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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Heimat-Klänge

Hei­mat, ja! Was denn sonst? Das ist doch, wonach wir uns alle seh­nen. Lasst uns Volks­lie­der sin­gen und unse­re Hym­ne schmet­tern, lasst uns um den Mai-Baum tan­zen, lasst uns Würst­chen und Sau­er­kraut, Schnit­zel und Spätz­le essen, lasst uns Bier trin­ken, lasst uns Fah­nen schwen­ken! Das eint uns, das schützt uns vor den von außen über­all anbran­den­den Gefah­ren, vor ver­derb­li­chen Ein­flüs­sen, die uns ver­wir­ren, die uns zu Frem­den im eige­nen Land machen, die unse­re »Iden­ti­tät« unter­gra­ben. Damit Schluss zu machen, steht nun end­lich ganz oben auf der poli­ti­schen Agen­da. Wur­de auch Zeit.

Eine bei­spiel­haf­te Auf­zäh­lung: Die CDU möch­te unse­rem lädier­ten Hei­mat­ge­fühl durch eine ver­stärk­te Pfle­ge des deut­schen Lied­guts neue Kraft ein­hau­chen, die NPD hat beschlos­sen, dass die Par­tei künf­tig den Namen »Die Hei­mat« trägt, die AfD, die das Land den Deut­schen zurück­ge­ben will, stürmt von einem Umfra­ge­hoch zum näch­sten, Kom­men­ta­to­ren for­dern gebets­müh­len­ar­tig, dass die deut­sche Außen­po­li­tik die »natio­na­len Inter­es­sen« (damit sind in der Regel die wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen von Pri­vat­un­ter­neh­men und Akti­en­ge­sell­schaf­ten gemeint) stär­ker in den Fokus rücken sol­le, in Ita­li­en wird von der Regie­rungs­par­tei ein Geset­zes­ent­wurf ein­ge­bracht, wonach künf­tig die Ver­wen­dung aus­län­di­scher Begrif­fe unter Stra­fe gestellt wer­den soll (sie­he Ossietzky Nr. 9/​2023), in Schwe­den sind die »Schwe­den­de­mo­kra­ten«, die aus der ras­si­sti­schen Bewe­gung »Schwe­den soll schwe­disch blei­ben« her­vor­gin­gen, seit 2022 zweit­stärk­ste Kraft im Par­la­ment, in vie­len Län­dern gibt es inzwi­schen »Hei­mat­schutz­mi­ni­ste­ri­en«, ohne dass genau ange­ge­ben wer­den könn­te, was da woge­gen oder gegen wen geschützt wer­den muss, »Ame­ri­ca first!«, der »Brexit«, der »Ras­sem­blem­ent Natio­nal« in Frank­reich – die Rei­he lie­ße sich noch eine Wei­le fort­set­zen. Hier fin­det eine welt­wei­te Re-Natio­na­li­sie­rung statt, die nicht Gutes erah­nen lässt. Die einst­mals erträum­te Welt­ge­sell­schaft ist auf dem Rück­weg in die Bar­ba­rei, in die Zer­split­te­rung loka­ler, gegen­ein­an­der kon­kur­rie­ren­der »Gemein­schaf­ten«. Wie das aus­geht, könn­ten wir wissen!

»Back tot he roots!«, heißt es aller­or­ten. (Die­se »Wur­zeln« lie­gen übri­gens, neben­bei erwähnt, eher in Äthio­pi­en als in Sach­sen, Thü­rin­gen, Bay­ern, Schles­wig-Hol­stein oder Schwe­den.) Als lie­ßen sich die kal­ten, über­all blin­ken­den Dis­plays durch ein Lager­feu­er, die undurch­schau­ba­ren und schon längst nicht mehr ver­steh­ba­ren Finanz-, Daten- und Men­schen­strö­me durch Volks­lie­der und eine patrio­ti­sche Gesin­nung ban­nen – statt durch Auf­klä­rung und poli­ti­sche Regulierung.

