Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

In der Hohlwelt

Den Prot­ago­ni­sten des Romans »Mon­de vor der Lan­dung« von Cle­mens J. Setz hat es wirk­lich gege­ben. Man könn­te das Gen­re des Buches daher, anstatt Roman, auch als – äußerst fan­ta­sie­voll ange­rei­cher­te – »Bio­gra­fie des Peter Ben­der (1893 bis 1944)« benen­nen. Sich den Lebens­lauf die­ses selt­sa­men Men­schen vor der Roman­lek­tü­re anzu­se­hen, kann nur emp­foh­len wer­den. Da der Cle­mens J. Setz in sei­nem Werk in der Haupt­sa­che den »Hohl­welt­theo­re­ti­ker« Peter Ben­der behan­delt, könn­te man sonst ande­re Lei­stun­gen Ben­ders (1918 Vor­sit­zen­der eines Arbei­ter- und Sol­da­ten­ra­tes, Grün­dung einer Reli­gi­ons­ge­mein­schaft, Erstel­ler von Horo­sko­pen, Öko­nom, Autor eines Romans) aus den Augen ver­lie­ren. Frei­lich blieb dem Autor nur die Kon­zen­tra­ti­on auf haupt­säch­lich ein Feld der Betä­ti­gung Ben­ders, sonst wäre der Roman wohl noch viel umfäng­li­cher geworden.

Hohl­welt­theo­rie? Man fin­det auch die Bezeich­nung »Innen­welt­kos­mos« oder »Innen­welt­bild« und wei­te­re. Im Kern geht es um die Vor­stel­lung, dass die Mensch­heit nicht auf einer Kugel, son­dern in einer hoh­len Kugel lebt, die Ver­fech­ter der Theo­rie sind über­zeugt davon, dass wir Men­schen auf der Innen­sei­te einer Hohl­ku­gel mit einem Durch­mes­ser von 12.470 km exi­stie­ren. Man kann das alles nach­le­sen, auch die Namen der Begrün­der und Ver­tre­ter der Theo­rie. Einer der eif­rig­sten war gewiss Peter Ben­der, der frei­lich auch nur weni­ge Men­schen davon über­zeu­gen konn­te. In den Wis­sen­schaf­ten jeden­falls griff die Hohl­welt­theo­rie weder Raum noch wur­de sie aner­kannt; Peter Ben­der wur­de oft genug als Spin­ti­sie­rer abgetan.

Und dar­über und über so einen ein volu­mi­nö­ser, flüs­sig und sinn­lich erzähl­ter Roman? Ja – und je mehr man sich hin­ein­zie­hen lässt in die bun­te, durch­aus unter­hal­ten­de und infor­ma­ti­ve Hand­lung, desto mehr wird man begrei­fen, dass dies ein nöti­ger Roman ist, ein Text zur rech­ten Zeit. Denn Cle­mens J. Setz beherrscht die Kunst, uns mit dem Pro­pa­gan­di­sten einer offen­sicht­lich abwe­gi­gen Dok­trin und deren schein­bar weit ent­fern­ten Geschich­te ein­zu­fan­gen in unse­rer Gegen­wart, in unse­rer Hohl­welt. Also: Wie gehen wir mit Leu­ten um, denen die Pla­ket­te »Quer­den­ker« ange­hef­tet wur­de, oder die sie sich selbst ankleb­ten – wir hat­ten deren genug in den zurück­lie­gen­den Pandemie-Jahren.

Peter Ben­der, Flie­ger­leut­nant im Ersten Welt­krieg, gei­sti­ger Anfüh­rer einer klei­nen Schar, von ande­ren Hohl­welt-Pre­di­gern eher wider­wil­lig akzep­tiert – sieht sich bald zu Ker­ker­haft ver­ur­teilt, wirt­schaft­lich so gut wie rui­niert. Rich­ti­ge Treue bewei­sen ihm eigent­lich nur die sein Leben bestim­men­den Frau­en, sei­ne Ehe­frau Char­lot­te, aber auch sei­ne Gelieb­ten. Die zu haben, ent­spricht auch sei­nem Welt­bild von der »Qua­drat­ge­stalt der Geschlech­ter«: Lie­be sei nur mög­lich, wenn es in jeder Bezie­hung noch einen zwei­ten Mann oder eine zwei­te Frau gebe. Die krau­sen Über­zeu­gun­gen und Behaup­tun­gen Ben­ders, gespeist auch von Nietz­sche, Geor­ge, der Nibe­lun­gen­sa­ge und Luther (gro­ße Tei­le des Romans spie­len in Worms) wer­den vom Autor immer mit Ernst­haf­tig­keit, ja, Respekt refe­riert, die Iro­nie bleibt sanft, nie erscheint der Prot­ago­nist als Lach­num­mer. Das ist zu bewundern.

