­er kämpft einen müh­sa­men, ein­sa­men Kampf: Gegen das Ver­drän­gung und Ver­ges­sen, gegen Igno­ranz und Gleich­gül­tig­keit. Neben sei­nem Enga­ge­ment für die Auf­ar­bei­tung der NS-Zeit ist er einer der bedeu­tend­sten Vor­kämp­fer für Straf­rechts- und Straf­voll­zugs­re­for­men und Reso­zia­li­sie­rung. An den Gebäu­den der Land­ge­rich­te Braun­schweig und Frank­furt wird auf sein Betrei­ben als Inschrift der Anfang des Grund­ge­set­zes »Die Wür­de des Men­schen ist unan­tast­bar« angebracht.

Es dau­ert mehr als ein hal­bes Jahr­hun­dert, bis die Par­tei, die ihn einst als Geg­ner geschmäht und bekämpft hat, im Dezem­ber 2022 als demo­kra­ti­schen Auf­klä­rer wür­digt. Eine »Schlüs­sel­fi­gur der jun­gen deut­schen Demo­kra­tie« nennt CDU-Mini­ster­prä­si­dent Rhein nun Bau­er bei der Ver­lei­hung auf dem Cam­pus West­end der Frank­fur­ter Goe­the-Uni­ver­si­tät. »Ohne Fritz Bau­er wäre unse­re Geschichts­auf­ar­bei­tung nicht die, die sie heu­te ist.« Eine spä­te, eine über­fäl­li­ge Rehabilitierung.

Wir wis­sen nicht, wie Fritz Bau­er auf die­se spä­te Wür­di­gung reagiert hät­te. Viel­leicht hät­te er die Annah­me der Medail­le ver­wei­gert und statt­des­sen dem Mini­ster­prä­si­den­ten vor­ge­schla­gen, cou­ra­gier­te Men­schen der Gegen­wart aus­zu­zeich­nen, die sich in Hes­sen etwa bei der Auf­klä­rung des Skan­dals um den »NSU 2.0« ver­dient gemacht und dabei einen hohen Preis gezahlt haben. Es hät­te zu ihm gepasst.

Nun also steht sein Name auf der lan­gen Liste der Preis­trä­ger, und es gibt nicht weni­ge, die dem CDU-Chef unter­stel­len, die post­hu­me Aus­zeich­nung Bau­ers sei ein ganz und gar eigen­nüt­zi­ger Coup, sich als über­par­tei­li­cher Erneue­rer und Ver­söh­ner zu insze­nie­ren. Im Okto­ber wird in Hes­sen gewählt.

Apro­pos Preis­trä­ger: 2015 bekam die Medail­le Heinz Rie­sen­hu­ber, der unter Hel­mut Kohl Bun­des­for­schungs­mi­ni­ster war und Fritz Bau­er ein­mal per­sön­lich begeg­net ist. Die bei­den hat­ten in den 60er-Jah­ren einen gemein­sa­men TV-Auf­tritt in der HR-Talk­show »Kel­ler­club«, wo Bau­er mit Stu­die­ren­den über den Umgang mit NS-Ver­bre­chern dis­ku­tier­te. Der jun­ge Heinz Rie­sen­hu­ber, damals in der Jun­gen Uni­on, hat Bau­er ent­ge­gen­ge­hal­ten, dass doch zum Teil auch ein­fach nur bra­ve Bür­ger auf bestimm­te Posten gestellt wor­den sei­en. Das hat Fritz Bau­er sprach­los gemacht. Es war genau die recht­fer­ti­gen­de Denk­wei­se, gegen die er Zeit sei­nes Lebens gekämpft hat.

In der Nacht zum 1. Juli 1968 wur­de Fritz Bau­er tot in der Bade­wan­ne sei­ner Frank­fur­ter Woh­nung auf­ge­fun­den. Bei­gesetzt wur­de er in Göte­borg im Grab sei­ner Eltern.

 Mehr Infor­ma­ti­on: https://www.fritz-bauer-institut.de.
Lese-Tipp: Ronen Stein­ke, Fritz Bau­er oder Ausch­witz vor Gericht, Ber­lin 2013.
Film-Tipp: Der Staat gegen Fritz Bau­er, Regie Lars Krau­me, u .a. mit Burg­hart Klauß­ner, Deutsch­land 2015.