Was aber ist das, was da immer laut­stär­ker beschwo­ren wird, was jedoch ange­sichts wei­ter zuneh­men­der, durch Krie­ge, Armut, Hun­ger und extre­me Wet­ter­la­gen erzwun­ge­ner »Mobi­li­tät« (nach neue­stem UN-Report haben die Flücht­lings­zah­len Ende 2022 mit welt­weit 110 Mil­lio­nen einen neu­en Höchst­stand erreicht) immer anti­quier­ter anmu­tet? Wel­ches Pro­blem wird durch die Beschwö­rung des je »Eige­nen« gelöst? Und was soll das sein, das »Eige­ne«, das uns angeb­lich lan­des­weit zu einer irgend­wie homo­ge­nen Ein­heit macht, die so anders ist als die Ein­hei­ten anderswo?

Hei­mat! Natür­lich. Damit ver­bin­den wir den Ort der Kind­heit, der fami­liä­ren Gebor­gen­heit und des Ver­trau­ens, der Spra­che und der Kul­tur, der Zuge­hö­rig­keit und der Ver­wur­ze­lung. Klingt schön! Selt­sam aber ist, dass die­se Hei­mat immer erst zum Leben erwacht, wenn all die ihr zuge­schrie­be­nen Bestand­tei­le »irgend­wie« bedroht erschei­nen. Häu­fig beginnt die Hei­mat über­haupt erst aus der Fer­ne zu glän­zen, ent­steht aus zeit­li­cher und räum­li­cher Distanz, ist nur mehr »alte Hei­mat«, das Land der See­le und der Ima­gi­na­ti­on. Erweist sich Hei­mat damit am Ende nicht in Wahr­heit als eine Chi­mä­re, als die Sehn­sucht nach einer, wie es Ernst Bloch genannt hat, »Land­schaft der Kind­heit, wor­in noch nie­mand war«?

Ich hal­te die Bloch’sche Ein­schät­zung für abso­lut zutref­fend. Aller­dings klingt sie weit­aus harm­lo­ser, als sie ist. Eine auf Hei­mat grün­den­de, kol­lek­ti­ve »Iden­ti­tät« ist im Wesent­li­chen Res­sen­ti­ment, ist exklu­siv, nicht inklu­siv, sie sucht in erster Linie Abgren­zung und betreibt Aus­gren­zung – und mün­det, histo­risch gese­hen, immer in Gewalt. Gera­de in Euro­pa sowie in Afri­ka und Tei­len Asi­ens, wo in den ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­ten durch Krie­ge und will­kür­li­che Grenz­zie­hun­gen so viel Hei­mat geraubt und ver­lo­ren und der Hei­mat­be­griff durch wech­seln­de Ideo­lo­gien miss­braucht wur­de, ist die Fra­ge nach der je eige­nen Ver­or­tung immer schon prekär.

Wo gehö­re ich hin? Wo bin ich in die­ser glo­ba­li­sier­ten, immer ein­för­mi­ger wer­den­den Welt zu Hau­se? Nir­gends? Nein, über­all! Über­all dort, wo ich mich wohl­füh­le, wo mei­ne Rech­te garan­tiert sind, wo ich in mei­nem »Sosein« akzep­tiert wer­de, wo ich frei bin. Gera­de letz­te­res ist ent­schei­dend. Das wuss­te schon einer der frü­hen deut­schen Demo­kra­ten, der Phi­lo­soph und Revo­lu­tio­när Arnold Ruge: »Die Frei­heit ist nicht natio­nal«, sie ver­trägt sich nicht mit lands­mann­schaft­li­cher, loka­ler und regio­na­ler Ver­haf­tung, eben­so wenig mit patrio­ti­schem Getö­se. Unter die­sen – lei­der den übli­chen – Bedin­gun­gen wird Hei­mat zum Kampf­be­griff. Dabei kann sie sich erst jen­seits sol­cher »Ver­här­tun­gen« wirk­lich entfalten.