Denn übli­cher­wei­se wird doch abschät­zig mit den Wahn­ge­bil­den von Quer­den­kern und Ver­schwö­rungs­gläu­bi­gen umge­gan­gen: für lächer­lich erklä­ren, Gei­stes­schwä­che unter­stel­len, Lug und Trug »ent­lar­ven«. Mir selbst wur­de das in einer Dis­kus­si­on vor­ge­führt, die ich mit einem jun­gen und von mir als Freund geschätz­ten Infor­ma­ti­ker führ­te, nach­dem ich ihm in Kurz­fas­sung von »Mon­de vor der Lan­dung« berich­tet hat­te. Man kön­ne mes­sen und rech­nen, rief er aus, es gebe unwi­der­leg­ba­re Bewei­se, die Natur­wis­sen­schaft und die Raum­fahrt bewie­sen die­ses und jenes. Wer Ben­der glau­be, für den käme doch nur eine psych­ia­tri­sche Anstalt infra­ge. Und mir fiel ein, wie oft ich Ähn­li­ches gedacht hat­te in den letz­ten Jah­ren bei Gesprä­chen in der Ver­wandt­schaft, die plötz­lich jeden Krank­heits­aus­bruch mit der Coro­na-Imp­fung in Zusam­men­hang stellte.

Natür­lich sind Leu­te wie der Ego­zen­tri­ker Peter Ben­der anstren­gend, natür­lich waren es oft genug Wahn­wel­ten, die er ent­warf. Doch wäre es schön, wenn man hin und wie­der auch ein­mal das ganz ande­re zu den­ken sich erküh­nen wür­de. Ohne gleich in die Ecke gestellt zu werden.

Peter Ben­ders Wer­de­gang ist die Geschich­te eines Schei­terns, ja, eines Unter­ge­hens und Ver­sin­kens. In sei­nen Ideen gefan­gen, gelingt es ihm kaum, sei­ner Part­ne­rin und sei­nen Kin­dern ein »Fami­li­en­va­ter« zu sein, sei­ne Frau wird immer mehr zur »Ernäh­rerin«. Ande­re Hohl­welt­theo­re­ti­ker sind im Mar­ke­ting geschick­ter und zie­hen Pro­fit aus der Ver­brei­tung ihrer Ideen. So gehört die Schil­de­rung eines Auf­tritts des Natu­ra­li­sten Johan­nes Schlaf, der sich in sei­nem Spät­werk der Kosmo­go­nie zuwand­te, zu den lite­ra­ri­schen »Deli­ka­tes­sen« des Buches. Die Ein­be­zie­hung von Doku­men­ten ver­leiht dem Roman eine hohe Überzeugungskraft.

Eine Bio­gra­fie wie die Peter Ben­ders war einen opu­len­ten Roman wert, wenn­gleich, beson­ders gegen Ende, die geschil­der­ten Ereig­nis­se sich drän­gen und häu­fen, sodass man fast gejagt liest. Aber viel­leicht war das nötig, um zu zei­gen, wie Peter Ben­der und sei­ne jüdi­sche Frau Char­lot­te in ihr Ende gehetzt wur­den: Er starb 1944 im KZ Maut­hau­sen, Char­lot­te wur­de nach The­re­si­en­stadt depor­tiert, von dort nach Auschwitz.

Dass es 1942 einen Hohl­welt-Ver­such auf der Insel Rügen gege­ben hat, durch­ge­führt mit Infra­rot­strah­len, um die bri­ti­sche Kriegs­flot­te aus­fin­dig zu machen, gehört eben­falls zu den schwie­ri­gen Wahr­hei­ten die­ses Buches.

 Cle­mens J. Setz, Mon­de vor der Lan­dung, Roman, Suhr­kamp Ver­lag 2023, 528 S., 26 €.