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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Fremde Feinde

Am 15. April 1920 über­fal­len Ban­di­ten in Mas­sa­chu­setts einen Lohn­trans­port, töten bei­de Wach­män­ner und flüch­ten mit der Beu­te. Schon bald kon­zen­trie­ren sich die Ermitt­lun­gen auf die bei­den ita­lie­ni­schen Ein­wan­de­rer Nico­la Sac­co und Bar­to­lo­meo Van­zet­ti. Sie sind Aus­län­der, Athe­isten – und Anar­chi­sten. Obschon die Bewei­se dürf­tig sind, wer­den die bei­den wegen Raub­mord ange­klagt und 1921 in einem umstrit­te­nen Pro­zess schul­dig gespro­chen. Nach meh­re­ren abge­wie­se­nen Revi­si­ons­an­trä­gen der Rechts­an­walt­schaft folg­te 1927 nach sie­ben Jah­ren Haft das Todes­ur­teil. In der Nacht vom 22. auf den 23. August 1927 wur­den Sac­co und Van­zet­ti im Staats­ge­fäng­nis von Charlestown auf dem elek­tri­schen Stuhl hingerichtet.

Sowohl der Schuld­spruch als auch das Urteil vom 9. April 1927 hat­ten welt­wei­te Demon­stra­tio­nen zur Fol­ge. Kri­ti­ker war­fen der US-Justiz vor, es han­de­le sich um einen poli­tisch moti­vier­ten Justiz­mord auf der Grund­la­ge frag­wür­di­ger Indi­zi­en. Ent­la­sten­de Hin­wei­se sei­en unzu­rei­chend gewür­digt oder sogar unter­drückt wor­den. Hun­dert­tau­sen­de Men­schen betei­lig­ten sich an Peti­tio­nen und ver­such­ten damit, die Aus­set­zung der Urteils­voll­streckung zu erreichen.

Am Ende ist alles ver­ge­bens: die Pro­te­ste, die Zwei­fel, der Ein­spruch, das Gna­den­ge­such. Am 22. August 1927 um 23.03 Uhr ent­schei­det der Gou­ver­neur des US-Bun­des­staats Mas­sa­chu­setts, Alvan T. Ful­ler, dass die Hin­rich­tung von Nico­la Sac­co und Bar­to­lo­meo Van­zet­ti nicht gestoppt wird. Die Exe­ku­ti­on ist für Mit­ter­nacht ange­setzt, die Hen­ker im Gefäng­nis von Charlestown schrei­ten zur Arbeit.

Sac­co und Van­zet­ti wer­den nach­ein­an­der aus ihren Todes­zel­len in Rich­tung Hin­rich­tungs­kam­mer geführt. »Lang lebe die Anar­chie«, ruft der 36 Jah­re alte Sac­co noch vom elek­tri­schen Stuhl aus. Dann legen die Gefäng­nis­wär­ter den Schal­ter um, Strom fließt durch den Kör­per von Nico­la Sac­co, um 0.19 Uhr wird er für tot erklärt.

Weni­ge Minu­ten spä­ter folgt ihm Bar­to­lo­meo Van­zet­ti in die Todes­kam­mer. Zum Auf­se­her sagt der 39-Jäh­ri­ge: »Ich möch­te Ihnen sagen, dass ich unschul­dig bin. Ich habe nie ein Ver­bre­chen began­gen, eini­ge Sün­den schon, aber kein Ver­bre­chen. Ich dan­ke Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben. Ich bin aller Ver­bre­chen unschul­dig, nicht nur die­ses, son­dern aller, wirk­lich aller. Ich bin ein unschul­di­ger Mann.« Er reicht dem Auf­se­her und zwei Wäch­tern die Hand. Dann nimmt er Platz auf dem elek­tri­schen Stuhl. »Ich möch­te nun eini­gen Men­schen ver­ge­ben für das, was sie mir antun«, sind Van­zet­tis letz­te Wor­te. Der Strom fließt ein wei­te­res Mal in die­ser Nacht durch einen mensch­li­chen Kör­per, um 0.27 Uhr des 23. August 1927 ist Van­zet­ti tot.

Schul­dig oder nicht? Bis heu­te ist die­se Fra­ge nicht end­gül­tig beant­wor­tet, aber allein die Zwei­fel und das unge­rech­te Ver­fah­ren rei­chen aus, um den Fall zu einer Legen­de zu machen.

Lese-Tipp: Hel­mut Ort­ner, Frem­de Fein­de. Ein Justiz­mord, Nomen Ver­lag, 296 S., 24,90 €.