Nur im Erle­ben von Viel­falt und Unter­schied­lich­keit kön­nen mei­ne »Hei­matsin­ne« nach und nach wach­sen und am Ende in Gesten, Land­schaf­ten und Lebens­ge­schich­ten, in Begeg­nun­gen und mensch­li­chen Bezie­hun­gen ihr selbst gewähl­tes zuhau­se fin­den. An jedem Ort. Natür­lich kön­nen hier­bei auch feste Gemein­schaf­ten ent­ste­hen, kön­nen sich Grup­pen, Mann­schaf­ten, Par­tei­en bil­den, deren Ange­hö­ri­ge eini­ge oder vie­le (Identitäts-)Merkmale – Spra­chen, Über­zeu­gun­gen, Lei­den­schaf­ten, Vor­lie­ben, Marot­ten, Abnei­gun­gen – tei­len. Auch sol­che sozia­len (Ver-)Bindungen kön­nen »Hei­mat« sein, Zusam­men­halt stif­ten und Sicher­heit geben, bewe­gen sich aber stets auf einem schma­len Grat. Sobald die Ein­he­gung des Gemein­sa­men zur Wagen­burg wird – und wann und wo wäre das jemals nicht pas­siert? –, um sich von ande­ren Grup­pen abzu­gren­zen und zu schüt­zen, ist es zur »Feind­stel­lung« und Kampf­be­reit­schaft nicht mehr weit. Das Sozia­le schlägt in Aso­zia­les um und wird kon­fron­ta­tiv – und am Ende zum Weg in die Sartre’sche Höl­le: »Die Höl­le, das sind die anderen.«

Jede und jeder wird – auch aus pri­va­ten Erfah­run­gen – bestä­ti­gen kön­nen, dass das einer die lieb­sten Irr­we­ge von uns Men­schen ist: Neu­es, Frem­des, Ande­res ableh­nen und bekämp­fen! Dabei soll­ten wir – eben­falls auch wie­der aus pri­va­ten Erfah­run­gen – wis­sen, dass das Gegen­teil rich­tig ist: Das Neue ist nicht der Feind des Alten, so wenig wie das Frem­de der Feind des Eige­nen ist. Aber die Span­nung zwi­schen die­sen bei­den Polen prägt das gesell­schaft­li­che Leben seit jeher. Histo­risch gese­hen waren dabei immer jene Gesell­schaf­ten am erfolg­reich­sten, die auf Inte­gra­ti­on statt auf Aus­gren­zung gesetzt haben, die also bereit waren, frem­de Ein­flüs­se und neue Impul­se ver­än­dernd wirk­sam wer­den zu las­sen. Genau dar­auf käme es jetzt an. Inte­gra­ti­on ist etwas ande­res und ist mehr als Assi­mi­la­ti­on. Es geht nicht um die Anpas­sung an das je Gege­be­ne, sozia­ler und huma­ner Fort­schritt bestand und besteht immer in der Über­win­dung des Bestehen­den, nicht in des­sen Erhalt. Es geht dar­um, Mischungs­ver­hält­nis­se zu fin­den, in denen das Eine durch das Ande­re erwei­tert, berei­chert wird. Hier­bei könn­ten wir uns durch­aus die Kin­der zum Vor­bild neh­men, deren Welt­an­eig­nung genau­so funk­tio­niert. Sol­che Offen­heit, wie sie den Kin­dern noch eigen ist, brau­chen wir gegen­wär­tig mehr denn je. Denn wir sind der­zeit mit Ver­än­de­rungs­ten­den­zen kon­fron­tiert, wie sie in der Mensch­heits­ge­schich­te ihres­glei­chen suchen. Irgend­ein Rück­be­zug auf einen roman­tisch ver­bräm­ten, tra­di­tio­nel­len, rück­wärts­ge­wand­ten Hei­mat­be­griff wird uns dabei ganz sicher nicht hel­fen. Russ­land und die Ukrai­ne zei­gen gera­de, wohin das führt.